9punkt - Die Debattenrundschau

Werdet lieber politisch ernstzunehmen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.11.2023. Klare Statements in den deutschen Medien: Was viele von euch wollen, wäre ohne einen Holocaust 2.0 nicht zu haben, ruft die taz der Linken zu. SpiegelOnline und SZ analysieren die Propaganda der Hamas, auf die so viele Aktivisten reinfallen. "Die meisten deutschen Empörten, die von Israel als 'rassistischem Regime' sprechen, dürften nicht einmal den Begriff Sepharden kennen", meint SpiegelOnline. FAZ und Zeit blicken derweil auf die Kirchen, die lieber herumdrucksen, als Partei zu ergreifen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.11.2023 finden Sie hier

Politik

"Längst überfällig"  - so kommentieren die Medien in ersten Reaktionen die Rede, die Robert Habeck auf X (ehemals Twitter) für Deutschlands Unterstützung für Israel und gegen Antisemitismus in jeder Form gehalten hat:



Aber schon vor Habecks Rede positionieren sich die deutschen Medien heute deutlich:

Die linke, multikulturelle orientierte Politik hat die Probleme, die sich mit aus arabischen Gebieten Eingewanderten ergeben, zu lange bagatallisiert, "kühle" kritische Stimmen wie jene von Ahmad Mansour, Seyran Ates oder Necla Kelek wurden "dämonisiert" und als rechts abgetan, kommentiert Jan Feddersen, der in der taz muslimischen und vor allem palästinaaffinen Communities ein paar "harte und herzliche" Ansagen macht: "Juden und Jüdinnen inklusive ihres aktuell verwundeten Safe Spaces namens Israel liegen uns am Herzen, euch auch. Palästina wie in eurer Phantasie ist nicht mehr. 'From the river to the sea …': vergesst es. Kennen lang eingeborene Deutsche alles längst, die glühenden Konflikte hierzu liegen drei Jahrzehnte zurück: Schlesien ist weg, und Ostpreußen zur Hälfte auch. Ihr könnt Rückkehr nach Palästina wünschen, aber lasst es lieber. Was viele von euch wollen, wäre ohne einen Holocaust 2.0 nicht zu haben, es käme einem Massaker in ganz Israel im Stil der Hamas gleich. Mithin: Hier ist jetzt eure Heimat, das muss es ja sein, sonst wäret ihr ja nicht gekommen, also macht was draus. Deutschland ist auch der Platz des Islam, aber nicht des Islamismus. Euer Glaube ist einer unter vielen, ja, einer, der sich allen gesellschaftlichen Platz mit Gottlosen zu teilen hat, friedlich. Werdet lieber politisch ernstzunehmen. Und das könnte heißen: Für eure Leute in Gebieten wie Neukölln eine entschieden besser ausgestattete Bildungspolitik zu fordern, mehr Wohnungsbau für bessere Lebensverhältnisse."

Die Propaganda des Weglassens hat die Hamas perfektioniert, schreibt Sascha Lobo, der in seiner SpiegelOnline-Kolumne verschiedene Beispiele nennt, etwa die Erzählung vom "angeblich rassistischen Kolonialkonflikt": "Seit mehr als 3000 Jahren ist durchgehend eine jüdische Bevölkerung im heutigen Israel nachweisbar, der Definition nach kann es sich also gar nicht um eine 'jüdische Kolonialisierung' handeln, was - Propaganda sei Dank - im entsprechenden Diskurs meist weggelassen wird. Noch leichter erkennbar aber ist die Tatsache, dass viele der Jüdinnen und Juden in Israel sephardischer Abstammung sind. Die meisten deutschen Empörten, die von Israel als 'rassistischem Regime' sprechen, dürften nicht einmal den Begriff Sepharden kennen. Aber diese Menschen waren in den vergangenen Jahrhunderten bis zur massenhaften, manchmal pogromhaften Vertreibung durch Muslime im 20. Jahrhundert vor allem in Nordafrika ansässig. Und so, wie sich die deutsche Öffentlichkeit 'Nordafrikaner' vorstellt, sehen sie auch aus. Vor allem, aber nicht nur die linken und liberalen Öffentlichkeiten haben sich zum Glück gegen Rassismus sensibilisiert. Aber genau diese Sensibilisierung wird von der Propaganda zur Emotionalisierung ausgenutzt, um das falsche Bild von knallweißen, jüdischen Kolonialisten zu zeichnen, die die arme braune, einheimische Bevölkerung verdrängt oder Schlimmeres."

