9punkt - Die Debattenrundschau

Die harte Tür

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.04.2021. Die gewalttätigen Proteste in Nordirland in den letzten Tagen haben gezeigt, dass die Irland-Frage im Brexit-Deal nicht befriedigend gelöst werden konnte, notiert der Guardian. Wo bleibt in der Coronakrise die Solidarität mit den Jungen, fragt die SZ. Das Gendern hat keine Zukunft, vermutet Rainer Moritz in der FAZ - denn Sprache ging noch nie den Weg des größeren Widerstands. In der FAS attackiert die Kolumnistin Ronya Othmann die Kolumnistin Kübra Gümüsay. Substack kann charismatischen Journalisten eine Menge Geld verschaffen und steht für eine Machtverschiebung in den Kreativbranchen, glaubt Ben Smith in der New York Times.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.04.2021 finden Sie hier

Europa

Die gewalttätigen Proteste in Nordirland in den letzten Tagen haben gezeigt, dass die Irland-Frage im Brexit-Deal nicht befriiedigend gelöst werden konnte. Protestantische  Unionisten begehren gegen die faktische Grenze zwischen Nordirland und der Mutterinsel auf. Boris Johnson hat noch nicht viel zu den Vorkommnissen gesagt, notiert Jonathan Powell im Guardian: "In der EU-Kommission befürchten einige, dass Johnson zweigen will, dass das Protokoll nicht funktionieren kann, um die EU zu zwingen, eine Grenze in der Keltischen See zwischen Irland und dem Kontinent zu errichten, was die  Republik Irland letztlich aus dem Binnenmarkt herausnehmen würde. Das Problem für die Unionisten, die eine Abschaffung des Protokolls fordern, ist, dass sie eine Alternative vorschlagen müssen, und eine akzeptable Alternative wurde in den letzten sechs Jahren nicht gefunden."

Die Ukraine ist wirklich in einer Situation, in der sie nicht gewinnen kann, bedauert Florian Hassel in der SZ. Russland setzt gerade eine "gewaltige Streitmacht" für Truppenübungen in Bewegung - etliche davon an der Grenze zur Ukraine. Der Donbass wird bereits von den Russen kontrolliert. Und ein kleiner Krieg könnte der sinkenden Popularität Putins vor den Wahlen im September aufhelfen, fürchtet Hassel: "Seit Monaten nimmt die dafür notwendige propagandistische Vorbereitung an Fahrt auf. Wenn das angeblich von den Ukrainern entfachte Feuer groß ausfalle, werde man gezwungen sein, zum Schutz russischer Staatsbürger einzugreifen, heißt es. Nach dem Einmarsch russischer 'Friedenstruppen' wäre die Organisation einer 'Volksbefragung' zum Anschluss an Russland nach dem Vorbild der Krim nur noch eine Frage der Zeit. Die Ukrainer stehen alldem machtlos gegenüber."
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Gesellschaft

Der Verleger und Leiter des Literaturhauses Hamburg Rainer Moritz wendet sich in einem ganzseitigen FAZ-Essay zwar gegen Reinheitsverfechter in der Sprache, die sich bei jedem "wegen" mit Dativ die Haare raufen. Das Gendern empfindet er in der Deutschen Sprache aber als gewaltsam. Er rät zu Gelassenheit: "Wem das Sternchen missfällt, der darf sich aber ruhig zurücklehnen: Sprachökonomisch sind dessen komplexe Varianten nicht. Eine 'erfundene' Wortbildungsform, die nicht aus dem Sprechen im Alltag erwachsen ist, hat keine Zukunft. Wenn, so die Linguistin Ewa Trutkowski, die 'Vermeidung unnötiger Komplexität' eine der 'Haupttriebfedern für Sprachwandel' darstellt, darf man auf den Lauf der Zeit bauen."

In der Welt ist Boris Pofalla regelrecht sauer, über den Artikel von Georg Blume in der Zeit, der Michel Foucault als Päderasten zeichnete, der in Tunesien kleine Jungen auf Grabsteinen vögelte. Beweise dafür gebe es nicht, so Pofalla, und Foucault wurde in Tunesien immerhin "systematisch von der Polizei überwacht", die ihn auf der Stelle festgenommen hätte. "Das Sittengemälde, das uns hier gemalt wird, offenbart also vor allem eins: die Ressentiments derer, die sich männliche Homosexualität imaginieren als etwas Klandestines, Päderastisches, Gewaltvolles, etwas, bei dem es immer Opfer geben muss, Beherrschte und Herrscher, Jäger und Beute. 'Foucaults tunesische Jungen' eben - und den unersättlichen Homo. ... Es wäre komisch, wenn es nicht so bizarr wäre: Aber nun werden sich wohl viele straighte Journalistinnen und Journalisten damit befassen, welcher Mann 1968 oder 1969 hinter welchem Busch in Nordafrika welchem anderen Mann die Hose geöffnet hat, während beiden dafür das Gefängnis drohte."

