9punkt - Die Debattenrundschau

Alle Warnzeichen verdrängt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.04.2024. Vor dreißig Jahren begann der Völkermord in Ruanda - und Deutschland hat es noch immer nicht geschafft, die eigenen Rolle im Konflikt aufzuarbeiten, ruft die Zeit. hpd.de berichtet mit Sorge davon, wie britische Behörden vor radikalen Islamisten zurückweichen. Die NZZ befürchtet, dass das schottische Hate-Speech-Gesetz nur der Anfang einer weltweiten Einschränkung der Meinungsfreiheit ist. Die FR ist im Kulturkampfmodus und teilt gegen Susanne Schröter und Ahmad Mansour aus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.04.2024 finden Sie hier

Geschichte

Vor dreißig Jahren begann der Genozid in Ruanda. Andrea Böhm erinnert in der Zeit an das "Totalversagen der internationalen Gemeinschaft", die aufgrund von Fehleinschätzungen oder Feigheit nicht einschritt. Während allerdings Länder wie Frankreich und die USA ihre verhängnisvolle Rolle aufgearbeitet haben, hat Deutschland das bisher versäumt, so Böhm. Nicht nur, dass die Vorstellung der Überlegenheit bestimmter "Rassen" maßgeblich durch die deutschen Kolonialherren eingeführt wurde, wie Böhm anmerkt. Auch während des Konflikts agierte Deutschland verantwortungslos - beziehungsweise gar nicht: "Nicht dass damals irgendjemand eine federführende politische Intervention des gerade wiedervereinigten Deutschland erwartet oder gefordert hätte. Aber die Vehemenz, mit der alle Warnzeichen verdrängt oder ignoriert wurden, überrascht dann doch. Die Hasspropaganda ruandischer Medien gegen 'Tutsi-Kakerlaken' wurde in den Berichten der deutschen Botschaft entweder nicht erwähnt oder heruntergespielt. Der damalige Botschafter Dieter Hölscher meldete vielmehr eine 'zunehmend belebte Presselandschaft' an das Auswärtige Amt. Das wiederum weigerte sich noch im Sommer 1993, eine 'staatliche Verfolgung bestimmter Personengruppen' zu bestätigen. Da lagen längst Berichte über systematische Vergewaltigungen von Tutsi-Frauen durch Hutu-Soldaten und Erschießungen von Tutsi vor. Entwicklungshelfer hatten gewarnt, Bundeswehroffiziere über Struktur, Stützpunkte und Pläne der Hutu-Miliz der Interahamwe berichtet."
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Europa

Gestern frohlockte Can Dündar (SZ) noch angesichts der Kommunalwahlen in der Türkei (Unser Resümee), heute fragt er sich nüchtern, was Erdogan unternehmen könnte, um die "Gunst" seiner Wähler zurückzugewinnen: "Wird Erdogan erneut den Trumpf der Sicherheit ausspielen und den Massen, denen er wirtschaftlich nichts versprechen kann, sagen: 'Ihr hungert zwar, aber ihr lebt in Sicherheit'? Wird er seine schwindende Popularität mit einer größeren Militäroperation im Irak und mit einem Aufruf zur Einheit stärken? Oder wird er seinen früheren liberalen Anstrich auffrischen, bevor er im Westen anklopft, um die leere Staatskasse aufzufüllen? Werden die politischen Gefangenen, die er seit Jahren hinter Gittern festhält, bald freikommen? Werden wir noch vor den für 2028 angesetzten allgemeinen Wahlen in eine demokratische Türkei heimkehren können?"