In der SZ analysiert auch Jakob Biazza die "Werbekampagne" der Hamas: Wie damals der IS instrumentalisiere die Terrororganisation die Gewalt gegen Frauen, um damit vom westlichen Lebensmodel enttäuschte junge Männer zu gewinnen. "Die sexualisierte Gewalt, die diesen Frauen angetan wird, ist Gewalt von Männern. Sie ist aber auch Gewalt für Männer. Männer als Täter. Männer, die Frauen als Bedrohung empfinden, als Publikum, als Agitationsgegenstand. Frauen als Schlachtfeld männlicher Machtdemonstration. Entmenschlichung von Frauen als Werbebotschaft an andere Männer. Und auf der anderen Seite eine erstaunlich stumme feministische Internationale. Großes Schweigen. Relativierungen. Im besseren Fall Kontextualisierungen. In allen Fällen kaum Aufschrei, nur wenig intellektuelle Prominenz, die den Hass der Terroristen auf Frauen klar benennt. Aus der Sorge heraus, für rassistisch gehalten zu werden?"

In den sozialen Medien hat sich binnen weniger Tage eine Welle an antisemitischem Hass entladen, konstatiert ebenfalls der Historiker Volker Weiß entsetzt in der SZ. Was dabei besonders erschreckt, ist, wie gerne Aktivisten sofort den Narrativen der Hamas aufgesessen sind - besonders in Deutschland. So könne sich Israel nicht mehr auf die Garantien, aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt zu haben, verlassen. "Rechte wollen sich von der historischen Last befreien, an die sie die Gedenkpolitik erinnert. Linke schlagen das Judentum nach alter antisemitischer Art dem Establishment zu. Die liberale Mitte verharrt in ihrem Bedürfnis nach Äquidistanz - und die meisten Bürgerinnen und Bürger wollen am Sonntagnachmittag lieber einen letzten Kaffee in der Herbstsonne trinken, als auf die Demo für die Opfer der Hamas zu gehen. Es gibt eine dünne Schicht aus Staatsspitze und Menschen, die sich noch nicht im Kulturrelativismus aufgegeben haben. Doch es sind ganz außerordentlich fragile Abhängigkeiten, an die das jüdische Leben in Europa geknüpft ist. Aus diesem Grund wurde Israel gegründet."

Der 7. Oktober zeigt: Antisemitische Narrative haben nie aufgehört in den Köpfen der Menschen zu bestehen, stellt Jacques Schuster in der Welt fest. Dies rufe in den Köpfen der Juden ein altes Trauma wach. "Der 7. Oktober hat diese kollektive Erinnerung - in Heinrich Heines Worten: diesen 'ungeheuren Judenschmerz' - wieder nach oben getrieben, genau wie die ebenfalls uralte, fast irrsinnig machende Ratlosigkeit, wie dem Antisemitismus zu begegnen sei: Ist der Jude intelligent, dann ist er zersetzend; ist er Soldat, ist er Militarist; ist er gewandt, ist er ein Anbiederer; ist er zurückgezogen, heißt man ihn einen Luftgeist im Nirgendwo; ist er Teil einer schweigenden Mehrheit, muss er ein Duckmäuser sein; lebt er in der Diaspora, gehört er nicht wirklich dazu; baut er sich einen Staat, ist er ein imperialistischer Landräuber."

"Die Hamas ist nicht das palästinensische Volk. Benjamin Netanyahu und Itamar Ben-Gvir sind nicht alle Israeli", betont der englische Historiker Simon Sebag Montefiore, der die Linke im NZZ-Gespräch fragt, weshalb sie hier mit zweierlei Maß misst und festhält: "Sogar wenn man gegen Israel ist: In welcher Gesellschaft betrachtet man Menschen als Siedler, wenn sie dort bereits seit über hundert Jahren leben? Mit diesem falschen Argument wird die Tötung unschuldiger Menschen gerechtfertigt. (...) Das Narrativ entstand aus einem gefährlichen Mix aus sowjetischer Propaganda, marxistischer Dialektik, amerikanischer Antirassismustheorie und traditionellem Antisemitismus. Wir haben zugelassen, dass Aktivisten an die Spitzen unserer Universitäten und humanitären NGO - also von Institutionen des freien Denkens - kommen, die diese Ideologien vertreten. In Harvard, an der Penn und anderen Universitäten in den USA sieht man nun, wozu das führt. Zum Glück ist dieses Problem einfach zu lösen: Niemand muss in Harvard studieren oder lehren. Spender und Geldgeber haben die Wahl, ob sie solche Einrichtungen weiterhin finanzieren wollen."

