9punkt - Die Debattenrundschau

Die Grenze existierte. Das tut sie auch jetzt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.04.2021. Unser Gesundheitssystem erstickt in Bürokratie, warnen SZ und Zeit online.  Der Kunsthistoriker Gürsoy Dogtas schreibt in der taz über Gewalt in türkischen Familien, die durch den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention noch bestärkt wird. Es gibt tatsächlich noch eine Partei, in der ein echter Nationalsozialist ein Parteiamt hat (Hermann Klenner, Mitgliedsnummer 9756141, 95 Jahre alt), und das ist die Linkspartei, hat Hubertus Knabe für die Welt herausgefunden. In Indien hat sich längst eine neue Elite gebildet, die sich nicht mehr am Westen orientiert, konstatiert der Genetiker Razib Khan in Unherd.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.04.2021 finden Sie hier

Europa

Der in Hannover aufgewachsene Kunsthistoriker Gürsoy Dogtas schreibt in einem beeindruckenden Text für die taz über Gewalt in einer türkischen Familie - seiner eigenen. Hunderte von Frauen werden in der Türkei Jahr für Jahr von ihren Männern umgebracht, aber die Türkei ist aus der Istanbul-Konvention ausgetreten (unsere Resümees). Erdogan perpetuiert also die Gewaltverhältnisse, so Dogtas: "Mein Vater ist tot - aber seine Gewalt lebt in anderen Männern weiter, die ihre Ehefrauen misshandeln oder gar töten. Der Kampf für eine gewaltfreie Umgebung geht von Frauen aus, betrifft sie aber selbstverständlich nicht allein. Auch Männer müssen die stereotypen und repressiven Rollen zurückweisen, die ihnen die türkische Regierung etwa durch den Austritt aus der Istanbul-Konvention überträgt. Wenn der türkische Präsident Erdogan als Begründung für den Austritt, den Schutz der Ehe angibt, müssen Gegenfragen gestellt werden: Was an der Ehe wird geschützt, wenn Frauen entmenschlicht und entrechtet werden?"

"Der inzwischen 95-jährige Hermann Klenner dürfte das letzte Ex-NSDAP-Mitglied in Deutschland sein, das in der Bundespolitik ein Amt bekleidet. Mitgliedsnummer: 9756141." Und in welcher Partei tut er das? Der Linken, in ihrem Ältestenrat, schreibt in der Welt Hubertus Knabe, der Linken-Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow blanke Heuchelei vorwerfend, wenn sie die AfD als faschistisch bezeichne: "Dass die Partei schon immer zwischen guten und schlechten Nazis unterschied, zeigt nicht nur der Fall Klenner. Entgegen dem von der Linkspartei gepflegten Mythos vom antifaschistischen Staat nahm die SED nach 1945 noch Tausende andere NSDAP-Mitglieder in ihre Reihen auf - bis 1953 über 96.000. Viele von ihnen gelangten in der DDR auf einflussreiche Posten, vom Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer über den Präsidenten des Obersten Gerichtes, Kurt Schumann, bis zum Rektor der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften, Herbert Kröger. Die Kommunisten gründeten für ehemalige Nationalsozialisten sogar eine eigene Partei, die NDPD, die mit dem langjährigen NSDAP-Mitglied Heinrich Homann bis 1989 den stellvertretenden Staatschef der DDR stellte. Der Fall des Mitglieds im Ältestenrat der Linken wäre nicht vollständig erzählt, wenn man unerwähnt ließe, dass Klenner der Stasi auch im Kampf gegen die inneren Feinde der DDR diente."

Die jüngste Gewalt in Nordirland hatte etwas Zwangsläufiges, schreibt Ian Dunt in seinem blog politics.co.uk. Die Protestanten begehren gegen Boris Johnsons Lüge auf, dass es keine Grenze zwischen Nordirland und dem Mutterland geben werde: "Er erzählte nordirischen Geschäftsleuten, dass sie die Zollerklärungen in die Tonne werfen könnten. Aber das war natürlich alles falsch. Die Grenze existierte. Das tut sie auch jetzt. Zollerklärungen können nicht in den Mülleimer wandern. Er hat den Deal gemacht, ohne sich die Zustimmung der Menschen zu sichern, die davon betroffen sein würden, er hat darüber gelogen, er hat so getan, als würde die Grenze nicht existieren, und jetzt ist sie real."

