9punkt - Die Debattenrundschau

Entscheide dich weiterzuleben

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.12.2023. In der SZ erzählt die Psychologin Ayelet Gundar-Goshen, wie sie Überlebenden des 7. Oktober hilft. Die taz blickt auf die Wahlerfolge des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić zurück - für die EU ist das Land verloren. Die SZ fordert die Mainstream-Parteien auf, von der AfD zu lernen, zumindest in den sozialen Medien. taz und FAZ berichten über Antisemitismus an Schulen und Uni. Der Spiegel fragt: Warum verabscheuen die Polen Russland, während die Ostdeutschen Russland lieben?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.12.2023 finden Sie hier

Gesellschaft

Die Schriftstellerin und Psychologin Ayelet Gundar-Goshen betreut nach dem 7. Oktober Überlebende des Hamas-Massakers - in der SZ spricht sie mit Moritz Baumstieger über ihre Arbeit. Dabei trifft sie oft auf die sogenannte "Survivor Guilt" der Überlebenden, also das Bedauern des eigenen Überlebens beim tragischen Verlust von Angehörigen, das sie auch mit heilsamen Provokationen bekämpft: Was sie vor dem 7. Oktober gerne gemacht hat, fragt Gundar-Goshen eine Überlebende. "'Im Park joggen und dabei Taylor Swift hören.' Als ich sie bat, genau das wieder zu tun, hat sie mich angefahren: 'Was sind Sie nur für eine Frau! Da sitzen mehr als Hundert Geiseln in Gaza - und Sie empfehlen mir, Taylor Swift zu hören?' Aber ich habe ihr gesagt: Jetzt joggen zu gehen, das ist Aktivismus im Sinne der Geiseln - denn wenn du in die Depression versinkst, kannst du nicht mehr für sie kämpfen. Entscheide dich weiterzuleben, denn wenn du das nicht tust, gewinnt die Hamas. Die Schuldgefühle stecken wie Giftpfeile in unseren Herzen. Das ist tödlich - so wie der momentane Stillstand schon rein ökonomisch tödlich ist für unser Land."

Nach der UdK ist es auch an der FU zu propalästinensischen Demos gekommen, bei denen Parolen wie "From the River To the Sea..." gerufen und jüdische Studenten bedrängt wurden, berichtet Ralf Pauli in der taz. Er hat unter anderem mit dem jüdischen Studenten Lior Steiner gesprochen, für den bei Aussagen wie denen von Young Struggle die Gesprächsgrundlage ende. "'Ich bin in den Hörsaal gekommen, um mich der Debatte zu stellen', so Steiner. 'Mir ist bewusst, dass der Krieg auch auf palästinensischer Seite großes Leid hervorbringt.' Statt einer offenen Diskussion sei er aber am Eintritt in den Hörsaal behindert und als 'Zionist' beschimpft worden. Der FU wirft Steiner vor, antisemitischen Narrativen zu lange Raum geboten zu haben. Zu den Vorwürfen äußerte sich die FU gegenüber der taz zunächst nicht. Auch Steiner fordert, entsprechende Studierende zu exmatrikulieren. Allerdings erlaubt das Berliner Hochschulgesetz dies gar nicht. Die rot-rot-grüne Vorgängerregierung hatte diese Option in der jüngsten Novelle abgeschafft." Ebenfalls in der taz berichtet Luise Bartsch über eine Razzia bei der linksextremen Feministinnentruppe "Zora", die es zwar nicht mit der Hamas, aber mit der PFLP hält.

Auch an Schulen müsste gegen Antisemitismus gekämpft werden, schreibt der Lehrer Ulrich Schnakenberg in der FAZ, aber zunächst einmal stellte er im Unterricht eine gewisse Zurückhaltung fest: "Anders als nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vor eineinhalb Jahren wollten ihre Schüler diesmal nicht über die sie doch sichtlich bewegenden Horrormeldungen sprechen. Anstatt der erwarteten tausend Fragen - unnatürliche Stille. Erst auf bohrendes Nachfragen stellte sich schließlich der Grund dafür heraus: Die Eltern hatten ihren Kindern eine Schweigepflicht verordnet. Offensichtlich sollten die Lehrer nicht erfahren, wie zu Hause über den Angriff der Hamas gedacht wird." Das Dumme ist nur, wenn Lehrer das auch von Schulen verhängte Schweigegebot brechen: "Lehrkräften brandete im Klassenraum teilweise ein 'Sturm antisemitischer Hetze' entgegen; für einige ging dies bis zum Empfinden von körperlichen Schmerzen." An Gymnasien geht es allerdings ruhiger zu als an Gesamtschulen, differenziert Schnakenberg auch.
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Europa

