9punkt - Die Debattenrundschau

Wir sind hundert Millionen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.07.2023. Immer verzweifelter klingt Bülent Mumays FAZ-Kolumne - Erdogan verschärft die Repression weiter, nur Deutschland wird profitieren. In der taz nimmt Marcel Lepper noch einmal die rechtsextremen Netzwerke in der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung unter die Lupe. In Unherd fürchtet der der Terrorismusexperte Liam Duffy eine Zunahme islamistischer Terrorakte gegen "Blasphemie". Mena-Watch notiert, dass der französische Bildungsminister vor einem Parlamentsausschuss zu Samuel Paty nicht einmal das Wort "Islamismus" aussprach. Die RBB-Krise soll durch eine ehemalige Regierungssprecherin gelöst werden - die SZ prangert die porösere Membran zwischen Journalismus und PR an.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.07.2023 finden Sie hier

Europa

Immer verzweifelter klingt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. Nach seinem knappen Wahlsieg scheint Erdogan die Repression nochmal zu verschärfen. Nur Deutschland wird davon profitieren: "In der Hoffnung auf etwas Besseres ziehen alle nach Westen. Hier sind die Zahlen aus der Zeit nach Erdogans Wahlsieg: Auf der Liste der Herkunftsländer der meisten Asylbewerber in der ersten Jahreshälfte 2023 in Europa steht die Türkei auf Platz drei. Nach den Wahlen verdoppelte sich die Zahl der Anträge auf Ausreise vor allem kompetenter Ärzte, die Deutschland ja braucht. Medizinstudenten träumen davon, nach Deutschland zu gehen. Sie lernen für die Deutschprüfung des Goethe-Instituts, um gleich nach Studienabschluss nach Deutschland aufzubrechen."
Archiv: Europa
Stichwörter: Türkei, Mumay, Bülent

Religion

Die Attacke auf Salman Rushdie im letzten Jahr steht nicht isoliert da. Der Terrorismusexperte Liam Duffy resümiert in Unherd noch einmal alle Verbrechen, die in Zusammenhang mit Khomeinis Mordaufruf  stehen, und weitere Verbrechen gegen Blasphemie wie etwa das Attentat auf Charlie Hebdo. Auch in Britannien gab es Vorfälle, etwa gegen den Film "The Lady of Heaven,", eigentlich eine fromme Schmonzette, die aber das Gesicht des Propheten zeigt: "Verglichen mit dem Modell der Gewalt, das in der Manchester Arena und im Bataclan entfesselt wurde, inspiriert die Gewalt gegen 'Gotteslästerer' eine viel breitere Anhängerschaft von Sympathisanten, Apologeten und Relativisten - genau der Sauerstoff, den der Terrorismus zum Überleben braucht. Diese Apologetik hat sich bisweilen sogar bis in die westlichen Medien ausgedehnt. Terroristen lernen, und sie werden die massive weltweite Kontroverse, die auf die Ermordung von Samuel Paty folgte, nicht übersehen haben. Kurz gesagt, Gewalt gegen Gotteslästerer gilt ihnen nicht nur als gerecht und als Pflicht, mit ihr kann man sich auch besser als Verteidiger des Islam aufspielen."

In Frankreich sprach Bildungsminister Pap Ndiaye vor einem Ausschuss, der sich mit dem Mord an Samuel Paty befasste, das Wort "Islamismus" nicht aus - er beließ es bei "Obskurantismus", notiert Stefan Frank in Mena-Watch. Er verweist auf Stéphane Simons Buch "Les derniers jours de Samuel Paty", das zeige, wie alleingelassen Paty in den Tagen vor den Mord von Kollegium und Polizei war. Simon erzähle auch, dass Paty in seiner freiwilligen Unterrichtsstunde über die Charlie-Hebdo-Karikaturen darüber sprechen wollte, dass man unterschiedliche Sichten auf Religion haben könne. Genau dies ist aber eine Provokation, sagt der Historiker Günther Jikeli in Franks Artikel: "Islamisten forderten eine 'Zensur nicht nur jeglicher Kritik des Islams', sondern überhaupt einer Diskussion über verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. 'Eine Gleichstellung des Islams mit anderen Religionen und damit eine Relativierung des Wahrheitsanspruchs des Islams lehnen sie ab.'"
Archiv: Religion

