9punkt - Die Debattenrundschau

Bei ihnen dominiert die Angst

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.11.2023. Für die Juden in der Diaspora bedeutet das Massaker der Hamas einen Bruchpunkt, meint Rafael Seligmann in der FAZ: Im Gegensatz zu den Juden in Israel sind sie wehrlos dem Schutz ihrer nichtjüdischen Umwelt preisgegeben. Auf SpiegelOnline erzählt der iranische Aktivist Reza Khandan, wie einige Iraner aus Kritik am Regime zu radikalen Fürsprechern Israels werden. Amerikanische Unis reagieren hochsensibel auf jede Form von Gewalt, es sei denn, es geht gegen Juden, sagt der israelische Psychologe Shai Davidai in der Welt. In der SZ erinnert der Historiker Wolfgang Niess an den Hitlerputsch vor hundert Jahren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.11.2023 finden Sie hier

Politik

Für die Juden in der Diaspora bedeutet das Massaker vom 07. Oktober einen "Bruchpunkt", schreibt der israelische Historiker Rafael Seligmann in der FAZ: "Jene in Zion können sich verteidigen. Die in der Diaspora sind wehrlos dem Schutz ihrer nichtjüdischen Umwelt preisgegeben. (…) Seit Mai 1948, dem Gründungsdatum ihres Staates, sind die Israelis verantwortlich für ihr Schicksal. Sie entwickeln ihr Land, seine Kultur und Wirtschaft, und sie führen ihre Kriege. Damit sind sie auch in der Lage, ihre Ängste zumindest kollektiv zu beeinflussen. In der neueren israelischen Literatur kann man sich, wie die Künstler im Ausland, seinem schlechten Gewissen widmen und die diskriminierende Behandlung der Palästinenser anprangern. Dieses 'Privileg' besitzen die Diaspora-Juden kaum. Bei ihnen dominiert die Angst vor den Antisemiten, in deren Mitte sie leben. (…) Unterdessen lähmt die Angst nicht nur in Europa, sondern weltweit die Seelen der Juden. Ob sie sich daraus befreien können, hängt vom Mitgefühl, vor allem aber von der tatkräftigen Solidarität der anderen Menschen ab. Allein werden wir Juden uns nicht aus unserer Angst befreien können."

Ebenfalls in der FAZ berichten Christian Meier und Quynh Tran, wie massiv jüdische Siedler zunehmend gegen Palästinenser im Westjordanland vorgehen: "Palästinensische Dorfgemeinschaften haben sich unter dem Druck der Übergriffe praktisch selbst aufgelöst. Diese Entwicklung hat vor mehr als einem Jahr eingesetzt, in den vergangenen vier Wochen hat sie sich jedoch dramatisch beschleunigt. Denn im Schatten des derzeitigen Kriegs eskaliert die Gewalt auch im Westjordanland. Während die Blicke vor allem auf den Gazastreifen gerichtet sind, sind in dem Gebiet mehr als 150 Menschen getötet und zahlreiche weitere verwundet worden, sowohl bei Auseinandersetzungen zwischen militanten Palästinensern und der israelischen Armee als auch bei Siedlerangriffen. Die Einschüchterungen der Siedler werden immer offener. So wurden die Bewohner des Dorfs Deir Istiya nördlich der Siedlung Ariel vor zwei Wochen erst bei der Ernte mit Steinen beworfen. Als sie von ihren Feldern zurückkehrten, entdeckten sie Flugblätter an ihren Autos: 'Ihr wolltet Krieg, wartet auf die große Nakba', stand darauf..."

"Wir glauben nicht mehr an Reformen", sagt der iranische Aktivist Reza Khandan, dessen Frau, die Anwältin Nasrin Sotoudeh während eines Hafturlaubs erneut festgenommen wurde, im SpiegelOnline-Gespräch: "Die Sicherheitskräfte haben so viele Menschen mit Schlagstöcken und Gummigeschossen verletzt oder verhaftet, so viele getötet und hingerichtet, dass der Widerstand auf der Straße irgendwann endete." Die Kritik der Bevölkerung sei dennoch nicht verstummt, auch nicht an der Israel-Politik der Regierung: "Iran ist ein muslimisches Land und die meisten haben Sympathie für die Palästinenser, weil sie glauben, dass ihnen Unrecht geschehen ist. Aber die iranische Regierung hat gegenüber Israel eine solche Feindseligkeit aufgebaut und sich zum Fürsprecher radikaler, palästinensischer Gruppen gemacht, dass das auch viele Menschen besorgt und sie deshalb Kritik daran üben. Manche sind deshalb sogar zu radikalen Fürsprechern Israels geworden. Die moderate Zivilgesellschaft sieht es so: Wenn die Hamas ein Verbrechen begeht, sollte dieses Verbrechen verurteilt werden, und wenn Israel unter dem Vorwand, sich zu verteidigen, ein Verbrechen begeht, sollte dies ebenfalls verurteilt werden."