Mit Sorge berichtet Moritz Pieczewski-Freimuth bei hpd.de über das Zurückweichen britischer Behörden gegenüber einem radikalen Islamismus. Der Abgeordnete Mike Freer, der einen Wahlkreis mit starker jüdischer Bevölkerung vertrat, seine Solidarität erklärte und überdies offen homosexuell lebt, hat inzwischen seinen Abschied aus der Politik verkündet. Aber das Phänomen hat größere Ausmaße: "Bemerkenswert ist die regelrechte Selbstsicherheit der Judenfeinde, die sich größtenteils aus islamischen Extremisten, pro-palästinensischen Aktivisten und Linksidentitären rekrutieren: Mal überklebt man den Davidstern der Amy-Winehouse-Statue mit einem Palästina-Sticker, dann wird das Holocaustarchiv als 'feindliches' Gebäude mit roter Farbe markiert. Hier hissen Islamisten auf pro-palästinensischen Demonstrationen Fahnen mit dem islamischen Glaubensbekenntnis ('Schahada'), die als Erkennungsmerkmal des Islamischen Staates oder der Hizb ut-Tahrir gelten, dort setzt der Mob unter antisemitischen Parolen ein Wohnhaus in Brand. Hetzjagden auf Juden scheinen mittlerweile zum tragischen Alltag Londons zu gehören."

Das neue Gesetz gegen "Hate Speech" (Unser Resümee), das in Schottland verabschiedet wurde, könnte erst der Anfang einer weltweiten Einschränkung der Meinungsfreiheit sein, befürchtet Peter Rásonyi in der NZZ. Doch "die linke Koalition aus schottischen Nationalisten, der Labour-Partei und Liberaldemokraten, die das Gesetz verabschiedete, ist nicht allein. Auch im seit 14 Jahren von den Konservativen geführten England nehmen die Bestrebungen zur Einschränkung der freien Rede zu. So kündigte der Minister Michael Gove unlängst die Schaffung einer schwarzen Liste an, auf der extremistische Gruppierungen und Nichtregierungsorganisationen aufgeführt werden sollen, die keinen Kontakt zur Regierung mehr haben dürfen. Was als extremistisch gilt, bleibt unklar und der Interpretation der Ministerialbürokratie überlassen."
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Ideen

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Buch in der Debatte

In der FR teilt Lukas Geisler kräftig gegen die Ethnologin Susanne Schröter und ihr Buch "Der neue Kulturkampf" aus. Als "zumindest in Teilen rechtsextrem" sieht Geisler Schröters Positionen an, die unter anderem vor einer Infiltrierung von Gesellschaft und Politik durch den "Wokismus" warnt - und dabei, laut Geisler, rassistische und antisemitische Verschwörungstheorien bedient:  "Wer erzählt, dass es sogenannten Woken gelungen ist, in großen Bereichen 'der Wissenschaft, der Medien und des Kultur- und Bildungsbereichs die Diskurshoheit zu erlangen' und dass eine Minderheit dadurch die Mehrheit dominiere, der vertritt - so ließe es sich interpretieren - im Endeffekt die nationalsozialistische Verschwörungserzählung des sogenannten Kulturmarxismus. Dieser ist nicht nur ein politisches Schlagwort der US-amerikanischen 'Alt-Right'-Bewegung, auch der rechtsextreme Terrorist Anders Breivik gab an, dass er sein Land vor ebenjenem Kulturmarxismus schützen wolle. Nun gibt es scheinbar eine neue Chiffre für die alte Erzählung: 'Wokismus'."
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Gesellschaft

In der FR wettert Moritz Post gegen Ahmad Mansour, Anlass ist ein Porträt Mansours in der ARD: An einer differenzierten Debatte sei der Islamkritiker nicht interessiert, behauptet Post, sondern betätige sich nur als "nützlicher Gehilfe des rechten Kulturkampfs": "Er widerspricht zwar auf der Oberfläche den Äußerungen und Wertungen von Rechtspopulisten wie Reichelt. Doch sorgt gleichzeitig dafür, dass die Debatte eindimensional bleibt. Die undifferenzierte Verknappung von Argumenten rund um den Themenkomplex 'politischer Islam' (Was soll das eigentlich sein?) ist dabei ein Stilelement von Mansour, mit dem er sich gerne im Fokus der Aufmerksamkeit hält."

