9punkt - Die Debattenrundschau

Die reine, unbefleckte Seele der Revolution

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.03.2021. Das Kulturleben soll nach und nach wieder normalisiert werden. Aber "wie bitte können Selbsttests vor dem Theater- oder Kinobesuch nachgewiesen werden", fragt der Tagesspiegel. In der NZZ wirft die Feministin Holly Lawford-Smith den GenderistInnen um Judith Butler, die das biologische Geschlecht leugnen wollen, Frauenverachtung vor. FAZ und New Statesman erzählen die Geschichte des bekannten britischen Journalisten Roy Greenslade, der jahrzehntelang engste Kontakte zur IRA unterhielt und es jetzt erst offenlegt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.03.2021 finden Sie hier

Kulturpolitik

Die Politik hat einen Stufenplan vorgelegt, der je nach Inzidenzwert schrittweise Öffnungen für Museen, Kino, Theater und Konzertsäle ermöglichen soll. Der Tagesspiegel hat ein Dossier zusammengestellt. Ebenfalls im Tagesspiegel hat sich Christiane Peitz die Details des Stufenplans mal genauer angeschaut: "Wie bitte können Selbsttests vor dem Theater- oder Kinobesuch nachgewiesen werden? Wer bezahlt die Schnelltests, wo und von wem werden sie ausgeführt? Erst zum Arzt oder Apotheker, dann ins Konzert, ist es so gemeint? Auch die Notwendigkeit bundeseinheitlicher Kinoöffnungen für bundesweite Filmstarts wurde erneut ignoriert. Vollends verwirrend dann die Mitteilung, dass die Kultur beim nächsten Corona- Gipfel am 22. März auf der Agenda steht. Kommt dann alles wieder anders?"
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Ideen

Judith Butler genießt mehr Ansehen als sie verdient, sagt die genderkritische Philosophin Holly Lawford-Smith im NZZ-Gespräch mit Vojin Saša Vukadinović. "Auch in der Politik ist die Gender-Theorie ja längst angekommen. In Ländern wie Australien, Neuseeland und Großbritannien drängen Aktivisten darauf, den Begriff 'biologisches Geschlecht' aus der Gesetzgebung zu streichen und durch diese diffuse Kategorie 'Gender' zu ersetzen, die als Identität verstanden wird. So kann jeder Mann vor dem Gesetz als Frau gelten und Frauenrechte für sich beanspruchen, nur weil er sich als Frau fühlt. Das ist schlichtweg wahnsinnig - und zeugt von erheblicher Nichtachtung von Frauen und Frauenrechten."

Jeder kann in Deutschland frei seine Meinung äußern, aber es heißt nicht, dass sie auch gehört wird, entgegnet der Historiker Norbert Frei in der SZ den Unterzeichnern der "Initiative Weltoffenheit" und des "Netzwerks Wissenschaftsfreiheit", deren "Opfererzählungen" er "mimosenhaft" und "larmoyant" findet: "Das Recht, unwidersprochen seine Meinung zu sagen, ist grundgesetzlich nicht garantiert. Und dass Machtpositionen keine Wahrheitsansprüche begründen, sollte zwei Generationen nach 'Achtundsechzig' keiner Erklärung bedürfen, zumal nicht unter Kulturverantwortlichen und Wissenschaftlerinnen."

Mit Janine Wissler hat es eine Trotzkistin bis an die Spitze der Linkspartei geschafft, eigentlich historisches Paradoxon, schreibt Richard Herzinger in seinem Blog und geht noch mal dem ganz spezifischen Reiz der trotzkistischen Sekten in der Linken nach: "Gerade seine realpolitische Ohnmacht, in die er von der Spitze eines skrupellosen und brutalen Machtapparats gestürzt war, machte ihn für viele Intellektuelle zu einer attraktiven Projektionsfigur ihrer romantischen revolutionären Sehnsüchte. Als Zielscheibe einer beispiellosen Dämonisierungs- und Verleumdungskampagne durch den übermächtigen stalinistischen Terrorapparat erschien Trotzki vielen Intellektuellen wie die reine, unbefleckte Seele der Revolution, die durch keinen Hass und keinen Verrat einer verblendeten Außenwelt zu erschüttern war."
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Geschichte