Eine "erfolgreiche islamistische Inszenierung", nennt Nina Monecke auf Zeit Online die pro-palästinensische Demo in Essen und zitiert den Autor und Mitgründer der liberalen muslimischen Alhambra Gesellschaft Eren Güvercin, der meint: "Der Nahostkonflikt ist für Islamisten ein Jackpot." Güvercin fordert eine klarere Abgrenzung der Veranstalter von Islamisten, gibt Monecke wieder: "Statt sich von den islamistischen Parolen von Generation Islam oder Rednern wie Ahmed Tamim zu distanzieren, wurde bei einer Demo beispielsweise eine Person ausgeschlossen, die ein Plakat mit der Aufschrift 'Free Gaza from Hamas' zeigte… Die Querdenker haben auch behauptet, dass sie für Freiheit und Grundrechte demonstrieren, aber getragen waren die Proteste von Verschwörungstheoretikern, Esoterikern und Rechtsextremen.' Weiter sage Güvercin: 'Da muss man eine klare Linie ziehen. Das sehe ich bei den propalästinensischen Demos bisher nicht.'"

"Ist Israel ein Apartheidsstaat?", fragt Konstantin Sakkas im Tagesspiegel. Es sei komplex, meint Sakkas und gibt einen Überblick über Israels Politik im Westjordanland. Letztendlich lasse sich festhalten: "Trotz alldem ist die Anwendung des Apartheid-Begriffs auf Israel problematisch. Nicht nur kann wohl die rassistische Motivation im Sinne der Konvention von 1973 verneint werden, auch diskriminiert Israel nicht Bürger des eigenen Staatsgebietes, sondern eines nach wie vor besetzten Territoriums ... Denn würde Israel massenhaft Nicht-Juden naturalisieren, so könnten diese irgendwann die Juden demographisch und, bei entsprechender politischer Mehrheit, auch rechtlich majorisieren; im Ergebnis würden die Juden in ihrem eigenen Staat zu Gästen - was sie eineinhalb Jahrtausende lang im Rest der Welt waren. Eine im eigentlichen Sinne koloniale, das heißt auf rassistische Superiorität und wirtschaftliche Ausbeutung gegen die Araber gerichtete Intention kann man für Israel ausschließen."

Der Islamverband Ditib ließ sich in Nordrhein-Westfalen von Nathanael Liminski, Chef der NRW-Staatskanzlei und CDU-Minister für internationale Angelegenheiten im Kabinett von Hendrik Wüst, schließlich etwas widerwillig dazu bewegen, den Hamas-Terror zu verurteilen, schreibt Christian Parth auf Zeit Online. Am Anfang sah das nach guter Verständigung aus, dann zeigte sich, dass der Verband das Statement vor den eigenen Leuten geheim hält: "Es folgten die von Liminski orchestrierten Besuche in der Kölner Synagoge und der Gegenbesuch in der Bochumer Moschee. Danach wurde das Klima frostig. Denn dem ausdrücklichen Wunsch Liminskis an die Islamverbände, die gemeinsame Botschaft in die Gemeinden und an die Basis zu tragen, wollte die Ditib anscheinend nicht nachkommen. Bis heute ist auf der Internetseite kein Hinweis auf die Erklärung zu finden."

Im Welt-Interview spricht der an der Columbia University in New York lehrende israelische Psychologe Shai Davidai über den grassierenden Antisemitismus auf dem Campus, wo sonst hochsensibel auf jede Form von "Mikroaggressionen" reagiert wird: "Auf dem Campus ist Gewalt verwerflich, es sein denn, das Opfer ist jüdisch. Auf dem Campus sind Vergewaltigungen verwerflich, es sei denn, das Opfer kommt aus Israel. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, natürlich müssen wir jeglicher Form von Gewalt gegenüber hochsensibel sein. Doch die Universitäten zeigen derzeit ihr wahres Gesicht: Sie sind gegen Gewalt und sprechen für alles und jeden Triggerwarnungen aus. Doch Juden und Israelis sind hiervon ausgenommen. In unserer Gesellschaft ist Vergewaltigung ein Verbrechen. Das ist unser Konsens, Punkt. Dieser moralische Konsens wird nun aufgebrochen. Die Unterzeichner all dieser Briefe, all die, die derzeit für die Hamas marschieren und protestieren, legitimieren die Vergewaltigung als politischen Akt des Widerstandes."
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Geschichte

