9punkt - Die Debattenrundschau

Die Lehre vom besseren Menschen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.03.2021. Es ist richtig, die AfD als rechtsextrem einzustufen, schreibt Ronen Steinke in der SZ: Das eigentliche Problem ist aber, dass sie trotzdem gewählt wird. Die SPD hat jetzt auch eine identitätspolitische Debatte - ihre Chancen erhöht das nicht, fürchten die Medien. Die Presse wird von allen Seiten - Staat und Plattformen - mit Geld überhäuft. Netzpolitik zeigt, wie intransparent die Deals zwischen Zeitungen und Facebook sind. Und Perlentaucher Thierry Chervel antwortet auf Aleida Assmanns Merkur-Artikel zur Mbembe-Debatte: Gibt es einen richtigen und einen falschen Antisemitismusbegriff?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.03.2021 finden Sie hier

Europa

Nun wird die AfD also als rechtsextremer Verdachtsfall unter Überwachung gestellt. Der Schritt ist überfällig, findet Konrad Litschko in der taz, und ja, in gewisser Hinsicht hat er einen Beigeschmack, weil er so kurz vor zwei Landtagswahlen kommt: "Es wirkt wie ein Abschreckungsmanöver für Wähler:innen - und ist für die AfD eine Steilvorlage in ihrem Vorwurf, der Verfassungsschutz werde politisch instrumentalisiert. Man hätte es verhindern können, wäre die Einstufung längst erfolgt. Auch ist noch nicht ausgemacht, ob die Einstufung vor Gericht Bestand hat. Denn die rechtsextremen Äußerungen müssen der Gesamtpartei angelastet werden. Und in den östlichen Bundesländern votierte keine radikale Minderheit für die Partei, sondern mehr als 20 Prozent wählten sie."

Die Einstufung als rechtsextrem ist richtig, sagt der Soziologe Matthias Quent im Gespräch mit Litschko in der taz, aber er bezweifelt, "dass ein Geheimdienst das richtige Instrument ist, um demokratiefeindliche Bestrebungen auf Parteiebene zu benennen. Auch jetzt bleibt für die Öffentlichkeit intransparent, auf welcher Grundlage das erfolgt. Das Verfassungsschutzgutachten ist nicht öffentlich, man kann sich damit nicht kritisch auseinandersetzen und nicht über die eigentlich zentralen Aspekte, wie Rassismus, diskutieren."

Gut und richtig, nennt auch Ronen Steinke in der SZ die Entscheidung - aber bringt die Überwachung auch was, fragt er: Es mangelt "den Menschen, die der AfD ihre Wählerstimme geben, eher nicht an Aufklärung über die Ziele oder den wahren Geist dieser Partei. Die Leute fallen nicht herein (falls sie denn überhaupt jemals hereingefallen sind und nicht vielmehr auch 1933 genau das haben wollten, was sie schließlich bekamen). Die Leute geben sich ihren politischen Illusionen nicht aus einem Mangel an seriösen Informationsquellen hin. Sondern aus Lust."

Emmanuel Macron hat Familienmitglieder algerischer Unabhängigkeitskämpfer empfangen, die von französischen Soldaten zu Tode gefoltert worden waren. Ob er sich entschuldigt hat, ist nicht überliefert. FAZ-Korrespondentin Michael Wiegel berichtet, dass Macron, beraten vom Historiker Benjamin Stora, neue Akzente in der Vergangenheitsbewältigung setzen will: "Stora hat Macron Vorschläge unterbreitet, den Konflikt zu überwinden. Er plädiert für eine 'Wahrheitskommission', ein französisch-algerisches Jugendwerk nach dem Vorbild des deutsch-französischen Jugendwerks sowie die Öffnung der Militärarchive. Zudem schlägt er vor, ein öffentliches Totenbuch mit den Namen aller Verschwundenen zu erstellen. Für den Präsidenten, dem im linken Milieu ein Rechtsruck vorgehalten wird, böte sich mit diesem Programm die Gelegenheit, sich deutlich von seiner politischen Gegnerin Marine Le Pen abzuheben."