Ende Dezember hatten die Rechtsprofessorinnen Frauke Rostalski ("Die vulnerable Gesellschaft") und Elisa Hoven, in der FAZ für härtere Strafen bei Sexualdelikten plädiert: "Ein Strafurteil ist auch ein kommunikativer Akt gegenüber der Öffentlichkeit. Der Staat tritt dem Rechtsbruch angemessen missbilligend entgegen, macht das Maß des Unrechts deutlich und stabilisiert damit den gesellschaftlichen Konsens über die Einhaltung der geltenden Verhaltensregeln. Weichen die Strafvorstellungen von Bevölkerung und Gerichten zu weit voneinander ab, kann das zu einem Verlust des Vertrauens in die Strafjustiz als verlässliche Instanz sozialer Kontrolle gegenüber Normverstößen führen", schrieben die beiden. In der SZ fragt jetzt Ronen Steinke, ob damit nicht der "Stammtisch" ermutigt werde: "Natürlich kann man allgemein vor einem 'Verlust des Vertrauens in die Strafjustiz' warnen, wie es die Professorinnen Hoven und Rostalski tun wollen, wenn der Stammtisch und das Richterzimmer sich allzu sehr entfremden. Aber wenn die Gerichte tatsächlich wieder stärker auf Stimmungen in der - deutschen - Bevölkerung reagieren würden, dann sollte man vielleicht nicht erwarten, dass es dadurch fortschrittlicher wird. Feministisch schon gar nicht."
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Medien

Die Berliner Zeitung trägt gerade eine Fehde mit dem Konkurrenzinstitut aus dem Westen, dem Tagesspiegel, aus, und verriet dabei auch ein kleines Geheimnis über die Berechnung von Auflagenzahl (unser Resümee). Das Epaper des Tagesspiegels werde mit 54.300 Exemplaren in die "harte Auflage" eingerechnet, das sei aber dubios, so die Berliner Zeitung. Dazu macht Stefan Niggemeier in den Uebermedien folgende Anmerkung: "Wie hoch die Auflage der Berliner Zeitung ist, ist unbekannt: Ihr Verleger Holger Friedrich hat sie aus der unabhängigen Zählung der IVW vor zweieinhalb Jahren herausgenommen. Vorausgegangen war ein jahrelanger Absturz - die Auflage der Berliner Zeitung war noch schneller gesunken als die der örtlichen Konkurrenz. Der Tagesspiegel steht im Vergleich mit seinen direkten Konkurrenten nach allem, was man weiß, am wenigsten schlecht da."
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Kulturpolitik

In der SZ fasst Peter Richter den Streit um die Potsdamer Garnisonkirche zusammen (mehr hier). Die Kritik am Wiederaufbau durch die Gruppe um den Architekten Philipp Oswalt kann er zwar nachvollziehen, aber "inzwischen beschwören leider linke Kritiker den vermeintlichen 'Geist von Potsdam' fast obsessiver als die rechten Anhänger des Preußenerbes selber - so als wäre das ein ortsansässiges Gespenst, das zwanghaft im Morgennebel aus den Seen steigt. Solche Potsdam-Phobien haben leider selbst etwas raunend Essentialistisches. Auch was die 'Remigrations'-Konferenz in diesem Landhaus bei Potsdam neulich betrifft, folgende These: Wenn der angestrebte Regierungssitz noch in Bonn läge, hätte die stattdessen auf irgendeiner Feinschmeckerburg in NRW stattgefunden. Von dort, aus einer Bundeswehrkaserne in Iserlohn, kam schließlich auch die Idee, die Potsdamer Garnisonkirche einst wieder aufzubauen und mit ihrem Glockenspiel schon mal anzufangen."
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Politik

Welt-Redakteur Clemens Wergin findet die Aufregung über Israels Angriff auf einen Teil des iranischen Botschaftskomplexes in Damaskus ziemlich scheinheilig (gestern haben wir zwei entsprechende Kommentare zitiert). Und schon gar nicht darf sich der Iran über Verletzungen des Völkerrechts aufregen: "Der Iran führt einen offen erklärten Krieg zur Auslöschung Israels und unterstützt derzeit den Krieg der Hamas und der Hisbollah gegen den jüdischen Staat sowohl finanziell wie auch mit Waffen. Und die Militärs, die diesen Krieg von Seiten des Iran führen und koordinieren, stellen natürlich ein legitimes militärisches Ziel dar, egal ob Teheran ihnen die Maske der Diplomatie aufsetzt oder nicht. Auf dieses durchsichtige Manöver sollten deshalb weder Medien noch Politiker hereinfallen."
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Stichwörter: Iran, Völkerrecht, Hamas