Der serbische Nationalist und Präsident Aleksandar Vučić hat in der letzten Woche eine ganze Reihe von Wahlen in seinem Land haushoch gewonnen. Hier rächt sich eine blauäugige Politik gegenüber dem Nationalisten, die der taz-Korrepondent Andrej Ivanji unter anderem Angela Merkel, der Konrad-Adenauer-Stiftung und mit ihnen der EU vorwirft. Gebracht hat sie nichts: "Nur knapp 30 Prozent der Serben betrachten die Annäherung an die EU immer noch als eine außenpolitische Priorität. Mit sinkendem Vertrauen in die EU sank auch ihr Einfluss auf die serbische Politik. Vučić' Wähler sind ohnehin prorussisch veranlagt, sie verehren Wladimir Putin, sie klatschen laut Beifall, weil sich ihr alles bestimmender Präsident immer noch weigert, gegen Russland infolge des Überfalls auf die Ukraine Sanktionen zu verhängen. Und die prowestlich orientierten serbischen Bürger trieb der Westen mit seiner Pro-Vučić-Politik immer weiter von sich. So ist es wenig verwunderlich, dass die EU nicht die geringste Rolle in den jüngsten Wahlkämpfen spielte."

Wie kommt es, dass die Polen Russland verabscheuen und die Ostdeutschen Putin lieben, fragen die Spiegel-Redakteure Susanne Beyer und Jurek Skrobala die Historiker Maciej Górny und die Ethnologin Juliane Stückrad. Stückrad hat eine einleuchtende Antwort: Die Sympathie rühre "daher, dass sich viele Ostdeutsche im Vergleich zu den Westdeutschen immer noch als Bürger zweiter Klasse fühlen. Und diese Erzählung wird nun wiederum von Putin unterstützt, der sagt, der Westen bedrohe Russland und nur deswegen führe er Krieg. Die ostdeutschen Putin-Freunde schärfen ihre Identität an der Opposition zum Westen."

Entsetzen erregt ein neues französisches Immigrationsgesetz in der französischen Linken, berichtet unter anderem Marc Zitzmann in der FAZ. Macron habe dafür Ideen des rechtsextremen Rassemblement national übernommen: "Zu diesen 'Ideen' zählen die Einschränkung des Anrechts regulär in Frankreich lebender Ausländer auf gewisse Sozialleistungen wie Kinder- und Wohngeld und die Einstellung des automatischen Verleihs der französischen Staatsbürgerschaft an im Lande geborene Kinder ausländischer Eltern. Dabei ist die Gleichheit zwischen Franzosen und fremden Staatsbürgern (bis auf natürlich das Wahlrecht) in der Verfassung verankert und zählt das ius soli zum Grundstock der republikanischen Prinzipien."
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Medien

Der AfD sei es wie keiner anderen Partei auf Social Media gelungen eine breite Masse an Followern zu versammeln, schreibt Philipp Bovermann in der SZ. "Politiker aus FDP und SPD wackeln in Videos mit dem Hintern und machen alberne Challenges, um sich so richtig doll volksnah zu geben. Die AfD hingegen macht plattformübergreifend etwas ganz Verrücktes: Sie spricht über Politik". Dabei wäre es an der Zeit für "Gegenöffentlichkeiten zur Gegenöffentlichkeit". "Parteien werden sich nach außen und nach innen öffnen, sie werden stärker wie Bewegungen funktionieren müssen, als kommunikative Netzwerke. Diese Netzwerke brauchen klare narrative Leitlinien, klare Visionen, aber jeder Knotenpunkt, jedes Parteimitglied, jede Unterstützerin, jeder Unterstützer, muss und soll diese Vision in ihren eigenen Worten formulieren dürfen. Das klingt wüst und chaotisch, wie der Albtraum verdienter Parteifunktionäre, ohne Shitstorms wird das nicht ablaufen - aber alles ist besser, als den Feinden der Demokratie kampflos das Feld zu überlassen."