Heute ist Rosa Luxemburgs 150. Geburtstag. In Lateinamerika, wo es noch eine marxistische Linke gibt, die wirklich dran glaubt, ist sie so präsent wie nirgendwo sonst auf der Welt, schreibt Gerhard Dilger in der taz: "Der Kunstkritiker Mario Pedrosa, im Trotzkismus großgeworden und 1980 Mitglied Nummer eins von Lula da Silvas unorthodoxer Arbeiterpartei, entdeckte sie bereits nach dem Zweiten Weltkrieg für Brasilien. Im Gefolge der Studierendenbewegungen 1968 ff. wurde Rosas Werk vielfach ins Spanische übersetzt. Heute findet man in den Buchläden von Mexiko, São Paulo oder Buenos Aires unendlich mehr Luxemburg-Ausgaben als in jeder Hauptstadt Europas, Berlin eingeschlossen."

In der FR widmet Arno Widmann Rosa Luxemburg ein ausführliches Porträt: "Sie bewegte sich - wie fast alle Radikalen zwischen 1848 und 1918 - in den Gegensätzen von Reform und Revolution, von Massen und Partei, von Mittel und Ziel. Diese Begriffe, diese Realitäten waren die magnetischen Felder, die ihr Leben und Denken bestimmten. In ihnen entfaltete sie sich. Wann immer es ernst wurde, bezog sie Stellung gegen die Vorstellung, eine Elite könne die Revolution machen. Die war nur zu haben als Errungenschaft der in den Auseinandersetzungen selbstbewusst gewordenen Massen."

Außerdem: Mark Siemons berichtet in der FAZ über in China verbreitete Verschwörungstheorien über die westliche Kultur, die angeblich gefälscht oder von China abgekupfert sei - bis hin zur Behauptung, dass die ägyptischen Pyramiden erst im 19. Jahrhundert gebaut worden seien.
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Europa

Es ist Wahlkampfjahr - und SPD, Grüne und Linke machen einen Fehler nach dem anderen, schreibt Alan Posener in der Welt, der sich die jüngsten Aktionen nur mit "Freudschen Fehlleistungen" erklären kann: "Die Union hat begriffen, dass man die Wähler der AfD nicht durch Annäherung an die Rechtspartei in eigene Wähler verwandelt. Die SPD scheint das im Hinblick auf die Linkspartei nicht zu begreifen. Anders ist der Angriff der Parteiführung auf Wolfgang Thierse nicht zu verstehen. Thierse hat das Selbstverständliche ausgesprochen: Wenn die Identität die Argumente ersetzt, wenn der Opferstatus einem automatisch recht, der Nicht-Opferstatus unrecht gibt, dann zerfallen Vernunft und Zivilität. Wenn Esken nun dem früheren Vizeparteichef versichert, 'Wir distanzieren uns nicht von Dir, und wir schämen uns nicht für Dich', so ist diese herablassende Nicht-Solidarisierung fast schlimmer als ihre ursprüngliche Kritik am 'rückwärtsgewandten' Bürgerrechtler Thierse."
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Medien

Gina Thomas erzählt in der FAZ die Geschichte des bekannten britischen Journalisten Roy Greenslade, der über Jahrzehnte im Guardian eine Medienkolumne hatte. Zuvor hatte er in vielen Zeitungen jeglicher Couleur Karriere gemacht. Nun gibt er in einem Artikel für die British Journalism Review zu, jahrelang engste freundschaftliche Kontakte zur Führungsebene der IRA gepflegt zu haben. Peter Wilby fragt im New Statesman, ob ihm da nicht selbst ab und an ethische Bedenken gekommen seien: "Andrew Neil, sein Chefredakteur bei der Sunday Times und Chris Ryder, der Belfast-Korrespondent der Zeitung waren IRA-Ziele. Greenslade war stets in Gefahr bei gesellschaftlichen Anlässen unwissentlich Informationen weiterzugeben. Er war auch in Gefahr, erpresst zu werden. Diese Themen spricht er nicht an, obwohl er seit 2003 an der Universität unter anderem über journalistische Ethik lehrte. Er trat nach der Empörung über seinen Artikel von dieser Position zurück." Der Guardian, so Gina Thomas, hat übrigens bisher noch nicht mit einem Wort über die Geschichte berichtet.
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Gesellschaft

