9punkt - Die Debattenrundschau

Hier wird nichts nachgeplappert

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.10.2023. Die russische Schriftstellerin Natalja Kljutscharjowa erzählt in der NZZ vom Überlebenskampf der verbliebenen Opposition im Land. Vor hundert Jahren wurde der Begriff des "Totalitarismus" geprägt, und eine antitotalitäre Haltung ist aktueller denn je, schreibt Richard Herzinger im Perlentaucher. Can Dündar schreibt in Zeit online über die neue türkische Auswanderungswelle - von der Deutschland profitiert. Und in Amerika ist etwas nie Dagewesenes passiert: Der Sprecher des Repräsentantenhauses wurde abgewählt - erste Kommentare zum Chaos in der amerikanischen Politik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.10.2023 finden Sie hier

Politik

Der republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, der eine wichtige politische Position hat, ist durch die Intrige von Parteigenossen abgewählt worden - das ist in der Geschichte der USA noch nie passiert, schreibt Roland Nelles in einem ganz aktuellen Kommentar bei Spiegel online. McCarthy wird vorgeworfen, für einen Haushaltskompromiss gestimmt zu haben, der das Funktionieren der Institutionen überhaupt weiter ermöglicht: "Matt Gaetz und seine Verbündeten in der Fraktion der Republikaner warfen McCarthy Verrat vor. Ihnen ist er nicht extrem genug. Kompromisse mit den verhassten Demokraten halten sie für unentschuldbar. Sie unterstellten McCarthy sogar, er hätte mit US-Präsident Joe Biden einen geheimen Deal geschlossen, in späteren Haushaltsverhandlungen Hilfen für die Ukraine zuzustimmen. Diese lehnen die Hardliner entschieden ab."

"McCarthys außergewöhnlicher Sturz spiegelt die Unregierbarkeit der Republikaner wider", kommentiert Carl Hulse in einer ersten "News Analysis" in der New York Times. Nun haben auch die Demokraten für McCarthys Absetzung gestimmt, obwohl ihm noch Schlimmeres folgen könnte. Dafür muss man Folgendes wissen: "McCarthy hatte den Demokraten eine faire Behandlung und eine Einbindung versprochen, dann aber eine stark parteiische Gesetzgebung durchgesetzt, die sie verabscheuten. Er leitete leichtfertig ein Amtsenthebungsverfahren gegen den demokratischen Präsidenten ein, als er sich selbst mit seinen rechtsgerichteten Truppen auf wackligem Boden befand."
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Stichwörter: Mccarthy, Kevin, USA, Biden, Joe

Gesellschaft

Auf ZeitOnline ärgert sich Alan Posener über die "Verniedlichung" der DDR, wie sie einerseits von Rechten, andererseits von linken Historikerinnen wie Katja Hoyer oder Christina Morina vorgenommen wird. Und auch die Wende verlief keineswegs so friedlich, wie etwa die AfD glauben machen will, schreibt er: "Die angeblich friedliche Revolution der DDR war nur möglich als Ergebnis eines verbissen und auch von westlicher Seite weiß der Teufel nicht immer mit sauberen oder gar humanen Mitteln geführten - siehe Chile - und auch nicht immer nur 'kalten' Kriegs - siehe Vietnam. (…) Die 'friedliche Revolution' war nur möglich, weil Ronald Reagan, assistiert von Helmut Schmidt, der Aufrüstung des Warschauer Pakts die Aufrüstung der Nato entgegensetzte; weil islamische Mudschahedin in Afghanistan der sowjetischen Armee eine Niederlage bereiteten und katholische Arbeiter in Danzig streikten; weil arabische Scheichs Öl pumpten und damit den Preis für russische Ölexporte drückten; und weil - Freilandversuche hin, Utopien her - der gesamte Ostblock wirtschaftlich am Ende war und die Herrschenden nicht mehr weiterwussten."

Mit Geschäftsführerin Ulrike Teschke und Chefredakteur Christian Tretbar stehen zwei Ostdeutsche an der Spitze des Tagesspiegels. Zum Tag der deutschen Einheit haben sich die beiden zum Gespräch über ostdeutsche Mentalität, Benachteiligung und den Erfolg der AfD im Osten getroffen. Der Lohn sei im Osten pauschal und strukturell geringer, meint Teschke: "Hier sind die finanziellen Reserven nicht über Generationen hinweg gewachsen." Worauf Tretbar erwidert: Beim Thema Heizungsgesetz "sind die Westdeutschen doch genauso sauer, weil sich auch da eine Nachkriegsgeneration etwas aufgebaut hat, vererbt hat und nun steht es bei vielen gefühlt auf dem Spiel. Richtig ist, der Osten ist stärker auf Protest gepolt. Wobei es Unterschiede gibt zwischen denen, die damals gegangen sind und denen, die geblieben sind. Nicht alle wollten 1989 den Fall der Mauer. Viele haben es über sich ergehen lassen, weil sie keine andere Wahl hatten. Und dann kommt das Gefühl einer gewissen Ohnmacht, als würde einem alles aufgedrückt. Wende, Arbeit, Selbstbestimmung, Klimawandel, Flüchtlinge, eine neue Sichtweise auf Russland."
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Internet

