9punkt - Die Debattenrundschau

5000 blaue Luftballons

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.06.2023. In Polen protestieren die Frauen wieder gegen das restriktive Abtreibungsgesetz - während andere Frauen sich in Kinderhospizen von nicht lebensfähigen Säuglingen verabschieden müssen, die sie nicht abtreiben durften, berichtet die taz. Deutschland muss verstehen, dass die Nato die Ukraine als Mitglied braucht, sagt der ehemalige Jelzin-Berater Anders Aslund in der Welt. Die SZ gibt Entwarnung: Man sollte bei der Betrachtung der AfD-Umfragewerte die "Medienschwelle" beachten. In der FAZ kritisiert Cem Özdemir deutsche Politiker, die partout mit der Erdogan-Lobby hierzulande zusammenarbeiten wollen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.06.2023 finden Sie hier

Europa

In Polen protestieren Frauen wegen des Todes einer Frau, die an einem septischen Schock starb, weil man sie das tote Kind im Mutterleib nicht abtreiben ließ. Mindestens fünf werdende Mütter starben in letzter Zeit an septischem Schock, berichtet Gabriele Lesser in der taz und schildert die makabren Folgen des superrigiden polnischen Abtreibungsrechts: "Auf Wunsch der PiS, der katholischen Kirche Polens und radikaler Pro-Life-Organisationen strich das Gericht den Paragrafen, der einen legalen Schwangerschaftsabbruch bei einer schweren und unumkehrbaren Schädigung des Fötus erlaubte, aus dem bestehenden Gesetz. Seit Januar 2021 werden nun in Polen so viele schwerstkranke und nicht überlebensfähige Kinder geboren, dass die PiS-Regierung im ganzen Land Kinderhospize einrichten musste. Dort können die Eltern Abschied von ihren sterbenden Kindern nehmen, ohne mit glücklichen Müttern und deren gesunden Säuglingen in Kontakt zu kommen."

Ziemlich deutlich kritisiert Cem Özdemir in der FAZ deutsche Politiker und staatliche Stellen, die "mit türkischen Nationalisten und Rassisten" zusammenarbeiten und etwa wie die Stadt Köln ein Mahnmal zum Völkermord an den Armeniern zu entfernen drohen (mehr hier), um den lieben Frieden mit den Erdogan-Repräsentanten zu wahren. "Auch dürfen wir das System muslimischer Verbände, die mehr politische Interessenvertreter sind als Religionsgemeinschaften, nicht weiter mit naiver Zusammenarbeit unterstützen und legitimieren. Dialog? Ja, sicher. Kooperation? Nein, nicht unter diesen Umständen. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Ditib- und Milli-Görüş-Moscheen in Wahlkampfzentralen der türkischen Regierung verwandelt wurden, wo die Opposition keinen Platz hatte."

"Heute weiß Deutschland, dass Nord Stream 2 ein großer Fehler war. Und dass man Russland nicht trauen kann", sagt Anders Aslund, ehemaliger Wirtschaftsberater von Boris Jelzin, im Welt-Gespräch: "Aber es zieht immer noch nicht alle richtigen Schlüsse. Es sollte verstehen, dass die Nato die Ukraine als Mitglied braucht, um die Sicherheit Europas zu gewährleisten. Sagen wir, Deutschland hat jetzt zu zwei Dritteln Recht. Deutschland und Frankreich bewegen sich in die richtige Richtung, aber nicht schnell genug." Außerdem scheint Putin verängstigt, das Ausmaß seiner Paranoia sei fast pathologisch, meint Aslund, der auch einen Blick in eine Zukunft nach Putin wagt: "Russlands Bevölkerung ist laut Umfragen zu etwa einem Drittel westlich-liberal, zu einem Drittel Putin-Hardliner und einem Drittel politisch passiv. Ich halte zwei Szenarien für möglich. Das eine ist, dass Putins ganzes System zusammenbricht, weil in Russland stabile Institutionen fehlen. Das zweite Szenario ist ein Übergang zu weit verbreiteter Instabilität, denn wir würden einen längeren Kampf zwischen Gruppierungen erleben, die mit Waffengewalt an die Macht kommen wollen."

