9punkt - Die Debattenrundschau

Dann begann der Abstieg

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.08.2023. Pazifismus muss man sich leisten können, sagt Herta Müller im Welt-Interview, in dem sie Merkels Entspannungspolitik kritisiert: "Putin hat sich nie versteckt". Im Perlentaucher warnt Richard Herzinger westliche Regierungen vor einem faulen Kompromiss. Die Affäre Fabian Wolff rührt deshalb so auf, "weil sie ans Herz einer zurzeit weitverbreiteten Ideologie rührt, der Identitätspolitik", meint die Welt. Und zwischen den Zeit-Redaktionen in Hamburg und Berlin scheint eine Weltreise zu liegen, glaubt der Spiegel. In der FAS erklärt der Kulturwissenschaftler Dennis Meyhoff Brink, weshalb auch Migranten Korane verbrennen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.08.2023 finden Sie hier

Europa

"Putin hat sich nie versteckt. Er hat immer das getan, was er tut. Er hat Kriege geführt, ständig, und das wusste man, alles", sagt Herta Müller im Gespräch, das Marc Reichwein (Literarische Welt) anlässlich ihres neuen Essaybandes "Eine Fliege kommt durch einen halben Wald" mit ihr geführt hat. Von Merkel ist sie deshalb enttäuscht. Und Pazifismus müsse man sich leisten können, meint sie: "Ich bin auch Pazifistin, aber nur, wenn Frieden Freiheit bedeutet. Wenn keine Freiheit herrscht, ist Frieden nur eine Friedhofsruhe. Wir hatten Frieden in Rumänien, aber wir hatten keine Freiheit. (...) Ich glaube, die demokratischen Länder müssen die Sache in jedem Fall bis zu Ende begleiten, in ihrem Sinn, mit ihren Werten. Wie das endet und durch welche Mittel, weiß ich nicht. Aber es kann nicht sein, dass wir uns zurückziehen und die Sache im Sinne von Putin auslaufen lassen."

"Ich hätte nie gedacht, dass Putin die Ukraine angreift, weil von dort ja keine militärische Bedrohung ausging", meint hingegen der Friedensforscher Andreas Hasenclever im FR-Gespräch mit Bascha Mika, in dem er auch Merkels Entspannungspolitik verteidigt. Dass Putin die Reaktion des Westens derart unterschätzt hat, wundert ihn hingegen weniger: "Eine Ursache liegt im Verhalten des Westens in den 2010er Jahren. Da passierte einiges, was die internationale liberale Ordnung ausgehöhlt hat - und zwar nicht von außen, sondern von innen. Bei der Bankenkrise, der Flüchtlingskrise und der Pandemie hat der Westen Schwäche gezeigt. Beim Brexit ebenso. Hinzu kam Trump und sein Isolationismus. Der Westen schien überhaupt nicht mehr gewillt, für seine liberale Ordnung einzustehen. Das wurde im Kreml wohl so gelesen, dass Russland mit einer militärischen Aggression davonkommen würde. Der Westen hat nicht deutlich genug kommuniziert, dass es rote Linien gibt, die auch ernst genommen werden."

Westliche Regierungen beteuern, sie würden die Ukraine so lange wie erforderlich militärisch unterstützen, und doch droht die Stimmung in Richtung eines faulen "Kompromisses" mit dem Aggressor Russland zu kippen, schreibt Richard Herzinger im Perlentaucher: So war "auf führenden deutschen Medienportalen kürzlich zu lesen, westliche Regierungen zeigten sich zunehmend 'enttäuscht' von den Fortschritten der ukrainischen Armee. Diese Formulierung wie die dahinter steckende Haltung grenzen an Zynismus. Trägt doch der Westen - und namentlich Deutschland - an den Schwierigkeiten, mit denen sich die Ukraine auf dem Kriegsschauplatz konfrontiert sieht, eine erhebliche Mitschuld. Weil für die ukrainischen Gegenoffensive erforderliche Waffen und Munition überhaupt nicht oder nur mit großer Verzögerung und in zu geringem Umfang geliefert wurden, gewann der Aggressor Zeit, sich darauf einzustellen - was die militärischen Erfolge der Ukraine nun erheblich erschwert. Dies wiederum gibt, in der Art einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, jenen Kräften im Westen weiter Auftrieb, die auf baldige 'Verhandlungen' mit Moskau dringen."

