9punkt - Die Debattenrundschau

Die Grenzen unseres Handelns

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.05.2024. In der taz erzählt die mexikanische Journalistin Teresa Montaño, wie es ist, vom eigenen Staat entführt zu werden. Was die Lautstärke des Schweigens betrifft, da dürften die Islamverbände einen Rekord halten, meint Spiegel online. Es ist nicht so sehr die Frage, ob Iwan Iljin ein Faschist war, sondern wie seine Philosophie Putin beeinflusst, meint die NZZ. Warum gibt es in Baden-Württemberg Religions- aber nicht Ethikunterricht, fragt hpd.de. Und Macron wiederholt: Bodentruppen nicht ausgeschlossen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.05.2024 finden Sie hier

Europa

Emmanuel Macron wiederholt in einem Economist-Interview, dass er europäische Bodentruppen in der Ukraine nicht ausschließt, falls Russland große Geländegewinne macht. Der Economist resümiert selbst: "Macron weigert sich, von seiner Erklärung vom Februar abzurücken. ... Sie rief bei einigen seiner Verbündeten Entsetzen und Wut hervor, aber er besteht darauf, dass ihre Zurückhaltung Russland nur ermutigen wird, weiterzumachen: 'Wir waren zweifellos zu zögerlich, als wir jemandem, der keine Grenzen mehr hat und der der Aggressor ist, die Grenzen unseres Handelns aufgezeigt haben.'" Das Macron-Interview ist hier in Le Monde auf englisch zusammengefasst.

"Ein halbes Jahrhundert nach der 'Nelkenrevolution' drohen die demokratischen Errungenschaften, die sie damals so eindrucksvoll erkämpfte, in ganz Europa verspielt zu werden", fürchtet Richard Herzinger, der in seiner Perlentaucher-Kolumne an das "Pathos der Freiheit" erinnert, das Portugal und dann Griechenland und Spanien aus dem Zugriff der Diktatoren befreite: "In der trügerischen Gewissheit, die liberale Ordnung sei nunmehr alternativlos, ist in den europäischen Gesellschaften die kollektive Erinnerung daran verblasst, welches grauenvolle Unheil Diktaturen bis ins späte 20. Jahrhundert hinein über den Kontinent gebracht haben - und welch ungeheurer Anstrengungen es bedurfte, sie endlich vollständig zu beseitigen."
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Medien

Die taz bringt zusammenen mit "Reportern ohne Grenzen" eine Beilage zum Tag der Pressefreiheit (Editorial). Unter anderem interviewt Sandra Rosas die mexikanische Investigativjournalistin Teresa Montaño, die zu staatlicher Korruption ermittelt und erzählt, wie sie entführt wurde, wieder freikam und vor allem, wie ihr ihre Unterlagen und ihr Handy mit allen Kontaktnummern gestohlen wurden, so dass sie völlig neu anfangen musste. Und wer staatlich verfolgt werde, könne eigentlich "nirgendwo hingehen, ich ziehe ständig von Ort zu Ort. Meine Entführung wurde nie aufgeklärt, es wurde nie jemand festgenommen. Die Entführer haben mir selbst gesagt, dass sie mit der Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten. Ich glaube das, denn es gab kein Interesse, den Fall aufzuklären. Die Entführer bedrohten mich mit dem Tod, ich sollte absolut sicher sein, dass sie mich holen würden. Deshalb ziehe ich ständig um."
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Stichwörter: Mexiko, Pressefreiheit

Geschichte

Das NS-Dokumentationszentrum München thematisiert in der Ausstellung "Rechtsterrorismus - Verschwörung und Selbstermächtigung - 1945 bis heute" die Kontinuität des rechtsextremen Terrorismus in Deutschland seit 1945, berichtet Chris Schinke in der taz. Es geht etwa um die NSU-Morde, die von Polizei und Medien lange Zeit einer angeblichen türkischen Mafia und sogar Angehörigen in die Schuhe geschoben wurden. Und um Halle. "Der Türrahmen des Synagogen-Eingangs von Halle hielt im Jahr 2019 dem Sprengsatz und dem Beschuss des Attentäters stand und verhinderte den geplanten Massenmord in der Synagoge. Für die Rechtsterror-Schau wurde der originale Türrahmen an den Münchner Ausstellungsort verbracht. Wie ein paar Zentimeter Holz allein einem noch weit schlimmeren Tatausgang im Wege standen, davon lässt das NS-Dokuzentrum so ein eindrückliches Bild entstehen. Auch das Massaker von Utoya und der Mordanschlag auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch finden Eingang in die thematisch überaus dichte Zusammenstellung."