Die sozialen Medien werden häufig als Hort der Polarisierung bezeichnet, was dabei übersehen wird, dass sie zum großen Teil auch Horte des Schulterklopfens unter Gleichgesinnten sind. Die wanderten nach der Twitter-Übernahme durch den immer krasseren Elon Musk im letzten Jahr zu Mastodon ab, wo sich die linke Blase nun mit sich selbst langweilt. Bluesky ist nun aber in aller Munde als eine wirklich mögliche Alternative zu Twitter, berichtet unter anderem Gereon Asmuth in der taz. Vorerst scheint es aber auch hier noch zuzugehen wie in einem alternativen Café: "Das Fehlen der rechten Trolle liegt auch an der exklusiven Zugangsregel, die Bluesky noch vorhält. Rein kommt man erst nach wochenlanger Wartezeit - oder waren es gar Monate? Oder wenn man einen Einladungscode hat. Den dürfen Schon-User an ihnen genehme andere in kleine Dosen weitergeben. Kritikern gilt Bluesky daher als elitärer Club. Die Firma will mit der Zugangsbeschränkung nicht nur einen organischen Aufbau sichern, sondern Spammer und 'Bad User', die versuchen, die öffentliche Meinung zu manipulieren, raushalten. Also Musk. Trump. AfD-Trolle. Putin-Spam."

Für ZeitOnline unterhält sich Maja Beckers mit dem Kulturwissenschaftler Vladimir Alexeev, der durch KI eine "neue Kulturepoche" anbrechen sieht. Er plädiert dafür, das Potenzial für die Kunst zu erkennen: "Im 20. Jahrhundert kamen viele neue Medien dazu, das passiert nun wieder: Es kommen Maschinen zur Anwendung, Algorithmen, Modelle, die extra dafür geschaffen werden. Und die eben auch jenen offenstehen, die früher gesagt hätten: 'Ich bin kein Künstler, denn ich kann nicht malen.'". Außerdem meint er: "KIs sind keine Plagiatoren, (…) weil die Inhalte, mit denen so ein Modell einmal trainiert wurde, nicht mehr da sind. Sie liegen nicht wie ein Stapel Papier in einer Schublade, auf die das Modell dann zugreift. Das Modell verfügt nur noch über semantische Vektoren. Deshalb finde ich auch den Begriff des 'stochastischen Papageis' falsch, der so gern für Sprachmodelle benutzt wird. Denn hier wird nichts nachgeplappert - hinter der Entstehung der Texte steckt weitaus mehr als bloße Wahrscheinlichkeitsberechnung."
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Medien

Insgesamt neun Sendungen werden im RBB von überwiegend christlichen Religionsgemeinschaften verwaltet, dagegen protestiert nun der Redaktionsausschuss des Senders, berichtet Leonardo Kahn in der SZ: "Es sei 'nicht nachvollziehbar, warum die Kirchen nach wie vor selber im RBB Programm machen dürfen', schreibt der Redaktionsausschuss. Seine Forderung: 'Entweder bekommen auch andere gesellschaftliche Gruppen die Möglichkeit, Programm zu machen - oder alle sind gleichermaßen Gegenstand journalistischer Berichterstattung.' (…) Dass die Kirchen Sendezeit beanspruchen können, ist historisch bedingt: Die sogenannten Drittsenderechte wurden ihnen 1948 zugeteilt, weil die Kirchen als wichtige Kraft für den Aufbau der Bundesrepublik galten. Rechtlich gesehen steht sogar jeder Religionsgemeinschaft Sendezeit im Rundfunk zu. Die jüdische Gemeinschaft gestaltet freitags auf RBB Kultur abwechselnd 'Schalom' und 'Das Wort zum Schabbat'. Sendungen von muslimischen Gemeinschaften gibt es keine, weil die Glaubensgemeinschaften in Deutschland nicht als Körperschaft eingetragen sind."
Archiv: Medien
Stichwörter: RBB, Kirche

Ideen

Vor hundert Jahren wurde der Begriff des "Totalitarismus" geprägt, schreibt Richard Herzinger in seiner Perlentaucher-Kolumne. Sich sowohl gegen die extreme Rechte als auch gegen die extreme Linke zu positionieren, erforderte in den dreißiger und vierziger Jahren moralische Standfestigkeit. Aber auch "heute ist der antitotalitäre Konsens, der sich nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Lagers in der westlichen Welt fest verankert zu haben schien, durch die zunehmend extreme Polarisierung in den demokratischen Gesellschaften erneut gefährdet... Einmal mehr droht die antitotalitäre Haltung so zwischen extremen Positionen zerrieben zu werden. Während rechte Populisten das vermeintliche Wohl des eigenen ethnisch-nationalen Kollektivs grundsätzlich über universale Werte stellen, frönt eine starke Fraktion innerhalb der Linken einer als 'postkolonial' deklarierten 'Identitätspolitik', die den Wahrheitsgehalt von Theorien und Meinungen nicht nach Kriterien objektiver Erkenntnis bemisst, sondern nach der Herkunft und Hautfarbe derjenigen, die sie vortragen."
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Europa