Cornelia Zetzsche, bis vergangenes Jahr noch Präsidenten des deutschen PEN-Zentrums, erzählt in "Bilder und Zeiten" der FAZ von den Fällen bei denen es durch gemeinsame Anstrengungen vieler Akteure geglückt ist, von Verfolgung bedrohten Schriftstellern zu einem sicheren Asyl zu verhelfen. Für Menschen ohne diese solidarische Unterstützung sieht dies völlig anders aus, entsprechend übel wird ihr, wenn Politiker das Asylrecht für den Wahlkampf ausschlachten: Das Asylrecht ist "eine Errungenschaft unserer Gesellschaft und ihrer Verfassung, auf die wir stolz sein könnten. Anstatt dieses Grundrecht abzuschaffen, weil Politiker und Akteurinnen in der Praxis scheitern, brauchen wir eine andere Praxis: die klare Trennung von Migrationspolitik, humanitärer Hilfe und politischem Asyl. Ein hartes Vorgehen gegen Schlepper, nicht gegen ihre Opfer. Mehr Entschiedenheit der EU gegen die Blockadehaltung einzelner Mitgliedsländer, die jede Aufnahme boykottieren. Und vor allem: die Bekämpfung der Fluchtursachen. ... Flüchtlings- und Menschenrechtskonventionen sind für Krisen geschaffen, und nicht dazu, sie in Krisen abzuschaffen. So wie sich Europa jetzt vor Flüchtlingen schützt, zerstört es seinen Wesenskern und das humanistische Europa, das es verteidigt."

Im FAS-Gespräch mit Novina Göhlsdorf verurteilt auch der Kulturwissenschaftler Dennis Meyhoff Brink Koran-Verbrennungen in aller Schärfe, anders als Hamed Abdel-Samad in der NZZ (unser Resümee) äußert er sich aber nicht zu einem geplanten Verbot in Schweden und Dänemark. Allerdings erklärt er, warum nicht nur migrationsfeindliche Rechtspopulisten, sondern auch Migranten Korane öffentlich verbrennen: "Die vom muslimischen Glauben Abgefallenen wollen damit in erster Linie gegen die Unterdrückung im Namen des Korans protestieren, die sie erleben oder erlebt haben. Sie gehören in Dänemark zu einer immer öffentlicher auftretenden Gruppe von Dissidenten aus dem muslimischen Kulturraum, die bei ihrem Protest auch vor gewaltsamen Mitteln nicht zurückschrecken. Die Koranschändung ist sicher nicht der originellste Akt."
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Medien

Der Spiegel bringt eine erstaunlich zahnlose Reportage über den Fall Fabian Wolff. Bei Wolff fragen sie allen Ernstes "Durfte er das?" Bei Mirna Funk notieren sie hingegen streng: "Funks Text erfüllt kaum journalistische Standards.". Verantwortliche in der Zeit werden nicht namhaft gemacht. Immerhin erfährt man ein wenig über die Verhältnisse in dem Laden: "Wer in diesen Tagen mit der Zeit-Belegschaft spricht, trifft auf Menschen, die ihr eigenes Haus nicht wirklich verstehen. Drei Autostunden trennen die Redaktion der Wochenzeitung in Hamburg von ihrem Onlinependant in Berlin, doch die Ressentiments und Missverständnisse zwischen den Häusern lassen die Strecke mitunter wie eine Weltreise erscheinen. Printredakteure beteuern, von dem Text nichts gewusst, höchstens gehört zu haben. Ein Onlineprojekt sei das gewesen, von dem selbst manche Führungskräfte nicht in Kenntnis gesetzt wurden." Der Online-Kulturchef se hingegen von dem Wolff-Text ergriffen gewesen: Ein "Dokument der Zeitgeschichte" sei das, soll er gesagt haben.