Medien

Cornelius Pollmer greift in der SZ ein Thema auf, das vielen sicher sauer aufstößt, das in den Medien aber selten vorkommt - hier also die löbliche Ausnahme: Pollmer findet es durchaus bedenklich, dass die neue RBB-Intendantin Ulrike Demmer vorher stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung war und beobachtet einen immer häufigeren Wechsel zwischen den Sphären, der der Glaubwürdigkeit des Journalismus nicht gut tut. Beispiel Christiane Hoffmann: "Hoffmann hatte als zwischenzeitlich stellvertretende Leiterin und spätere Autorin des Spiegel-Hauptstadtbüros gerade noch als irgendwie kritische Journalistin in den großen Talkshows gesessen, als sie - Karriereerfolg Nummer zwei - Anfang 2022 stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung wurde. Dies überlappte mit ihrer dritten öffentlichen Rolle als erfolgreiche Sachbuchautorin. Als solche war Hoffmann dann noch nominiert oder sogar siegreich bei diversen, vermutlich in Teilen öffentlich geförderten Buchpreisen." Und während der Journalismus kämpft, so Pollmer, wachsen die PR-Budgets in der Politik immer weiter: Allein das Bundespresseamt bringt es inzwischen auf 530 Stellen!

In einem zweiten Artikel schildert Claudia Tieschky die jetzige Stimmung im RBB und zitiert die Personalratsvorsitzende Sabine Jauer zur Intendantenwahl: "Eine Bestenauslese fand unseres Erachtens nicht statt. Es seien auch keine Referenzen der Kandidaten eingeholt worden, 'eine Überprüfung von Unterlagen und Zeugnissen fand meines Wissens nicht statt', Vorstellungsgespräche, 'die diesen Namen auch verdienen, gab es nicht', stattdessen unstrukturierte Kennenlerngespräche."

Die "Recherche" des Journalisten James Jackson über Ahmad Mansour (mehr hier) ist inzwischen vielfach entkräftet worden. Lennart Pfahler vermutet in der Welt, dass sie vor allem dazu dienen sollte, Mansour nachträglich als Gutachter im Deutsche-Welle-Skandal (unsere Resümees) zu delegitimieren. 2021 waren einige krass antisemitische Äußerungen von Journalisten des Staatssenders bekannt geworden, die Intendanz setzte Mansou zusammen mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zur Untersuchung ein. Ihr Bericht bestätigte die Vorwürfe. Jackson behauptet in einer frühen Version seines Artikels, eine Journalistin sei gerichtlich vom Vorwurf des Antisemitismus entlastet worden. "Das Problem: Diese Behauptung entspricht nicht der Realität. Das schriftliche Urteil des Arbeitsgerichts ist online einsehbar. Es zeigt: Das Gericht hat sich nie mit der Frage beschäftigt, ob Salems Posts antisemitisch waren. Stattdessen stellte es fest, dass die Deutsche Welle die Kündigungserklärungsfrist von zwei Wochen nicht eingehalten hatte. Salem war erst im Februar 2022 gekündigt worden, obwohl die Vorwürfe gegen sie dem Sender bereits seit mehreren Monaten bekannt waren. Jackson hat die Passage - offenbar auf Druck der Deutschen Welle - korrigiert."
Archiv: Medien

