9punkt - Die Debattenrundschau

Eigenhändig zerrissene Dokumente

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.04.2021. Der Guardian zeigt in neuen Dokumenten, wie Politiker Facebook für politische Manipulation missbrauchen. Warum sollten die Russen Europa physisch erobern wollen, sie wollen doch weiter sicher in ihren Villen an der Côte d'Azur leben, konstatiert der estnische Politiker Toomas Hendrik Ilves im Gespräch mit American Purpose. Das europäische Urheberrecht wird in Deutschland verwirklicht, und zwar schnell, auch wenn immer noch nicht klar ist, wie, berichten golem.de und heise.de. hpd.de erzählt, wie Polen einen fundamentalistischen Katholiken zum Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte machen will.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.04.2021 finden Sie hier

Europa

Für die FAZ unterhält sich Artur Weigandt mit dem belarussischen Aktivisten und Punkmusiker Igor Banzer, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Auf die Fage, warum er sich mit der Schwulenbewegung solidarisiert, obwohl er selbst mit einer Frau zusammenlebt und drei Kinder hat, antwortet er: "Es ist schwierig, in einem postsowjetischen Land wie Belarus man selbst zu sein. Je östlicher man kommt, desto weniger werden andere Lebensstile akzeptiert. Ich sage homophoben Leuten, sie sollten sich um sich selbst kümmern und nicht um das Leben anderer. Leute, die Homosexuelle hassen, kompensieren etwas in ihrer eigenen Sexualität, womit sie nicht umgehen können. Viele hielten mich für einen schwulen Idioten, weil ich anders aussehe. Den Leuten hier ist wichtig, wie man aussieht, nicht wie man im Inneren ist."

Am 17. Juni wird die Stasi-Unterlagen-Behörde aufgelöst und die Akten dem Bundesarchiv übergeben. Im Rückblick würdigt Hubertus Knabe (in der NZZ) die Arbeit der Behörde, aber es gibt auch Kritik, zum Beispiel an der mangelnden Erschließung der Akten: "Von 51 Kilometern archivierten Unterlagen wurden in fast 30 Jahren nur 6 Prozent inhaltlich erschlossen. Bei den 61 Kilometern, die 1990 in den Büros herumlagen, sind es zwar 94 Prozent, doch die vermutlich wichtigsten Unterlagen - Millionen von der Stasi eigenhändig zerrissene Dokumente - verstauben immer noch in über 15 000 Säcken. Das gravierendste Manko ist freilich, dass das Netz der Stasi bis heute im Dunkeln liegt. Anders als in Tschechien haben Außenstehende keine Möglichkeit, zu überprüfen, ob eine Person für den Staatssicherheitsdienst tätig war. Vor allem in den sozialen Netzwerken gedeihen deshalb die Gerüchte, wer alles für die Stasi gearbeitet habe. Stellt man in Rechnung, dass die Behörde bisher mehr als 3 Milliarden Euro kostete, war das deutsche System nicht gerade effizient."

Die Russen wollen den Westen nicht mehr physisch erobern, sagt der ehemalige estnische Premier Toomas Hendrik Ilves im Gespräch mit Jeffrey Gedmin in der Zeitschrift American Purpose: "Es ist ein viel besserer Weg, Wahlen zu manipulieren, um die Regierungen Europas zu kontrollieren und sie dominieren zu können, ohne von der EU oder der NATO blockiert zu werden, oder sogar Länder dazu zu bringen, diese beiden Gremien zu verlassen. Aber die Russen wollen nicht einmarschieren. Sie wollen sich immer noch in Paris amüsieren. Sie wollen in der Lage sein, Ihr Geld in einem Rechtsstaat zu waschen, wo es sicher ist. Und warum wäscht man sein Geld überhaupt? Weil Eigentum im Westen respektiert wird. Sie wollen ihr Villen am Mittelmeer und ihre Wohnungen und Villen in Belgravia in London und in Miami."