"Die neue Losung lautet also: Nichts hat sich verändert, nur der Grad der israelischen Gewalt", kommentiert Thomas E. Schmidt in der Zeit die Reaktionen aus der Kulturszene. Dennoch: "Für die mit öffentlichen Mitteln Kultur machenden Israelhasser wird es eng. Sie schweigen daher beredt. Es ist nicht zu erwarten, dass sie sich offen zum Terror und zum weltpolitischen Endkampf des Antikolonialismus bekennen und dazu, dass im Nahen Osten das letzte Gefecht gegen den Westen tobt und dass dafür alles gerechtfertigt sei. Das Ressentiment verschafft sich einen verdrucksten Ausdruck, und das wirkt giftig. Die Kultur in Deutschland wird nun gespalten sein, wie die Klimabewegung."

Archiv: Politik

Religion

Auf den "Glauben und Zweifeln"-Seiten der Zeit erzählt Evelyn Finger unter anderem von Rabbi Ron Li-Paz, der vergangenen Sonntag am Rande der Messe im Petersdom bei den Kurienkanälen nachfragte, ob es möglich sei, mit dem Papst über die Angst der Juden zu sprechen: "Das ist der Moment, in dem mehrere Geistliche peinlich berührt die Stirn runzeln oder mitleidig lächeln. Einige wissen wohl: Papst Franziskus hat zwar im Beisein von Kardinalstaatssekretär Parolin mit Raphael Schutz, dem israelischen Botschafter beim Heiligen Stuhl, gesprochen, will aber von der langen Liste jüdischer Bittsteller vorerst niemanden mehr empfangen. Keine Angehörigen der Geiseln, keine Überlebenden des Massakers - obwohl die bei Italiens Präsident Mattarella waren. Warum nicht? Weil, heißt es vertraulichst aus der Kurie, dies im Krieg zwischen der Hamas und Israel als Parteinahme missverstanden würde. Es gibt aber Vatikandiplomaten, die finden das falsch. Auch das Schweigen eines Papstes werde politisch interpretiert. Auch Nichtstun könne Sünde sein. Ein Friedensgebet für die Kriegsopfer, wie vergangenen Freitag im Petersdom, genüge nicht."

Auch der ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) hatte nach dem Massaker "beide Konfliktparteien" gebeten, "zur Deeskalation beizutragen" - eine moralische Bankrotterklärung in mehrfacher Hinsicht, schreiben in der FAZ die evangelischen Theologen Gabriele und Peter Scherle: "Was sind die Gründe? Im Blick auf den Staat Israel setzte sich im ÖRK seit den Sechzigerjahren eine Lesart durch, die davon ausgeht, der Staat sei Ausdruck eines Siedler-Kolonialismus und Vorposten des US-amerikanischen Imperialismus im Nahen Osten. Nach dieser Lesart sind Juden im Staat Israel in erster Linie Täter. Werden Juden zu Opfern, sind sie demnach selbst Schuld, weil es sich um Notwehr derer handelt, die sich gegen die koloniale Macht und den 'globalen Westen' zur Wehr setzen. In solch einer politisch unterkomplexen Deutung des Nahostkonfliktes wird übergangen oder übersehen, dass es sich bei der Hamas um eine reaktionär-islamistische Miliz handelt, die nicht nur die Vernichtung der Juden und des Staates Israel anstrebt, sondern auch die palästinensische Bevölkerung unter ein theokratisch-gewalttätiges Regime zwingt. Die dschihadistische Hamas vertritt nicht, sondern verrät die Interessen der Palästinenser."
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Europa

Wird es in Polen zum Putsch kommen, fragt Jörg Lau in der Zeit, nicht nur, weil Andrzej Duda alles dafür tut, Noch-Premier Mateusz Morawiecki den Regierungsauftrag zu erteilen: "Der Chefredakteur der führenden liberal-konservativen Zeitung Rzeczpospolita, Michał Szułdrzyński, fürchtet 'die polnische Version des Sturms auf das Kapitol'. Die PiS folge dem Beispiel der Trump-Republikaner, indem sie unter ihren Anhängern die Botschaft verewige, sie habe die Wahl gewonnen. Sollte Morawiecki im Sejm eine Mehrheit verfehlen, habe man eine 'fertige Geschichte über einen gestohlenen Sieg'. Das Ziel sei wie in den USA die weitere Radikalisierung der eigenen Anhänger und eine noch stärkere gesellschaftliche Polarisierung. Die PiS, glaubt Szułdrzyński, verstehe sich nicht als künftige Opposition (weil das bedeuten würde, die Niederlage anzuerkennen) - sondern wolle sich als 'Widerstand' positionieren, gegen eine illegitime neue Regierung, die im Dienst fremder Mächte stehe."