Buch in der Debatte

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Genau vor hundert Jahren versuchte Hitler mit der Hilfe der SA gegen die Reichsregierung in Berlin zu stürzen. Der deutsche Historiker Wolfgang Niess, der auch ein Buch zum Thema verfasst hat, erinnert im SZ-Interview daran, "dass die Beseitigung der angeblich 'jüdisch und marxistisch verseuchten' Republik keineswegs nur das Projekt Hitlers war. Er war im Getriebe des geplanten Umsturzes nur ein relativ kleines Rädchen. Der entscheidende Kopf war Gustav von Kahr, der schon 1920/21 als Ministerpräsident die Vorstellung hatte, Bayern müsse zur 'Ordnungszelle' Deutschlands werden. Kahr war Monarchist, glühender Antisemit und entschiedener Gegner der Demokratie." Auch die bayerische Justiz versagte in der Aufarbeitung des Falls, so Niess. Auch mit dem Blick auf den heutigen Antisemitismus der deutschen Gesellschaft, plädiert Niess dafür, sich endlich den historischen Tatsachen zu stellen: "Als Gesellschaft hat uns das 'Führerprinzip' so lange - und möglicherweise bis heute - daran gehindert, den Tatsachen offen ins Auge zu blicken und Konsequenzen zu ziehen. An den Novemberpogromen etwa waren keineswegs nur Schlägertrupps der SA beteiligt, sondern auf die eine oder andere Art und Weise etwa zehn Prozent der Deutschen. Wir sollten aufhören, uns hinter Hitler zu verstecken - in Sachen "Hitlerputsch" und im Hinblick auf Antisemitismus. Den gab es hierzulande vor Hitler und auch nach ihm. Inzwischen zeigt er sich wieder ganz offen."
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Europa

In der taz erinnert Clara Nack an das Schicksal jener 25.671 Bürger aus Ländern Ex-Jugoslawiens, "die Slowenien nach der Erklärung der Unabhängigkeit am 26. Februar 1992 ohne Information aus seinen Aufenthaltsregistern löschte. Sechs Monate hatten die Menschen Zeit, einen slowenischen Pass zu beantragen - wer das nicht schaffte und alle Papiere rechtzeitig beibringen konnte, hielt sich fortan illegal in Slowenien auf. Die slowenische Bezeichnung 'Izbrisani' - die Gelöschten - beschreibt ihr Schicksal. Nur die Rückkehr in ihre Geburtsländer wie Bosnien, Serbien oder Kroatien stand ihnen noch offen. (…) Die meisten Betroffenen erfuhren erst durch Zufall von ihrem Schicksal - während Routineverkehrskontrollen etwa, bei denen sich ihr Ausweis plötzlich als ungültig erwies. Die bizarre Szene war nicht selten: von der Polizei wegen zu schnellen Fahrens angehalten, um danach aus dem Land geworfen zu werden. Manche wollten aus dem Urlaub im Ausland zurückkehren und durften die slowenische Grenze nicht mehr passieren, erzählt Ladić die Geschichten Betroffener. Am 26. Februar 1992 verloren sie alle Rechte, die sie noch am Vortag besaßen. "
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Stichwörter: Ex-Jugoslawien, Slowenien, Serbien

Gesellschaft

Laut der neuen Ausgabe des "Zivilgesellschaftlichen Lagebilds Antisemitismus" der Amadeu Antonio Stiftung erleben Juden und Jüdinnen in Deutschland seit dem 07. Oktober eine Welle des Antisemitismus wie seit Jahrzehnten nicht mehr, berichtet Yagmur Ekim Cay in der taz: "Auf der Pressekonferenz am Dienstag wies Beate Küpper, Sozialpsychologin und Professorin für Soziale Arbeit, nun darauf hin, dass jüngere Menschen in Deutschland inzwischen 'antisemitischer sind als ältere'. Es gebe außerdem bislang kaum Studien, die Aussagen über einen spezifischen Antisemitismus der muslimischen Bevölkerung erlaubten. Doch die bisherigen Hinweise ließen den Schluss zu, dass Antisemitismus unter eingewanderten Muslimen weit verbreitet sei. Die Fokussierung auf muslimische und migrantisierte Personen in der aktuellen Lage sei wichtig, dürfe aber nicht dazu dienen, 'vom Antisemitismus in der Mitte der Bevölkerung' abzulenken."