"Scheinheilig" nennt Carolina Drüten in der Welt den "Aktionsplan", mit dem Recep Tayyip Erdogan den Rechtsstaat und die Meinungsfreiheit in der Türkei jetzt angeblich stärken will. Erdogan hat die Justiz politisiert, Repressionen gegen die Opposition und Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten eingesetzt, zahlreiche Journalisten sitzen nach wie vor in Haft. Aber er hat auch "erkannt, wie schlecht es um die türkische Wirtschaft bestellt ist. (...) Das bekommen die Menschen zu spüren. Brot, Eier und Milch sind teuer geworden. Erdogan ist dringend auf ausländisches Kapital angewiesen - doch Investitionen blieben wegen der politischen Situation vermehrt aus. Im Juli hatte etwa der deutsche Autokonzern VW Pläne für ein neues Werk in der Türkei endgültig gestoppt."


Schwerpunkt SPD und Identität

Auch die SPD hat jetzt ihre identitätspolitische Debatte. Wolfgang Thierse und Gesine Schwan hatten Identitätspolitik in FAZ-Artikeln und anderen Medien kritisiert (unsere Resümees). Die Parteiführer - namentlich Saskia Esken und SPD-Vize Kevin Kühnert - haben ziemlich hektisch auf ihre Artikel reagiert und sich "'beschämt' über den Umgang mit der Community in Teilen der Partei gezeigt", wie der Tagesspiegel berichtete.

Thierses Artikel war eine Online-Diskussion der SPD mit dem Thema "Kultur schafft Demokratie" vorausgegangen, auf der auch Sandra Kegels FAZ-Glosse zur #ActOut-Initiative (Unser Resümee) kritisiert wurde, erzählt Swantje Karich in der Welt. Als kurz darauf Thierses Artikel erschien, fühlte sich die SPD-Spitze in vorauseilendem Gehorsam aufgerufen, ein Entschuldigungsschreiben an die LGBTI-Community zu schicken. Thierse wiederum antwortet nun in einem Schreiben, das der Welt vorliegt: "'Nun aber lese ich, dass die Vorsitzende (und ein stellvertretender Vorsitzender) meiner Partei meinen, sich meiner öffentlich schämen und sich von mir distanzieren zu müssen.' Thierse bittet Esken, ihm ebenso öffentlich, wie dieser Brief gemeint ist, mitzuteilen, ob sein Bleiben in der gemeinsamen Partei weiterhin wünschenswert oder eher schädlich sei. Er fordert also Saskia Esken auf, sich für oder gegen ihn zu entscheiden, den Daumen zu heben oder zu senken."

Ebenfalls in der Welt kommentiert Thomas Schmid knapp: "Man kann es nicht fassen, mit welcher Rücksichtslosigkeit Angehörige des SPD-Vorstands einen altgedienten Genossen fallen lassen, um sich im queeren Milieu lieb Kind zu machen. Das ist unanständig. Und dumm. Die SPD versuchte in der Vergangenheit meist, liberal zu sein, aber auch jene Schichten zu vertreten, die nicht an der Spitze des Wertewandels marschieren. Dieses Konzept war nicht nur erfolgreich, sondern auch richtig. Auch wenn es damals noch nicht gebräuchlich war, das Wort dafür heißt: Inklusion."

Willy Brandt hätte heute vermutlich keine Chance mehr in der SPD und auch viele WählerInnen haben zunehmend das Gefühl, die SPD schaue auf sie herab, schreibt Stephan-Andreas Casdorff im Tagesspiegel: "Der Anspruch mutet totalitär genug an: Nur wer das Richtige denkt, sei es auch bloß vermeintlich und vor allem von einer imaginären Mehrheit geteilt, darf reden." Und in der FR beklagt Klaus Staeck den Übergriff der sozialen Medien auf die Mehrheiten.

Relativ mild reagiert Alfonso Pantisano, Landesvorsitzender der SPDqueer Berlin, in der taz: Er hätte die Debatte für nicht mehr notwendig, für überwunden erachtet. Doch ich hatte mich getäuscht. Gut, dass wir nochmal darüber reden." Für FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube offenbart der Streit vor allem viel über den betrüblichen Zustand der SPD, und er zitiert den Staatsrechtler Christoph Möllers, selbst SPD Mitglied: "Hier kämpfen keine Flügel um Gestaltungseinfluss, sondern Individuen an der versiegenden Quelle relevanter Posten angesichts der nahenden Oppositionsrolle."
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Ideen