Politik

Sanaa Seif ist eine prominente säkulare Menschenrechtsaktivistin in Ägypten. Ihr Bruder Alaa sitzt seit 2014 fast ununterbrochen im Gefängnis. Im Gespräch mit Jannis Hagmann von der taz schildert Seif die Lage in Ägypten in düsteren Farben: "Die Wirtschaft ist im freien Fall, der öffentliche Raum abgeriegelt. Man spürt, dass etwas sehr Destabilisierendes am Werk ist. Irgendwas wird passieren, und ich habe Angst, dass es kein netter Arabischer Frühling sein wird. Das Land ist voller Wut. Aber es gibt kein Ventil, um diese Energie auf positive Weise rauszulassen." Seif warnt auch die Europäer, die aus Angst vor Flüchtlingen mit dem Regime Abdel Fattah al-Sisis kooperieren: "Wir brauchen Druck, damit sich der öffentliche Raum öffnet. Die Menschen ersticken in diesem Land, sie werden fliehen. Die Lösung darf nicht lauten, immer mehr Geld in die Grenzsicherung zu pumpen. Werft weiter mit Geld und Waffen auf uns, dann wird Ägypten explodieren. Wir sind hundert Millionen, wir sind nicht Syrien. Wenn die Syrer schon furchterregend sind, dann wartet mal auf die Ägypter."

Flankierend sollte man den Tagesspiegel-Artikel des Politologen Salam Kawakibi über die Wiederaufnahme des syrischen Präsidenten Bashar al Assad in den Kreis der Arabischen Liga lesen: "Die Reinwaschung Assads und seine Rückkehr auf die internationale Bühne wird weitere Millionen Syrer zu Flucht zwingen und die radikalen Kräfte im Land stärken. Gelöst ist damit gar nichts."
Archiv: Politik

Ideen

Im doppelseitigen Gespräch mit taz-Autor Peter Unfried sagt Slavoj Zizek wie üblich alles Mögliche, aber im Laufe des Gesprächs stellt sich heraus, dass der Philosoph seinen kommunistischen Ideen treu bleibt, damit heute aber ausgerechnet die modische Linke provoziert: "Ich zweifle, ob die traditionellen liberalen Demokratien in Zukunft funktionieren werden. Man hat alle vier Jahre Wahlen, während China bis 2050 durchplanen kann. Wir brauchen eine Idee, wie wir individuelle Freiheit schützen und dennoch größere Koalitionen hinbekommen. Deshalb bin ich auch so gegen die woke Linke. Weil sie spaltet sich in Kleingruppen, die sich gegenseitig attackieren. Statt Gemeinsames voranzubringen, sät sie ständiges Misstrauen gegenüber allem, was man sagt, und völlig ohne grundsätzliches Programm. Das ist wirklich tragisch und selbstzerstörerisch. Wir werden uns stärker in Richtung große Koalitionen orientieren müssen."

Ein recht unheimliches Licht auf die feineren, auch intellektuelleren Kreise der Bundesrepublik bis in die jüngste Gegenwart wirft die Geschichte der Münchner Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung, in der bekanntlich deutlich rechtsextreme Vorstände wie Armin Mohler und Heinrich Meier mit einem Stiftungsvermögen von 600 Millionen Euro hantieren konnten. Heute schreibt Marcel Lepper in der taz über den fehlenden Willen der Stiftung zur Aufarbeitung - er selbst sollte das als neuer Vorstand tun und wurde gefeuert (unsere Resümees). Die ungemütlichste Erkenntnis ist, dass offenbar alle den rechtsextremen Kontext kannten und sich sehr gern einladen ließen: "Hochkarätige Wissenschaftler hatte schon Mohler eingeladen. Manchen imponierte der reaktionäre Stil und das hohe Honorar. Sie schmückten mit ihren Namen auch unter Meier eine Struktur, die sich vom diskursiven Abwehrkampf gegen die angebliche 'linksliberale' Hegemonie nie losgesagt, sondern ihn allenfalls subtiler weitergeführt hatte.  Er hielt sich an die Regel, dass ein Thinktank umso einflussreicher agieren kann, je weniger er als solcher erkennbar ist."

Ein bisschen erstaunlich ist, dass Lepper nicht auf Patrick Bahners' FAZ-Artikel zur Verteidigung der Stiftung (unser Resümee) eingeht, der eine "schauerromantische Voreinstellung unserer Debatten über das Nachleben des Nationalsozialismus" diagnostiziert hatte. Etwas mehr dazu gibt es in diesem Twitter-Thread Leppers.
Archiv: Ideen