Im taz-Gespräch nimmt der Historiker Malte Holler das deutsche Bildungssystem mit in die Verantwortung: "Viele Pädagog:innen denken, dass die Beschäftigung mit der Shoah den Antisemitismus beseitigen könnte. Meiner Erfahrung nach gehört das zu den am weitesten verbreiteten Missverständnissen. Tatsächlich wird Judenhass dann oft auf seine Folgen verkürzt. Es ist aber wichtig, dass im Unterricht auch stärker über die Grundstrukturen antisemitischer Ideologie gesprochen wird. Dadurch bietet sich viel eher der Raum, die eigenen Vorurteile kritisch zu hinterfragen."

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In Deutschland dürfe man nur auf eine bestimmte Art über Israel sprechen, glaubt Deborah Feldmann, aktuelles Buch "Judenfetisch", im Gespräch mit der Berliner Zeitung: "Deutschland muss sich von der Überzeugung verabschieden, aus der Geschichte gelernt zu haben, heißt, bedingungslos zu Israel zu stehen, egal, was Israel tut. Deutschland muss umdenken. Die Lehre aus dem Holocaust sollte sein, jüdisches Leben und das Leben aller Minderheiten in diesem Land zu schützen, sodass unsere Gesellschaft zusammenhält. Deutschland muss für jüdisches Leben sorgen, nicht für israelisches Leben. Das Jüdischsein ist viel größer als Israel. Entscheidet sich Deutschland für Israel, geht das auf Kosten vieler Juden."

Im SZ-Interview mit Nele Pollatschek spricht der palästinensische Comedian Abdul Kader Chahin über den Nahost-Konflikt, aber auch darüber, was gute Integration ausmacht und warum er als Palästinenser Aufklärungsarbeit über den Holocaust leistet. Gerade palästinensische Geflüchtete haben es schwer in Deutschland meint er, er selbst wurde erst mit dreißig Jahren eingebürgert und lebte lange Zeit mit der ständigen Angst vor Abschiebung. All das rechtfertige natürlich keinen Antisemitismus. Er versucht, Verständnis auf beiden Seiten zu schaffen: "Ich versuche, Sensibilität zu schaffen in der Community. Zu sagen: Ja, wir sind Opfer, auch geopolitisch sind wir Opfer, auch vom Holocaust, der in Europa stattgefunden hat. Und das ist nicht fair. Das ist traurig. Und deshalb haben Palästinenser ihren starken Sinn für Gerechtigkeit. Aber wenn man wirklich gerecht sein will, dann muss man jegliche Perspektive anerkennen. Weil das Unrecht, das Juden angetan wurde, ist das Schlimmste, was auf dieser Erde je passiert ist."

"Der Mythos der Vorzeige-Minderheit hat uns nicht geholfen", sagt die in Vietnam geborene Autorin Hami Nguyen, die sich in ihrem Buch "Das Ende der Unsichtbarkeit" mit anti-asiatischem Rassismus auseinandersetzt, ebenfalls in der taz: "Für die weiße Dominanzgesellschaft sind wir alle gleich. Als Kind wurde ich immer als Chinesin bezeichnet. Man kann uns nicht auseinanderhalten. Und deswegen hat der Diskurs um China auch immer einen Einfluss auf mich. Auch wenn ich keine Chinesin bin, wurde ich in der Pandemie rassistisch angegriffen. Niemand hat sich in der Straßenbahn neben mich gesetzt, weil sie Angst vor dem 'Chinavirus' hatten. Das ist die Lebensrealität vieler, denen zugeschrieben wird, dass sie aus China seien."
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Ideen

Verschwörungstheorien kursieren ohnehin, aber sobald ein Krieg ausbricht, wird es nochmal abstruser, schreibt Andreas Scheiner in der NZZ. Der bekannte Verschwörungstheoretiker Axel Jones behauptete in seinem Podcast beispielsweise (neben viel anderem Haarsträubendem), die Hamas sei von Israel gegründet worden, so Scheiner. Zu Grunde liegt ein Motiv, dass sich hartnäckig hält und immer wieder aufkommt: die antisemitische Mär von der jüdischen Weltverschwörung, finanziert von der Familie Rothschild: "Er ist die Säule, auf der die grundlegenden Verschwörungstheorien fußen. Zentraler Gedanke ist, dass eine weltweit verzweigte Familie kriegerische Auseinandersetzungen provoziert, weil sie mit allen involvierten Konfliktparteien verflochten ist. Tatsächlich waren die Rothschilds vielerorts finanziell involviert. Mayer Amschel Rothschild schickte seine Söhne damals in die Welt hinaus, damit sie Geschäftsbeziehungen knüpften. Nur profitierten sie von Kriegen kaum. Im Gegenteil, Konflikte brachten wirtschaftliche Unsicherheit. Und entsprechend setzte sich die Familie vielfach für Frieden ein."
Archiv: Ideen