Polen versucht, mit Aleksander Stepkowski einen fundamentalistischen Katholiken als Richter beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unterzubringen, berichtet Daniela Wakonigg bei hpd.de. Stepkowski gehört der Organisation "Ordo Iuris" an, die den Kampf gegen Abtreibung und die Rechte Homosexueller anführt. Vor der Organisation warnt laut Wakonigg das "Europäische Parlamentarische Forum für sexuelle und reproduktive Rechte" (EPF): "'In Polen ist Ordo Iuris eine mächtige Organisation, die das Innenleben des polnischen Staates infiltriert hat', so der Hintergrundbericht des EPF weiter. Dies erkläre, warum so viele reaktionäre Initiativen in den letzten Jahren in Polen so viel Kraft gesammelt hätten. Die Organisation suche nach Möglichkeiten, ihre ultrakonservativen Ansichten in das geltende Recht in Polen und Europa zu übertragen."
Archiv: Europa

Urheberrecht

Friedhelm Greis resümiert bei golem.de eine Expertenanhörung im Bundestag zur geplanten Umsetzung der europäischen Urheberrechtsreform - die Standpunkte liegen so weit auseinander wie eh und je: "Den Fraktionen bleibt kaum noch Zeit, die vielen Kritikpunkte und Anregungen in den Gesetzentwurf einzuarbeiten. Denn Deutschland muss die EU-Richtlinie bis Anfang Juni umgesetzt haben. Google-Vertreterin Frank forderte daher: 'Geben Sie uns etwas Zeit, die geplanten Regelungen wirkungsvoll umzusetzen und schaffen Sie eine Übergangsfrist von mindestens sechs Monaten.' Bislang ist vorgesehen, dass das Gesetz am 7. Juni 2021 in Kraft tritt."

Bei Heise berichtet Stefan Krempel detailliert über die Kritik bei der Anhörung. Zum Beispiel diese: "Das Konzept der 'mutmaßlich erlaubten Nutzungen' auf Plattformen wie Facebook und YouTube im Urheberrecht, mit dem laut der Bundesregierung als erlaubt gekennzeichnete Inhalte im geringfügigen Maß nicht schon vorsorglich durch Upload-Filter blockiert werden dürfen, könnte Anwender in die Bredouille bringen. Der Nutzer hafte dabei teils als Täter, gab Christian-Henner Hentsch von der Kölner Forschungsstelle für Medienrecht am Montag bei einer Anhörung im Bundestag zu bedenken."
Archiv: Urheberrecht

Ideen

Cancel Culture gibt es eigentlich kaum, oder wenn, ist sie ganz unbedeutend, hatte Jan-Werner Müller kürzlich in der NZZ behauptet. Dagegen kommt heute scharfer Widerspruch von dem Philosophen Dieter Schönecker, ebenfalls in der NZZ, der das "polemische Verharmlosung" nennt: "Der Vorwurf der akademischen Cancel-Culture kann kaum nur an den Haaren herangezogen sein, wenn prominente amerikanische Intellektuelle 2015 die Heterodox Academy mit mittlerweile 4000 Mitgliedern gründen, um der politischen Einseitigkeit an amerikanischen Universitäten entgegenzuwirken. Und es passt auch schlecht zu der These Müllers, die Lehrenden an den Colleges und Universitäten wollten 'immer möglichst alle Gesichtspunkte darlegen'. ... Nicht nur beträgt das Verhältnis registrierter Demokraten zu registrierten Republikanern 8,5:1, an den geisteswissenschaftlichen Departments ist das Verhältnis noch viel unausgewogener: Anthropologie 42,2:1, Englisch 26,8:1, Soziologie 27:1. Und zählen die von der Foundation for Individual Rights in Education (FIRE) in sehr großer Zahl dokumentierten Fälle akademischer Freiheitseinschränkungen nichts (siehe auch hier)?"
Archiv: Ideen

Internet

Ganz groß präsentiert der Guardian die Geschichte der gefeuerten Facebook-Programmiererin Sophie Zhang, die aufdeckte, dass Regierungschefs in dem sozialen Netz ihre Followerzahlen manipulieren. Die Silicon-Valley-Korrespondentin Julia Carrie Wong resümiert: "Zhang arbeitete seit etwa sechs Monaten für Facebook, als sie bemerkte, dass Juan Orlando Hernández, der Präsident von Honduras, eine große Zahl von gefälschten Likes für Inhalte anhäufte, die er für seine 500.000 Follower auf Facebook postete. In einem Zeitraum von sechs Wochen, von Juni bis Juli 2018, erhielten Hernández' Facebook-Posts Likes von 59.100 Nutzern, von denen mehr als 78 Prozent keine echten Personen waren." In einem zweite Artikel hält sie fest: "Mit 2,8 Milliarden Nutzern spielt Facebook eine dominante Rolle im politischen Diskurs fast aller Länder der Welt. Doch die Algorithmen und Funktionen der Plattform können manipuliert werden, um die politische Debatte zu verzerren."
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