In der FAZ versucht der Jurist Daniel Thym darzulegen, weshalb eine Debatte über Obergrenzen im Asylrecht ethisch gerechtfertigt ist: "Wie viele Gelder für welche Aufgabe bereitgestellt werden, ist immer auch eine Frage der Prioritätensetzung. So könnte man Wohnungen für Asylsuchende bauen anstatt die Bundeswehr aufzurüsten oder einen ausgeglichenen Haushalt anzustreben. Niedrigere Standards erlaubten es, mehr Personen aufzunehmen. Camps auf den griechischen Inseln mit ärztlicher Notversorgung sind günstiger als deutsche Mehrfamilienhäuser und eine Gleichbehandlung im Gesundheitssystem nach 18 Monaten. Wenn man das Bürgergeld für alle absenkt, können ohne Mehrkosten mehr Personen kommen, die zuerst einmal ganz oder teilweise von Sozialleistungen leben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Vertriebene in Westdeutschland zwangsweise in private Wohnungen einquartiert. Dies ist wohlgemerkt kein Plädoyer für eine Entwaffnung der Bundeswehr oder niedrigere Standards. Es geht um etwas anderes. Die Überlegungen verdeutlichen die beiden Gründe, warum es politisch und ethisch legitim ist, die Asylmigration zu begrenzen."
Archiv: Europa

Geschichte

Buch in der Debatte

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In seinem neuen Buch "Weltenbrand" plädiert der britische Historiker Richard Overy den Zweiten Weltkrieg in einem größeren Zusammenhang zu betrachten - auch die deutschen Verbrechen (unser Resümee). Im Welt-Interview mit Richard Kämmerlings wehrt er sich zudem gegen den Begriff vom stalinistischen Imperialismus: "Stalin will den Kommunismus überall verbreiten, wohin die Rote Armee auch gelangt." Trotz alledem handele es sich hierbei aber um eine Hegemonialmacht. "Eine Hegemonialmacht, wie bösartig sie auch immer ist, ist etwas anderes als eine Kolonialherrschaft, wie sie etwa Deutschland, Italien und Japan in den Gebieten errichteten, die sie besetzten. Aber ich weiß natürlich, dass gerade Leute in Osteuropa das für eine reine semantische Spitzfindigkeit halten. Aber eben deswegen verwende ich in meinem Buch viel Raum auf die konkrete Herrschaftsausübung der Achsenmächte. Weil sie sofort die Muster kolonialer Verwaltung kopieren, die die 'alten' Kolonialmächte ausübten."

In der Zeit erinnert der Historiker Volker Ullrich an den Hitlerputsch am 8. November vor hundert Jahren, der zwar mit der Verurteilung Hitlers endete, aber: "Wäre es nach Recht und Gesetz gegangen, hätte Hitler für viele Jahre hinter Gitter gemusst. Doch er und seine Mitverschwörer stehen im Frühjahr 1924 am Volksgericht München I vor dem Vorsitzenden Richter Georg Neithardt, der seine Sympathien für die Angeklagten nicht versteckt. Er lässt es zu, dass Hitler sich zum Herrn des Verfahrens aufspielen und das Tribunal als Bühne für seine Propaganda nutzen kann. Am 1. April 1924 wird das Urteil verkündet: Ludendorff wird freigesprochen, Hitler zur Mindeststrafe von fünf Jahren Festungshaft verurteilt, allerdings mit der Aussicht, schon nach sechs Monaten auf Bewährung freizukommen. Unter luxuriösen Haftbedingungen schreibt er das Buch Mein Kampf und bereitet sein politisches Comeback vor."
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Stichwörter: Ullrich, Volker, Hitlerputsch

Internet

Mit dem geplanten Digital Service Act (DSA) sollen die sozialen Medien in Bezug auf Desinformation oder "rechtswidrige Inhalte" durchkämmt und diese gelöscht werden. Das sieht der Journalist Jakob Schirrmacher in der Welt kritisch, weil dieser Mechanismus missbraucht werden kann: "Der DSA versteht unter 'rechtswidrigen Inhalten' alle Informationen, 'die als solche oder durch ihre Bezugnahme auf eine Tätigkeit, einschließlich des Verkaufs von Produkten oder der Erbringung von Dienstleistungen, nicht im Einklang mit dem Unionsrecht oder dem Recht eines Mitgliedstaats stehen, ungeachtet des genauen Gegenstands oder der Art der betreffenden Rechtsvorschriften.' Das kann bedeuten, dass Inhalte, die beispielsweise in Ungarn als rechtswidrig verstanden werden, auch aus Feeds der restlichen EU-Mitgliedstaaten verschwinden könnten. Laut EU-Kommission sei dies jedoch ein hassfreieres, menschlicheres und demokratischeres Internet wert."
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