Die Affäre rührt deshalb so auf, meint Jan Küveler in der Welt, "weil sie ans Herz einer zurzeit weitverbreiteten Ideologie rührt, der Identitätspolitik. Deren zentraler Glaubenssatz bestreitet die aufklärerisch-universalistische Idee von der Kraft des besseren Arguments. Diese diskursive Utopie, meinen die Anhänger der Identitätspolitik, lasse die Sprecherposition sträflich außer Acht. In der westlichen Tradition seien die intellektuellen Wortführer über lange Zeit mehrheitlich weiße, christliche, heterosexuelle Männer gewesen - zuungunsten von Frauen, Homosexuellen, Schwarzen… und nicht zuletzt auch Juden. Was als Wahrheit ausgegeben werde, sei tatsächlich das kaum verhohlene Partikularinteresse eines angeblichen Patriarchats.Fabian Wolff legte es erfolgreich darauf an, eine ganz besondere Sprecherposition zu bekleiden: die des linken, israelkritischen Juden, der dem jüdischen Staat systematische Unterdrückung der Palästinenser vorwirft und der deshalb sogar antisemitische Organisationen wie den BDS unterstützt."

Auch Perlentaucher Thierry Chervel sieht die Affäre in einem Twitter-Thread als "die Katastrophe jener inzwischen so weit verbreiteten Idee, dass ein Argument nur zählt, wenn die Identität stimmt". Und er fragt, warum die Zeit-Redakteure, die Wolffs Text brachten nicht namhaft gemacht werden: "Warum äußern sich diese Personen nicht, und warum insistieren die KollegInnen des Spiegel nicht? Bei der Relotius-Affäre wurden doch auch Namen genannt, zu Recht... Die Print-Zeit hat die Wolff-Affäre ja tatsächlich mit keinem Wort erwähnt. Kein Wort zu einem GAU!"

In der taz kommt auch Carolina Schwarz auf die Rolle der ZeitOnline-Redakteure zurück, denen ja irgendwann durchaus bekannt war, dass Wolff eine falsche Identität vorgab: "Journalistisch sauber wäre zu diesem Zeitpunkt gewesen, Wolff nicht die Möglichkeit zu geben, ein 70.000 Zeichen langes Geschwafel zu veröffentlichen, sondern ein kritisches Interview mit ihm zu führen oder seine Biografie selbst zu recherchieren." Und eine Entschuldigung von Wolff fehlt bis heute im übrigen auch, so Schwarz: "Auf die Frage, warum Wolff sich nicht entschuldigt habe, antwortet dieser der taz: 'Der Text ist die Abbitte, nicht als Selbstentschuldigung, sondern aus Selbstverantwortung.'"
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Politik

Der Putsch im Niger hätte den Westen nicht überraschen dürfen, sagt der Soziologe Olaf Bernau, der vergangenes Jahr das Buch "Brennpunkt Westafrika" veröffentlicht hat, im Tagesspiegel: "In den französischen Medien wurde in den vergangenen Tagen sogar darüber berichtet, dass auch die Regierung in Paris Hinweise darauf hatte, dass es keine gute Idee war, französische Truppen aus Mali - wo sie hinausgeworfen wurden - direkt nach Niger zu verlegen. Es war bekannt, dass es auch dort großen Unmut gegenüber der französischen Politik gibt. Auch die Rede von Niger als 'Stabilitätsanker' war wider besseres Wissen. Jetzt wird immer betont, dass der gestürzte Präsident Barzoum auf demokratische Wiese an die Regierung gekommen war. Dabei wird ignoriert, dass auch diese Wahlen von Fälschungen und Manipulationen überschattet waren, die dokumentiert sind." In der taz liefert Dominic Johnson weitere Hintergründe zum Putsch: "Der Umgang mit Nigers Putsch stellt für Afrika eine ähnliche Herausforderung dar wie der Ukrainekrieg für Europa."