Bald werden die Menschen in ihre Suchleisten nur noch eine Frage eingeben und eine KI wird ihnen eine direkte und passende Antwort generieren, prophezeit Christian Meier in der Welt. Dieser, "in wenigen Sekunden generierte Journalismus" schüchtere gerade die Medienbranche ein, da sie fürchte, durch die Suchfunktion nicht mehr gefunden zu werden, die KI aber dennoch über ihre Daten verfüge. "Bedeutet also: Reagieren Medienunternehmen nicht auf die nächste Welle der technologischen Revolution, hin zur individuellen Nachrichtenabfrage durch Konsumenten, könnten sie weiter an Boden verlieren. Fraglos wird es weiter eine substanzielle Zahl von Menschen geben, die sich eine Zusammenstellung von Nachrichten durch menschliche Redakteure wünschen, wie etwa bei einer Zeitungsseite und Nachricht." Meier schreibt pro domo: Der Springer-Verlag hat die Flucht nach vorn angetreten und gibt für viel Geld alle seine Daten freiwillig an die Firma OpenAI mit ihrer Software ChatGPT (unser Resümee).
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Ideen

Im Freitag diskutieren Jakob Augstein und Maja Göpel, Autorin populärer Bestseller zur Klimapolitik und ehemals Leiterin der Denkfabrik "The New Institute" über die Frage, ob wir es mit einer Klimareligion zu tun haben, wie Augstein in einem polemischen Essay (nicht online) geschrieben hatte. Augstein erläutert: "Der Spiegel hat neulich den Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber interviewt. Er hält eine Kreislaufwirtschaft in schon wenigen Jahrzehnten für möglich und damit eine Rückkehr ins 'Holozän-Klima'. Herr Schellnhuber ist ein Experte, der von der Klimawissenschaft unendlich viel mehr versteht als ich, aber diese Vorstellung ist doch erkennbarer Unsinn." Göpel erwidert: "Es geht um Verantwortung. Wenn jemand im Wissen der Konsequenzen seiner Verhaltensweise für andere diese Verhaltensweise fortführt, dann trägt er dafür die Verantwortung... 'Öko-Diktatur' ist doch ein Kampfbegriff. Wenn Sie sich die großen Umfragen angucken, dann sind 80 Prozent der deutschen Bevölkerung über den Klimawandel sehr besorgt. 80 Prozent haben ein Tempolimit unterstützt. Trotzdem wurde im öffentlichen Diskurs kolportiert, dass das Freiheitsberaubung sei, und die Veränderungswilligen wurden als Lemminge tituliert."
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Politik

Auch in Syrien wird intensiv über den Holocaust nachgedacht:

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Kulturpolitik

Etwas entgeistert reagiert FAZ-Redakteur Andreas Kilb auf einen offenen Brief der südafrikanischen Künstlerin Candice Breitz an Jeanine Meerapfel, die Präsidentin der Akademie der Künste. Diese hatte sich selbst in einem Statement zwar gegen Ausschlüsse israelkritischer Künstler gewandt, aber das reichte Breitz nicht aus, "offenbar vor allem, weil ihr eigener Name darin nicht auftaucht": Nun entsteht also eine Lage, in der "die jüdischstämmige Südafrikanerin Breitz die deutsch-argentinische Jüdin Meerapfel dafür abstraft, dass diese sich nicht wie eine Interessenverbandsvorsitzende, sondern wie die gewählte Präsidentin einer Künstlervereinigung öffentlichen Rechts verhält. Wie lange will sich die deutsche Kulturszene im Zeichen einer unaufhaltsamen Polarisierung aller Diskurse eigentlich noch selbst zerlegen, ehe sie begreift, dass künstlerische Freiheit keinen Anspruch auf staatlich geförderten politischen Aktionismus begründet?"
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Religion

Buch in der Debatte

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In einer Streitschrift fordert der Kirchenrechtler Thomas Schüller eine klare Trennung von Kirche und Staat, schreibt der Soziologe Armin Pfahl-Traughber auf hpd. "Ausgangspunkt der Betrachtungen in dem Buch sind die zahlreichen, von Finanz- bis Missbrauchsskandalen reichenden Vorkommnisse. Sie führten mit zu einer kontinuierlichen Austrittswelle wie einem massiven Vertrauensverlust. Daher fragt der Autor, ob zugunsten der Kirchen bestehende Sonderrechte noch zu rechtfertigen seien: 'Trotz des augenscheinlichen Bedeutungs- und Vertrauensverlustes der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland wird ihnen vom Staat … noch zu (zu) großer Spielraum bei der Ordnung ihrer inneren Angelegenheiten eingeräumt, insbesondere was die Themenbereiche Arbeitsrecht und Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch angeht.'"
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Stichwörter: Sexueller Missbrauch