"Viele Menschen im Westen glauben immer noch, dass sie der osteuropäischen Gesellschaft mit erhobenem Zeigefinger eine Lektion in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erteilen sollten", ärgert sich in der Tagesspiegel-Serie "Letters on Democracy" heute der slowenische Schriftsteller Drago Jancar. "Es war die Aufklärung, die zusammen mit den Menschenrechten den Rahmen und die Grenzen für die sich daraus ergebende, also liberale, Demokratie von heute gesetzt hat. Sie ist kein grenzenloser Raum für beliebige gesellschaftliche Experimente, sondern besteht aus Rechtsstaatlichkeit, Laizität, Meinungsfreiheit und damit auch aus einer Reihe von Regeln, die das Zusammenleben erträglich machen. Diese Faktoren müssen auch in Zukunft beachtet werden, wenn wir nicht wieder, wie so oft in der europäischen Geschichte, in gewaltsame soziale Experimente verwickelt werden wollen, bei denen wir uns gegenseitig an die Gurgel gehen."

Karen Krüger berichtet in der FAZ über den Staatsakt für Silvio Berlusconi. Draußen drängelten sich die Fans von AC Mailand. Und im Mailänder Dom saß die Creme der italienischen Politik: "Man sah sie draußen vor der Kathedrale auf zwei Leinwänden. Auf ihnen wurde die Zeremonie mit der Predigt und den gregorianischen Chören, die sich mit den Gesängen der Ultras mischten, gezeigt, und dieses Spektakel rieselte auch live in die italienischen Wohnungen und Häuser, übertragen von gut zwanzig Fernsehkanälen - allen voran natürlich von jenen von Mediaset, dem Unternehmen von Berlusconis Clan, das irgendwann, die Messe neigte sich schon fast dem Ende zu, 5000 blaue Luftballons in den Himmel steigen ließ und dieses rührende Bild mit jenem aus dem Dom überblendete. Beeindruckend."
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Medien

Schon 2018 lag die AfD in Umfragen mal bei 17 Prozent, versucht Marlene Knobloch im Aufmacher des SZ-Feuilletons zu beruhigen: "Da juckte die Debatte kaum jemanden. Inzwischen vermelden Medien die neuesten Umfragewerte der AfD wie Temperaturrekorde. Ruft man als blitzalarmierte Demokratin bei einem Politikwissenschaftler an, der sich mit Wahlforschung beschäftigt, rät ausgerechnet der sehr freundlich zu 'punktueller Gelassenheit'. Professor Frank Brettschneider nennt Momente wie diesen eine 'Medienschwelle'. Klettert die AfD in einer Umfrage von 16 auf 17 Prozent, interessiert das niemanden, passiert das bei 17 auf 18 wie in jener Umfrage und liegt gleichauf mit der latent geschädigten SPD, dann sei eine 'Medienschwelle' erreicht."

Auf die Frage, wie sich Berlusconis Tod auf die Senderkette Pro Sieben Sat 1 auswirken werde, wusste Bert Habets, seit November Chef der Senderkette, an der die von der Berlusconi-Familie kontrollierte Holding Media For Europe (MEF) mehr als 25 Prozent der Aktien hält, keine Antwort, berichtet Thomas Fromm in der SZ. Aber so viel ist klar: "Die Senderkette baut wohl mindestens mehrere hundert Jobs ab. … Wirklich klar ist bis jetzt nur eine strategische Ausrichtung: Sowohl die Italiener wie auch der zweitgrößte Investor, die tschechische PPF-Gruppe der Milliardärin Renata Kellnerova, drängen darauf, die Sender noch mehr als bisher entlang quotenträchtiger Unterhaltungsformate auszurichten."

Weiteres: Vor allem in Regionen im Osten und Norden Deutschlands droht ein Zustellungsstopp gedruckter Zeitungen, zudem werden viele Print-Abonnenten sterben, informiert Christian Meier in der Welt und beklagt, dass die noch unter Merkel beschlossene und im aktuellen Koalitionsvertrag festgehaltene Zustellförderung einfach nicht kommen will. Der Presserat hat den Verleger der Berliner Zeitung, Holger Friedrich, wegen Informantenverrats gerügt, berichtet Michael Hanfeld in der FAZ. Friedrich hatte Julian Reichelt, der sich mit internen Springer-Material an ihn gewendet hatte, an Springer Verleger Mathias Döpfner verpfiffen (unsere Resümees).
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Ideen