Perlentaucher Thierry Chervel antwortet auf Aleida Assmanns Merkur-Artikel zur Mbembe-Debatte. Sie wendet sich dort gegen "Meinungspolizisten", die einen falschen Antisemitismusbegriff durchsetzten wollten, um "rechte Allianzen" zu schmieden, und sucht ein "Sowohl als auch" gemeinsamen Gedenkens im postkolonialen Zeichen (unser Resümee). Chervel sieht das kritisch: "Assmann möchte sowohl die 'Singularität' des Holocaust anerkennen als auch Positionen zulassen, die sie negieren oder für sich reklamieren. Es geht in dieser Art Gedächtnistheologie gar nicht darum, was ein Ereignis ist, sondern wie sich Erzählungen von Ereignissen zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen lassen. Der Holocaust - und davon abgeleitet die politische Position zu Israel - wird zu einem Objekt der Quantenphysik. Je nachdem, von wo er angeblickt wird, ist er ein Teilchen oder eine Welle."
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Geschichte

Erst nach dem Ende der Sowjetunion wurden die Denkmäler von Felix Dserschinski, Gründer der sowjetischen Geheimpolizei, der schätzungsweise 250.000 bis eine Million Opfer zu verantworten hat, in Russland demontiert, erinnert Hubertus Knabe in der NZZ. Konservative Kräfte fordern jetzt, dass Dserschinskis Statue an seinen alten Platz zurückkehrt, Moskauer Bürger konnten darüber abstimmen, 45 Prozent der Bürger sprachen sich für die Rückkehr der Statue aus - die Abstimmung wurde daraufhin kurzfristig abgebrochen, resümiert Knabe: "Das unabhängige Internetportal Medusa vermutete, mit der Abstimmung habe die Regierung die Aufmerksamkeit liberaler Kreise weg von der Inhaftierung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny lenken wollen. Andere äußerten im Internet den Verdacht, dass es sich nur um einen Stimmungstest gehandelt habe. Möglicherweise wurde den Verantwortlichen das Thema aber auch zu heiß, weshalb sie vorzeitig zum Rückzug bliesen."
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Medien

Die Presse wird von allen Seiten mit Geld überhäuft. Darüber berichtet sie nicht ganz so intensiv. Von der Bundesregierung sind schon mal 220 Millionen Euro Subventionen zu erwarten (die Zeitungen sollen schon mal Vorschläge für die Verwendung des Geldes machen, meldete Horizont). Google und Facebook unterzeichneten in Australien Deals mit dem Murdoch-Konzern und minderen Medien für eine Art Linksteuer, die auch in Europa ersehnt wird (unsere Resümees). Google bezahlt die Zeitungen im Rahmen seines "Google News Showcase" (unsere Resümees). Facebook zieht nun nach und hat einen großen Lizenz-Deal mit deutschen Presseverlagen angekündigt, der ab Mai laufen soll, berichtet Ingo Dachwitz bei Netzpolitik. Fast alle Zeitungen von Rang und Namen sind dabei. Aber Transparenz stellen sie nicht her: "Über die Details des Deals schweigen sich sowohl Facebook als auch die teilnehmenden Verlage aus. Presseanfragen von netzpolitik.org mit Bitte um weiterführende Informationen erteilen mehrere Beteiligte eine Absage. 'Details zu den Vertragskonditionen können wir nicht mit Ihnen teilen', antwortet Facebook. Von der FAZ heißt es, dass man 'grundsätzlich keine Auskunft zu Vertragskonditionen mit Geschäftspartnern' erteile. Der Spiegel teilt mit, die Vertragsinhalte seien 'wie üblich vertraulich'." Die Süddeutsche Zeitung und die Springer-Medien machen beim Facebook- und dem entsprechenden Google-Deal übrigens nicht mit.

Interessant liest sich übrigens der Netzpolitik-Hinweis "in eigener Sache" zu dieser Marktverzerrung: "Wir von netzpolitik.org nehmen aus Gründen der Unabhängigkeit kein Geld von Facebook und machen bei Facebook News nicht mit. Im Wettbewerb mit den teilnehmenden Medien werden wir deshalb nicht nur Einnahmen, sondern wahrscheinlich auch Reichweite verpassen, denn im neuen Nachrichten-Feed werden wir nicht vorkommen. Wir sind deshalb umso mehr auf Eure Unterstützung angewiesen."

Ein weiteres wichtiges Zeichen in der sich verschiebenden Medienlandschaft, die mehr auf einen Schulterschluss zwischen Plattformen und Traditionsmedien hinausläuft, ist die Meldung (etwa hier bei golem.de), dass Google trackingbasierte Werbung einschränken will.
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