Buch in der Debatte

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"Viele Russen haben nie gelernt, eigenständig zu denken. Statt das eigene Hirn schalten sie das staatliche Fernsehen ein", erklärt die russische Schriftstellerin Natalja Kljutscharjowa, deren "Tagebuch vom Ende der Welt" gerade auf Deutsch erschienen ist, im NZZ-Gespräch. Gewalt und Kriminalität hätten in Russland auch durch verrohte und frustrierte Soldaten, die von der Front zurückkehren, zugenommen. Aber noch immer gibt es einen oppositionellen Untergrund, so Kljutscharjowa: "Kritisch eingestellte Leute versammeln sich weiterhin heimlich auch zu sogenannten Kwartirniki - private Zusammenkünfte, an denen man Meinungen austauscht, Antikriegstexte liest, Antikriegsstücke aufführt, Protestlieder singt. Solche Veranstaltungen gibt es bis heute, obwohl sie immer mit großem Risiko verbunden sind." Leider gibt es jedoch "Russen, die machen das Denunzieren zu ihrem Beruf. Jeden Tag denunzieren sie im Internet irgendwelche Leute, sie melden ihren Verdacht gleich bei der Polizei oder bei der Staatsanwaltschaft und sind dann stolz auf ihre Heldentaten."

Armenien ist nach dem Exodus der Volksgenossen aus Bergkarabach in einer traurigen Lage, kommentiert Lisa Schneider in der taz: "Nur zu zwei der insgesamt vier Nachbarländer gibt es offene Grenzen, nach Georgien und in den Iran. Die Beziehungen zur ehemaligen Schutzmacht Russland kriseln gewaltig, die zu den anderen beiden Nachbarländern Türkei und Aserbaidschan ist von Feindseligkeit und Jahrzehnten des Konflikts bestimmt." Und über die politische Reaktion kann Schneider nur sagen: "Die Situation der Armenier ist der EU gleichgültig." Tigran Petrosyan schickt für die taz eine ausführliche Reportage aus Armenien.

Die Berichterstattung zu Bergkarabach ist auffällig zurückhaltend, notiert Henryk Broder in der Welt, so zurückhaltend wie die Reaktion der Bundesregierung. Immer wird nur betont, dass Bergkarabach "völkerrechtlich zu Aserbaidschan" gehört, aber was heißt das? "Die Behauptung, Bergkarabach gehöre 'völkerrechtlich' zu Aserbaidschan, soll dem Überfall auf die armenische Exklave inmitten von Aserbaidschan den Anschein von Legalität verleihen. Aber selbst wenn Bergkarabach 'völkerrechtlich' zu Aserbaidschan gehören würde, dürfte nicht übersehen werden, dass das Völkerrecht Vertreibungen verbietet. Deswegen 'fliehen' die Armenier nur, lassen ihre Häuser und Höfe und Tiere zurück. Demnächst wird es heißen, sie würden sich auf dem Altar des Völkerrechts opfern, dem Frieden im Kaukasus zuliebe."

Die erste Generation türkischer Einwanderer brachte die religiös-nationalistische, konservative Tradition Anatoliens mit, spätere Generationen flohen meist wegen Repressionen, schreibt Can Dündar auf ZeitOnline. Nun kommt mit den "Erdogan-Migranten" eine neue Gruppe, die sich stark von den anderen unterscheidet: "Es kommen Akademiker, die von ihren Universitäten entfernt wurden, weil sie eine Petition unterschrieben haben; Musiker, gegen die wegen eines Songtextes Ermittlungen aufgenommen wurden; junge Leute, die angegriffen wurden, weil sie sich in der Öffentlichkeit geküsst haben; Jungverheiratete, die keine Kinder unter dem Repressionsregime aufziehen wollen. Anders als die anderen gewissermaßen übereinander geschichteten Einwanderergenerationen geht es diesen Menschen meist wirtschaftlich besser, sie verfügen über höhere Bildungsabschlüsse, haben gute Berufe, sprechen Fremdsprachen. Sie arbeiten eher nicht im Bergbau oder auf dem Bau, sondern im medizinischen oder im IT-Bereich. Integration in Deutschland ist für sie kein Problem. Vielmehr verließen diese Menschen ihr Land, weil es ihnen nicht gelang, sich in der neuen Türkei zu integrieren. Und wie es aussieht - Studien dazu gibt es noch nicht -, sind die meisten von ihnen jung, urban und weiblich."
Archiv: Europa