"Wenige Denker stehen unter stärkerem Ideologieverdacht als der Begründer der bürgerlichen Ökonomietheorie", Adam Smith, dabei war er im Grunde ein Aufklärer, schreibt Haziran Zeller, der in der Welt die Lektüre der neu herausgegeben "Philosophischen Schriften" empfiehlt, die neben zwei erstmals auf Deutsch erschienenen Essays auch "Die Theorie der moralischen Gefühle" enthalten: "Die Deutschen sind an den kategorischen Imperativ Immanuel Kants gewöhnt, dessen Pflichtstrenge die Sinnlichkeit nicht gerade aufwertet; darum klingt die Leitidee der Gefühlsethik in ihren Ohren leicht frivol, aber tatsächlich vertritt Smith in seiner Moralphilosophie die Auffassung, dass sich das Gute als ein emotionaler Impuls gewissermaßen in unserem Körper regt. Sympathie ist der Grundbegriff seiner Ethik, verstanden als Zuneigung, aber in einem anderen als dem uns vertrauten Sinn, nämlich als die Fähigkeit, sich in eine andere Person hineinzuversetzen und ihr Tun und Leiden nachzuempfinden."

In der FR resümiert Klaus Walter die Jahrestagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft, bei der zum Thema "Jenseits der Binarität? Sexuelle Identitäten in der Herausforderung" diskutiert wurde. Von der mit dem Sigmund-Freud-Preis ausgezeichneten Historikerin Dagmar Herzog lernt er hier, dass es hunderte Goethes und Freuds gibt, ganz neben erfährt er außerdem, dass der Andrang bei den Kinder- und Jugendlichen-Praxen derzeit besonders groß ist: "Da fordern (und manchmal überfordern) Insta- und TikTok-befeuerte (Prä-)Teenager staunende Therapeut:innen mit empowernden, empowerten Performances ihr Recht auf Transition und kritisieren sie bei abschlägiger Behandlung dafür, dass sie als Cis-Personen von queeren Patient:innen profitieren."
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Gesellschaft

Adrian Lobe, Jahrgang 1988, hatte neulich in der taz auf die "Boomer" geschimpft, die in fetten Eigenheimen sitzen und die SUVs in ihrem Carport pflegen. Das will Barbara Dribbusch in ihrer heutigen Antwort nicht auf sich sitzen lassen. Denn erstens: "Euer Lebensstil mit Avocado-Toast, Tofu-Würstl, Fernreisen mit atmosfair-Beitrag und einer kassenfinanzierten Psychotherapeutin, die euch geduldig zuhört - das ist auch nicht gerade tiefstes Elend", bescheidet sie den Millenials. Und zweitens: "Anstatt auf die Alten zu schimpfen, könntet ihr doch einfach für eine Erhöhung der Erbschaftssteuer und für eine Vermögenssteuer kämpfen, für ein bisschen mehr Umverteilung! Aber da werdet ihr leise, ihr Millies. Eine höhere Erbschaftssteuer, das könnte ja einige von euch empfindlich treffen. Deshalb sieht es auch nicht so gut aus mit der Solidarität innerhalb eurer Generation. Es ist einfacher, die Alten zu bashen."
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Geschichte

In der NZZ zeichnet der Schriftsteller Klaus-Rüdiger Mai die Ereignisse um den Aufstand vom 17. Juni 1953 nach, der die SED blamierte, weil er "nicht von Bürgern ausging, sondern von der Arbeiterklasse, deren Avantgarde die SED doch sein wollte. Nach marxistischer Lehre hätte der Volksaufstand, der im Kern ein Arbeiteraufstand war, also gar nicht stattfinden dürfen. Wie sollte man das Unerklärliche erklären? Viele Intellektuelle und Künstler, die sich an den Feuern der Utopie die Hände wärmten, lehnten denn auch den Aufstand ab und schickten panegyrische Ergebenheitsadressen an Walter Ulbricht - unter ihnen Paul Dessau, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Friedrich Wolf, Erich Loest. In diesen Junitagen kam die Wahrheit zum Vorschein, wonach die Diktatur des Proletariats nur eine Diktatur über das Proletariat war."
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