In der NZZ stellt Ulrich M. Schmid den russischen Philosophen Iwan Iljin (1883-1954) vor, der Putins imperialistische Politik maßgeblich beeinflusst. Schlimm genug, aber ist er ein Faschist, wie der Historiker Timothy Snyder 2018 in der New York Review of Books erklärte? Jein, denkt sich Schmid. "Snyder stützt sich auf Iljins 'Briefe über den Faschismus' aus den Jahren 1925 und 1926, die er nach einer Italienreise verfasst hatte. In der Tat finden sich hier anerkennende Worte über den italienischen Faschismus, wohlgemerkt zu einer Zeit, als der Mord der Schwarzhemden am Sozialisten Giacomo Matteotti eine bekannte Tatsache war. Allerdings verschweigt Snyder in seiner Analyse, dass Iljin seine 'Briefe' in der Zeitschrift des liberalen Publizisten Peter Struve publizierte. Außerdem zitiert Snyder aus Iljins Artikel 'Über den russischen Faschismus' aus dem Jahr 1928 folgende Definition: 'Der Faschismus ist ein rettender Exzess einer patriotischen Willkür.' Jedoch unterschlägt Snyder Iljins nächsten Satz: 'Darin liegt sowohl seine Begründung als auch seine Gefährlichkeit.'" Es ist bei Iljin wie mit allem in Putins System, meint Schmid: Links und rechts haben keine Bedeutung mehr. Die russische Herrschaft "bedient sich eklektisch jener Elemente, die ihr nützen, und kümmert sich weder um den Herkunftskontext noch um die eigene ideologische Kohärenz". Mehr zu Iljin hier und hier.
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Politik

Die Debatte um Abtreibungsrechte wird einer der entscheidenden Faktoren der amerikanischen Wahlen 2024 sein, prophezeit die Amerika-Expertin Annika Brockschmidt in der taz. Das Dumme ist, dass die Republikaner hier in einem Zwiespalt sind, denn die Verbotsträume der Extremisten sind so radikal, dass sie sogar die republikanischen Wählerinnen abschrecken. Um die Debatte um ein Verbot zu umgehen, könnte man aber ein uraltes Gesetz wiederbeleben, so Brockschmidt: "Als 'Comstock Act' werden eine ganze Reihe von Gesetzen bezeichnet, die nach Anthony Comstock, einem religiösen Fanatiker, benannt sind. Der 'Comstock Act' verbietet den Versand 'obszöner' Materialien per Post. (...) Führende Stimmen der amerikanischen Rechten wollen den Comstock jetzt anwenden, um den Versand von Abtreibungspillen zu verbieten. Einer von ihnen ist Jonathan Mitchell, bis 2015 Republikaner-Generalanwalt von Texas, seitdem eine führende Stimme des juristischen Flügels der amerikanischen Rechten und Autor des drakonischen Abtreibungsverbots aus Texas von 2021, das auf Helfer ein Kopfgeld von 10.000 Dollar ausgesetzt hat. Er erklärte laut der New York Times: 'Wir brauchen kein landesweites Verbot, wenn wir Comstock haben.'"

Total sauer ist der Iran über die BBC-Dokumentation "Nika' Last Breath", die  erzählt, wie die 16-jährige Nika Schakarami im Kontext der "Frau Leben Freiheit"-Proteste gegen den Kopftuchzwang von der Sittenpolizei vergewaltigt und ermordet wurde. Laut einem dpa-Ticker in der FAZ plant die "iranische Staatsanwaltschaft juristische Schritte. Nach Angaben der Tageszeitung Shargh hat die Staatsanwaltschaft iranische Journalisten und Aktivisten, die den BBC-Bericht veröffentlicht oder im Internet gepostet haben, vorgeladen. Auf ihrem Webportal Mizan bezeichnete die Justiz den Bericht als 'große Lüge', mit der die BBC ihren internationalen Kredit verspielt habe.