Der Wiederaufbau von Notre-Dame geht zügig voran, freut sich Michaela Wiegel in der FAZ, die mit der Autorin Agnès Poirier ("Notre-Dame - Die Seele Frankreichs") gesprochen hat. Einer der Gründe für  das erfreuliche Tempo ist, dass man auf Architekturexperimente letztlich verzichtet hat und die Kirche so gut wie originalgetreu wieder aufbaut. Und "die Vorschusszahlungen der Milliardäre Franois Pinault, Bernard Arnault, der Bettencourt-Stiftung, aber auch der vielen Kleinspender aus aller Welt seien ein weiterer Grund, warum es auf der Baustelle Notre-Dame zügig vorangehe. 340.000 Menschen aus 150 Ländern haben insgesamt 833 Millionen Euro gespendet."
Archiv: Europa

Ideen

In Indien hat sich längst eine neue Elite gebildet, die sich nicht mehr an westlichen Standards orientiert, schreibt der Genetiker Razib Khan in einem kleinen Essay für das Magazin Unherd. Diese neue gebildete Klasse ist es, die auf den Hindunationalismus Narendra Modis anspricht: "Sie sind oft Hindus mit einer sehr traditionalistischen Gesinnung, unberührt von Nehrus theosophischen Neigungen und kosmopolitischen Erfahrungen. So wie Salafismus und islamischer Fundamentalismus Reaktionen auf die Moderne sind, so ist der Hindu-Nationalismus weniger ein Atavismus als eine neue Bewegung, die aus einer Synthese der traditionellen indischen Religion mit der modernen Welt und ihren Anforderungen hervorgeht. So wie das einstige Dorfleben kaum mehr prägend ist, so weicht auch der an der von dieser Lebensweise bestimmte Hinduismus zurück. An seine Stelle ist etwas Muskulöseres, Universelleres und Monochromeres getreten."

Außerdem: War Kant ein Rassist? Das fragt die Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) auf ihrer Internetseite, aber die Frage ist wohl nur rhetorisch gemeint, denn schon im Ankündigungstext ist die Rede von den "rassistischen Äußerungen Kants", ärgert sich der Philosoph Michael Wolff in der NZZ und nimmt im Detail die Vorträge, die als Videos zu sehen sind, auseinander.
Archiv: Ideen

Geschichte

Im Gespräch mit Till Schmidt von libmod.de plädiert der Historiker Eckart Conze für einen differenzierten, aber nicht schönfärberischen Blick auf das Kaiserreich. Die "Schattenlinien" müssten im Bewusstsein bleiben: Wer nur "darauf verweist, dass auch in England Matrosenanzüge getragen wurden, zeichnet ein oberflächliches und unvollständiges Bild, das Ergebnisse jahrzehntelanger Forschung ignoriert. Es ist aber auch ein gefährliches Spiel: Denn damit werden Stichworte geliefert für jene Nationalisten, die das Kaiserreich in ein rosiges Licht tauchen und es als freiheitlich verfassten Nationalstaat charakterisieren, es als 'normale Nation' bezeichnen, um die Bundesrepublik in seine Tradition stellen zu können; die behaupten, das Kaiserreich werde von Kritikern im Inland wie im Ausland als autoritär und aggressiv dargestellt, um das Deutschland des 21. Jahrhunderts an einer selbstbewussten nationalen Politik zu hindern. Sie merken: Wissenschaftlicher und öffentlicher Diskurs lassen sich nicht voneinander trennen."
Archiv: Geschichte

Gesellschaft

Unser Gesundheitssystem erstickt in Bürokratie, warnt in der SZ der Internist Berndt Birkner, der auch nicht begreift, dass die Hausärzte so spät in die Corona-Impfstrategie einbezogen wurden. "Die Steigerung der täglichen Corona-Impfrate um 50 Prozent durch die Beteiligung niedergelassener Ärzte macht dieses Systemversagen nur allzu deutlich. Unser Gesundheitssystem ist veraltet. Die Digitalisierung hat dort keinen Einzug gehalten. Der ursprüngliche Ansatz, Menschen davor zu schützen, durch Krankheit in die Armut abzugleiten und gerade den bodenständigen Hausärztinnen und -ärzten ein halbwegs leistungsgerechtes Honorar zu garantieren, ist durch die überbordende Entwicklung von Gesetzen, Verordnungen, einer insgesamt schlicht obszönen Bürokratie pervertiert worden. Was keinen niedergelassenen Arzt mit etwas Erfahrung wundern wird, weil sie oder er es aus eigener Erfahrung wissen: Der ursprüngliche zeitliche Anteil zur Versorgung der Kranken durch Ärzte von 70 Prozent ist auch seriösen Erhebungen zufolge zu Lasten der Patienten auf 30 Prozent geschrumpft, dafür aber ist der Zeitanteil zur Bewältigung der Bürokratie auf umgekehrt 70 Prozent gewachsen."

Dazu passt die Meldung bei Zeit online, dass die Arztpraxen offenbar sehr viel weniger BioNTech-Dosen bekommen als vorgesehen, "'weil der Impfstoff offensichtlich vorrangig an die Impfzentren geht', sagte Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), der Neuen Osnabrücker Zeitung. 'Die Zuteilung für die Hausärzte wurde halbiert.' Zwar erhalten die Arztpraxen laut Gassen als Ausgleich mehr Dosen des AstraZeneca-Impfstoffs. 'Aber das wird so nicht aufgehen', sagte der Kassenärzte-Chef. 'Wenn die Impfzentren komplett den vergleichsweise unproblematischen Impfstoff erhalten, die Praxen aber den umstrittenen, der zumal den unter 60-Jährigen nicht gespritzt werden darf, wird die Impfkampagne massiv ins Stocken geraten. Das darf nicht passieren.'"
Archiv: Gesellschaft