Außerdem: "Längst sind die Rohingya Opfer der Machtkämpfe auf der Weltbühne geworden, schreibt der Schriftsteller Christoph Hein auf den Bilder und Zeiten-Seiten der FAZ: "Der russische Überfall auf die Ukraine festigt den Schulterschluss der einstigen britischen Kolonie Burma mit China und Russland. Während Peking seit vielen Jahren Myanmar und dessen Ressourcen ausbeutet und über die dortigen Häfen seine eigene Rohstoffversorgung absichern will, sucht Moskau das Stillhalten der Schurken-Generäle auf der Weltbühne und füttert sie mit Waffen. Alle bremsen eine Lösung für die Rohingya aus - an deren Rückführung, auf die Vereinten Nationen und manche Rohingya selbst hofften, ist nicht zu denken."
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Kulturpolitik

Ende Juli fand das wirtschaftliche und humanitäre Forum Russland-Afrika in St. Petersburg statt, flankiert wurde es von Ausstellungen zu afrikanischen Themen. In die Kritik geriet die vom Staatlichen Russischen Museum ausgerichtete Ausstellung "Afrika in der russischen Kunst" wegen der mangelnden Sensibilität, die sie im Umgang mit Werken, die vom Einfluss kolonialer Ästhetik zeugen, an den Tag legte, berichtet der ukrainische Kunsthistoriker Konstantin Akinsha in der NZZ. Als Gegenschau wurde die Ausstellung "Umgekehrte Safari. Zeitgenössische Kunst aus Afrika" in der Zentralen Ausstellungshalle Manesch in St. Petersburg, die unter anderem zeitgenössische Künstler aus Afrika zeigt, inszeniert: "Auch wenn die Mehrheit der afrikanischen Staats- und Regierungschefs sich weigerte, zum Gipfel zu erscheinen, waren doch einige afrikanische Künstler glücklich, Teil der Ausstellung zu sein. Dies ungeachtet der Tatsache, dass diese ein Herzstück der russischen Propaganda darstellte. Russland sollte als maßgeblicher Motor der Entkolonialisierung aufscheinen. (…) Man kann davon ausgehen, dass die meisten in St. Petersburg ausgestellten afrikanischen Künstler den russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine keine große Beachtung schenken. Allerdings dürften ihnen die 'Heldentaten' der mit brutalsten Mitteln operierenden Truppe Wagner in der Zentralafrikanischen Republik, Mali, dem Sudan und Libyen nicht verborgen geblieben sein. Wenn man sieht, wie bereitwillig sie den russischen Anspruch auf antikoloniale Führung unterstützen, fällt es schwer, sich nicht an Lenins Diktum von den 'nützlichen Idioten' zu erinnern."
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Internet

Der Informatiker Jürgen Schmidhuber forscht bereits seit 1985 an KI, er gilt als "Vater der modernen KI". Im SZ-Gespräch prognostiziert er, dass Künstliche Intelligenzen irgendwann zum Merkur auswandern werden, außerdem erklärt er, weshalb Deutschland, einst Pionier, irgendwann den Anschluss in der KI-Forschung verloren hat: "Um 1990 herum lief es wieder gut für die großen Verlierer des Zweiten Weltkriegs. Westdeutschland war damals pro Kopf reicher als die USA. Etliche der berühmtesten Firmen waren damals noch deutsch, allerdings stammten fast alle der wertvollsten Firmen der Welt aus Japan, das einst mehr Roboter hatte als der komplette Rest des Planeten, und auch wichtige KI-Forscher. Dann begann der Abstieg. In Tokio kollabierte der Aktienmarkt, der vorher größer war als der von New York. Die Sowjetunion zerfiel, und Deutschland hatte auf einmal ganz andere Sorgen, weil es die beiden Teile zusammenbringen musste. Seither läuft es nicht mehr so. Parallel zum wirtschaftlichen Wiederaufstieg Chinas erlebten die USA in den Neunzigern ihre eigene Renaissance mit dem Silicon Valley."
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