Angesichts der sehr deutschen Diskussion über "Privilegien" und "Sonderrechte" für Geimpfte sieht Gerhard Matzig in der SZ die Jungen abgehängt: Sie müssten Solidarität üben bis zu ihrem eigenen, in einiger Ferne liegenden Impftermin. Dabei wissen sie, "dass die letzten Leute, die geimpft werden, auch die Menschen sein werden, die zuletzt zur Normalität zurückfinden: Wie soll man kein Verständnis haben für das Empfinden eines jungen Menschen, der sich um Teile seines Lebens betrogen sieht? Aber dennoch fragt sich, wie man drauf sein muss, um dem 83-jährigen Nachbarn, der bald ins Restaurant darf, indem er die harte Tür mit der gelben 'Impf- oder Porophylaxebescheinigung' überwindet, diese Normalität zu versagen?" Matzig setzt seine Hoffnung auf "einen unerwarteten Anfall kollektiver Weisheit abseits von Recht und Gerechtigkeit", die die so Ermahnten allerdings gar nicht so unerwartet längst ausüben.

Im zweiten Teil seiner Welt-Serie über den politischen Islam schreibt Ahmad Mansour über die Entstehung der Muslimbrüderschaft, die zuletzt mit dem ägyptischen Theologen Muhammed al-Ghazzali in den achtziger Jahren einen Paradigmenwechsel eingeleitet habe, der die Muslime im Westen als Chance begriff: "Es ging darum, die Stärke des Westens erstmals für die Angelegenheiten des Islam zu nutzen, um dann die westlichen Staaten im Sinne des Islamismus zu unterwandern." Dieser politische Islam ist also "als moderne politische Bewegung sehr jung im Vergleich zur Religion, auf die er sich beruft. Und obwohl der Islam immer - mal mehr, mal weniger - politisch war, darf man ihn nicht gleichsetzen mit dem Politischen Islam." Tatsache sei aber auch, dass diese Bewegung von vielen westlichen Regierungen unterstützt wurde: "In Deutschland beispielsweise wurde die Rückbesinnung zur nationalen und religiösen Identität sogar als Chance betrachtet, dass die Menschen irgendwann, nachdem sie ihren Gastarbeiterauftrag erfüllt hatten, in ihre Heimatländer zurückkehren würden. So musste man diese Menschen gar nicht erst integrieren."
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Ideen

Drei Antisemitismus-ForscherInnen, nämlich Julia Bernstein, Lars Rensmann und Monika Schwarz-Friesel kritisieren in der Jüdischen Allgemeinen die pompös auftretende neue Antisemitismus-Definition der "Jerusalem Declaration" der sie vorwerfen, israelbezogenen Antisemitismus als "nicht per se" antisemitisch kleinzureden und Antisemitismus als bloßen Rassismus zu behandeln: "Die konturiert rassistische Variante der NS-Zeit findet sich heute noch bei Rechtsextremisten und Neonazis, nicht jedoch im linken, muslimischen und Mitte-Antisemitismus. So erfasst diese 'Definition' nicht die Vielfalt der Ausdrucksformen von Antisemitismus im 20. und 21. Jahrhundert."

Der Soziologe Armin Pfahl-Traughber wirft Anhängern linker Identitätspolitik in der NZZ "Menschenrechtsrelativismus" vor, der sich unter anderem dadurch äußere, dass ein als diskriminiert geltendes Kollektiv nicht kritisiert werden darf. "So erklärt sich, warum die Diskriminierung von Frauen in islamischen Gesellschaften kein Thema sein soll. Wenn Feministinnen so etwas doch kritisieren, gelten sie in dieser Perspektive rasch als 'antimuslimische Rassistinnen'. Einwände im Namen universeller Menschenrechte können somit einen Rassismusverdacht auslösen."