Matthias Alexander stellt in der FAZ die vom Soziologen Peter Dienel in den siebziger Jahren entwickelte Idee des "Bürgergutachtens" vor, die einige Städte im Moment umsetzen, um städtebauliche Projekte zu entwickeln und zu begleiten: "Die Idee Dienels war, einen Laien-Rat zu schaffen, der sich mit einer einzelnen Sachfrage beschäftigt. Etwa hundert Bürger im Alter von mindestens vierzehn Jahren werden mittels Zufallsgenerator aus dem Einwohnermelderegister ausgewählt, diese Gruppe stellt dem Anspruch nach einen repräsentativen Querschnitt durch die Bürgerschaft nach Geschlecht, Alter und Milieu dar. Dass der Verdienstausfall kompensiert wird, macht die Teilnahme auch für Berufstätige interessant."

In der Schweiz wird über ein Burkaverbot abgestimmt, das von der Rechten eingebracht wurde. Dennoch spaltet die Frage die politischen Lager, denn auch auf Seite der Linken plädieren einige für das Verbot. Rebecca Schönenbach wendet sich bei hpd.de etwa gegen die Organisation Amnesty International, die das Burkaverbot wegen angeblicher Islamophobie ablehnt. Denn man muss nicht Kopftuch tragen, um Muslimin zu sein, und die Mehrheit der Musliminnen tragen gar kein Kopftuch, so Schönenbach. "Zu befürchten, ein Verbot würde Frauen diskriminieren, die selbst keine Verschleierung tragen, ist widersinnig. Durch diese Behauptung wird Musliminnen ihre Identität abgesprochen. Sie werden gerade von denjenigen, die vorgeben, Musliminnen schützen zu wollen, 'zwangsverschleiert', medial mit der Vollverschleierung oder zumindest dem Kopftuch gleichgesetzt. Die ständige Assoziation von Musliminnen mit jeder Form von Verschleierung ist die eigentliche Stigmatisierung, gegen die vorgegangen werden sollte."
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Politik

Es ist richtig, dass die Parlamente in den Niederlanden und in Kanada die chinesischen Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren als "Genozid" bezeichnen, meint Lea Deuber, die China-Korrespondentin der SZ. Und auch wenn Deutschland den Begriff nicht "leichtfertig" verwenden darf, müssen wir handeln, fordert sie: "Bisher hatte China von Berlin wenig zu befürchten. Im Gegenteil, im Dezember belohnte die EU unter Führung Deutschlands Peking noch mit einem Investitionsabkommen. Dass die Bundesregierung ihr Verhalten damit rechtfertigt, Vorteile für deutsche Unternehmen herausgeschlagen zu haben, ist beschämend."

Die USA haben fast ein "reines Zweiparteiensystem", derzeit wünschen sich 62 Prozent der Bürger eine "kompetitive dritte Partei", schreibt der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller in der NZZ und fordert Reformen des Wahlrechts: "Doch wird das existierende Polit-Duopol kaum eine Systemveränderung akzeptieren, die neuen Wettbewerbern eine echte Chance gäbe. Nicht nur profitieren die beiden Parteien vom Mehrheitswahlrecht; sie kontrollieren auch, wer überhaupt zur Wahl steht - mit der Folge, dass manch prominente Kandidaten, die reichlich Spenden einsammeln konnten, einen Großteil ihrer Gelder dafür verwenden müssen, sich vor Gericht überhaupt einen Platz auf dem Wahlzettel zu erstreiten."
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