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Gesellschaft

Nicole Dreyfus versucht in der Jüdischen Allgemeinen das Trauma zu bescheiben, das sie und die jüdische Community weltweit seit dem 7. Oktober zu verarbeiten haben: "Es sind nicht nur sieben Monate vergangen, seit die Hamas im Süden Israels einfiel und massenhaft Menschen folterte, ermordete oder in Geiselhaft nahm. Genauso lange ist es auch her, dass der Antisemitismus - wieder und immer noch - in seinen wildesten Auswüchsen grassiert und sich Juden an vielen Orten nicht mehr sicher fühlen. Angefangen an Orten, wo sie sich zu Hause wähnten."

Im Grunde ist es schon erstaunlich, was Werner Koch auf der Humanisten-Seite hpd.de berichtet. In Baden-Württemberg werden Schülern zwei Religionsstunden pro Woche angeboten. Aber jenen, die nicht daran teilnehmen, wird kein entsprechender Ethikunterricht geboten, obwohl darauf laut Schulgesetz ein Anspruch zu bestehen scheint. Während der Staat den einen die Bibeln und Gesangsbücher kauft und die Lehrer bezahlt, bekommen die anderen nichts. "Die Stellungnahme des Kultusministeriums hat es bestätigt: Obwohl die Landesregierung seit vielen Jahren verspricht, neben dem konfessionellen Religionsunterricht endlich auch an den Grundschulen des Landes das 'Ersatzfach' Ethik einzuführen, ist sie dazu nicht wirklich bereit: Die notwendigen Voraussetzungen werden planmäßig sabotiert; für zusätzliche Lehrkräfte wird kein Geld eingeplant; das Kultusministerium nennt nicht einmal einen Zeitplan, wann Ethik an den Grundschulen eingeführt werden soll."

In den letzten Tagen gab es viel Aufregung um die Hamburger Demonstration für ein Kalifat. Wer schwieg? Die großen muslimischen Verbände, Ditib oder der Zentralrat der Muslime, ärgert sich Katrin Elger bei Spon. "Eigentlich sollten die muslimischen Verbandschefs in heller Aufregung sein. Sie sollten runde Tische gegen Extremismus einrichten und Strategien entwerfen, wie sie muslimische Jugendliche besser erreichen können. Viele der Freitagspredigten sind zum Einschlafen und haben keinerlei Berührungspunkte mit der Lebenswelt junger Muslime in Deutschland. Es ist kein Wunder, dass Islamisten in Hoodies ihre Botschaften leicht an den Mann bekommen. Für die offiziellen Vertreter der muslimischen Glaubensgemeinschaften in Deutschland gäbe es viel zu tun. Stattdessen diese große Stille. Ein Schweigen, das nicht nur irritierend ist, sondern auch gefährlich."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

In was für einer Zeit leben wir? Der Ära eines neuen Kalten Krieges (Robin Niblett)? Am Rande eines Dritten Weltkrieges (Niall Ferguson)? Im Zeitalter der Revolutionen (Fareed Zakaria)? Des Unfriedens (Mark Leonard)? Der AI (Henry Kissinger)? Des starken Mannes (Gideon Rachman)? Der Gefahr (Bruno Maçães)? An allem könnte etwas dran sein, meint Timothy Garton Ash im Guardian. Aber natürlich wiederholt sich Geschichte nie 1:1 und der menschliche Faktor spielt nach wie vor eine bedeutende Rolle, so Ash mit einer Verbeugung Richtung Selenski. "Die von mir festgestellte Interpretationskakophonie ist selbst symptomatisch für die Tatsache, dass wir uns in einer neuen Periode der europäischen und globalen Geschichte befinden, in der alle nach neuen Orientierungen suchen. Auf die Nachkriegszeit (nach 1945) folgte die Zeit nach dem Mauerfall, die jedoch nur vom 9. November 1989 (Fall der Berliner Mauer) bis zum 24. Februar 2022 (Einmarsch Russlands in die Ukraine) andauerte. In der Geschichte wie in der Romantik sind die Anfänge wichtig. Was in den fünf Jahren nach 1945 geschah, prägte die internationale Ordnung für die nächsten 40 Jahre - und in mancher Hinsicht, wie der Struktur der UNO, bis heute. Was wir also jetzt tun, indem wir zum Beispiel der Ukraine den Sieg ermöglichen oder sie verlieren lassen, wird den Charakter der neuen Ära entscheidend prägen. Die wichtigste Lektion der Geschichte ist, dass es an uns liegt, sie zu gestalten."
Archiv: Ideen
Stichwörter: Ash, Timothy Garton