Außerdem: Gegen Stefan Rebenich (unser Resümee) plädiert der Altphilologe Daniel Wendt in der FAZ sehr wohl dafür, dem schwarzen Altertumsforscher Padilla Peralta zu folgen und "die Altertumswissenschaften als Studienfach und Forschungsgebiet zu 'dekolonisieren', das heißt der historischen und gegenwärtigen Marginalisierung von people of color entgegenzuwirken."
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Medien

Von Kolumnistin zu Kolumnistin. Ronya Othmann attackiert in ihrer FAS-Kolumne die ehemalige taz-Kolumnistin Kübra Gümüsay, die mit ihrem Buch "Sprache und Sein" (auch nur eine Sammlung von Kolumnen, sagt Othmann), einen Riesen-Bestseller landete. Politisch habe sie sich von dubiosen Bindungen leider nicht gelöst, so Othmann: "Für ihr Aufwachsen in Milli-Görüs-nahen Kreisen kann Gümüsay nichts. Aber dafür, in welchen Netzwerken sie agiert. Wäre Gümüsay eine gefeierte Kochbuchautorin, wäre all das ein geringeres Problem. Sie ist aber eine politische Autorin, die sich Antirassismus und Feminismus auf die Fahnen schreibt. Menschen können sich ändern, schreibt sie. Natürlich können sie das. Aber eine Distanzierung von Erdogan, der AKP und der islamistischen IGMG hält sie bis heute nicht für sinnvoll." (Nur nbenbei: Othmann, die heute eine FAS-Kolumne scheibt, ist natürlich ebenfalls eine ehemalige taz-Kolumnistin.)

Der Dokumentarfilmer Bryan Fogel hat einen Film über den Mord an Jamal Khashoggi gemacht. Mit am meisten schockiert an dem Verbrechen habe ihm seine Straflosigkeit, sagt er im Interview mit Mariam Schaghaghi in der FAS: "Die Staatschefs haben das Verbrechen zwar schnell verurteilt, nachdem es zur weltweiten Schlagzeile wurde - aber was haben die Regierungen tatsächlich unternommen? Im Grunde nichts. Ich habe entsetzt begriffen, dass man mit so einem Verbrechen in unserer Zeit davonkommt - jedenfalls wenn man genug Geld und Macht hat."

Die Newsletter-Plattform Substack ermöglicht es Autoren, sehr einfach Newsletter an größere Verteiler zu versenden und sich dafür von ihren Lesern bezahlen zu lassen. Wer 10.000 Abonnenten hat, die 50 Dollar im Jahr zahlen, macht dann 500.000 Dollar im Jahr (minus der 10 Prozent, die Substack abzieht). Charismatische Journalisten wie Glenn Greenwald (unser Resümee) oder Andrew Sullivan schwimmen im Geld. Für den New-York-Times-Medienkolumnisten Ben Smith drückt sich hier eine Tendenz aus: "Diese neue Fähigkeit von Einzelpersonen, ihren Lebensunterhalt direkt durch ihr Publikum zu bestreiten, verändert nicht nur den Journalismus", so Smith. Es handle sich um eine Machtverschiebung in vielen Kreativbranchen, die "den großen Institutionen, von der New York Times bis zu den Plattenlabels große Kopfschmerzen" bereite. "Substack verkörpert diesen kulturellen Wandel, aber es reitet auf der Welle, es hat sie nicht erschaffen."

In der NZZ analysiert Markus Ziener die Rolle von Russia Today für die russische Propaganda in Deutschland. Die Aktivitäten von RT Deutschland nehmen dabei zu: "Nach Angaben von RT rangierte der deutsche Ableger in den Monaten November 2020 bis Februar 2021 unter den fünf Besten, was die Klickzahlen von Videos auf Facebook angeht. Zudem seien die Seitenzugriffe auf RT DE im Vergleich zum Vorjahr um 78 Prozent gestiegen. Vor diesem Hintergrund glaubt RT DE an wachsende Erfolge auf dem deutschen Markt - und will massiv in den Ausbau des Programms investieren. Derzeit sucht der Sender nach 200 zusätzlichen Mitarbeitern, um im Dezember mit einem deutschen TV-Kanal an den Start zu gehen. Derzeit beschäftigt RT lediglich einige Dutzend Mitarbeiter in der Online-Redaktion in Berlin."

Außerdem: In den USA haben Ibram X. Kendi und Bina Venkataraman die Gründung einer neuen aktivistischen Zeitschrift namens Emancipator, "um 'die Rassengerechtigkeit neu aufzugleisen'", berichtet Marc Neumann in der NZZ.
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