9punkt - Die Debattenrundschau

Von Otto bis Pippi

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.08.2023. Putins Überfall auf die Ukraine dauert nunmehr 18  Monate, der Krieg hat sich festgefressen. Die taz bringt ein kleines Dossier zur Lage: 90 Prozent der Ukrainer sind fest entschlossen, diesen Krieg zu gewinnen, aber das gelte leider nicht für 90 Prozent der übrigen Europäer. Ist Österreich Russlands "nützlicher Idiot" in Europa? Und ob, meint die NZZ. Wer ist schuld am Aufstieg der AfD: Die Konservativen, meint Jan-Werner Müller in der Zeit, das Thema Einwanderung, meint Thomas Petersen aus Allensbach in der FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.08.2023 finden Sie hier

Geschichte

Ukrainische Schriftsteller ließ Stalin am 3. November 1937 gesondert hinrichten, erinnert Ulrich M. Schmid in der NZZ. Erlebte die ukrainische Sprache unter Lenin noch einen Aufbruch, war damit unter Stalin schnell Schluss: "mit der Konsolidierung von Stalins Macht begann sich das Zeitfenster für die kulturelle Autonomie in der Ukraine zu schließen. Stalin warnte den Chef der ukrainischen KP Kaganowitsch in einem Brief vom April 1926 vor den Folgen einer übertriebenen 'Einwurzelungspolitik' der bolschewistischen Herrschaft in den nichtrussischen Republiken." Ukrainische Schriftsteller wurden 1937 auf die Solowki-Inseln im Weißen Meer deportiert und dort hingerichtet. "Nun könnte man glauben, dass die Entdeckung von Sandarmoch den Weg für eine Aufarbeitung frei machen würde. Nicht so in Russland. Im Jahr 2016 behaupteten zwei Geschichtsprofessoren der Universität Petrosawodsk, dass sich in den Massengräbern von Sandarmoch sowjetische Kriegsgefangene befänden, die von finnischen Soldaten hingerichtet worden seien." Der Entdecker der Gräber, Memorial-Aktivist Dimitriew, sitzt mittlerweile im Gefängnis. 

Ist Österreich Russlands "nützlicher Idiot" in Europa? Und ob, meint Meret Baumann in der NZZ. Allen sind die Bilder der österreichischen Außenministerin im Kopf geblieben, die mit Putin auf ihrer Hochzeit tanzt. Oder der "verheerende" Besuch von Kanzler Nehammer in Moskau vor gut einem Jahr - wo er nichts erreichte, außer dem Bild eines geeinten Westens zu schaden. Gründe für Österreichs "Neutralität" sieht Baumann in der Geschichte des Landes: Neutralität war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs "der Preis, den Moskau für die Wiederherstellung der Unabhängigkeit verlangte. Österreich entging so einem Schicksal hinter dem Eisernen Vorhang. Es begann ein rascher und nachhaltiger Aufschwung, den man mit der Unabhängigkeit und der Neutralität verband, die, obwohl auferlegt, identitätsstiftend wurde. Im Verhältnis zu Russland bedeutete das zum einen eine gewisse Dankbarkeit, hatte man mit Moskau doch stärker um die Souveränität ringen müssen als mit den westlichen Alliierten." Die Zeiten sind allerdings vorbei - man muss nicht jeden auf seiner Hochzeit tanzen lassen.
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Gesellschaft

Wenn es einen Rechtsruck gibt, dann ist das die Schuld der bürgerlichen Rechten, meint der Politologe Jan-Werner Müller in der Zeit: "Anders als es das Bild einer vermeintlich unaufhaltsamen populistischen 'Welle' suggeriert, haben sich - darauf hat der amerikanische Politikwissenschaftler Larry Bartels hingewiesen - die Meinungen zu sensiblen Fragen wie Flüchtlingspolitik und Euro in den meisten Teilen Europas in den vergangenen Jahren kaum verschoben. Was sich verschoben hat: die Haltung von etablierten konservativen Eliten, die seit einigen Jahren viel eher bereit sind, mit Rechtspopulisten zu koalieren oder zumindest deren Rhetorik zu kopieren."

Trockener, aber vielleicht stichhaltig, liest sich eine Analyse, die Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach in der FAZ vorlegt. Man habe zunächst durch gezielte Fragen herausgefunden, dass nicht alle AfD-Wähler als gefestigt rechtsextrem gelten dürfen. Dann hat man den Befragten die Frage gestellt, welche gesellschaftlichen Entwicklungen ihnen die größten Sorgen bereiten: "Nicht ausgeprägt rechte AfD-Anhänger sagten zu 87 Prozent, es mache ihnen große Sorgen, dass immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen, 31 Prozentpunkte mehr als bei der Gesamtbevölkerung, 73 Prozent zeigten sich sehr besorgt darüber, 'dass Gewalt und Kriminalität zunehmen', das sind 22 Prozentpunkte mehr als bei den Befragten insgesamt. Angesichts der Deutlichkeit dieses Ergebnisses kann man als sicher annehmen, dass in der Einwanderungspolitik und im hiermit verbundenen Thema der inneren Sicherheit ein Schlüssel zum Verständnis des Aufstiegs der AfD liegt." Lesenswert heute auch die Seite 3 der SZ, die zwei Mitarbeiter von "Demos - Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung" begleitet, während sie zwischen rechten und linken Dörflern zu vermitteln suchen.

In der FAZ schreibt Claus Leggewie über die "Aryan Brotherhood", die sich in den Sechzigerjahren im San Quentin State Prison in Kalifornien gründete. "Aryan Brotherhood ist gewissermaßen der Knast-Ableger eines weitverzweigten, unter diversen Phantasienamen verbreiteten arisch-nazistischen Komplexes, den Donald Trump beim Aufmarsch weißer Suprematisten in Charlottesville 2017 als 'sehr feine Menschen' gewürdigt und im Januar 2021 unmissverständlich zum Marsch auf das Capitol animiert hat. Amerika soll frei sein von Nichtweißen, Juden und Schwulen. Die heutigen Protagonisten - Proud Boys, Oath Keepers, Threepercenters und QAnon - beerben ältere neonazistische Gruppen wie den Ku-Klux-Klan; zu ihnen stießen gewaltbereite Christen. Die Liste der Anschläge auf Abtreibungskliniken, Synagogen und Antifaschisten ist lang. Ihr Ruf reicht bis nach Thüringen und Hessen - und in die Hirne vermeintlicher Einzeltäter, die arische Botschaften aus dem Internet empfangen und sich zu Mordanschlägen hinreißen lassen."

Das ständige Stochern von Sprachpolizisten in Werken vergangener Epochen engt für Philip Eppelsheim in der FAZ den Blick auf unsere eigene Geschichte ein: "So wie echter Rassismus verharmlost wird, indem man von Otto bis Pippi alles unter Rassismusverdacht stellt, so wird auch Geschichtsvergessenheit forciert, wenn etwa Bücher nicht mehr klingen dürfen, wie es in ihrer Entstehungszeit oder in der Zeit, in der sie spielen, üblich war. Ein eindringliches Beispiel hierfür ist die Diskussion über 'Tauben im Gras' von Wolfgang Koeppen. Für Marcel Reich-Ranicki war der 1951 erschienene Roman große Literatur, künstlerisch der beste deutsche Roman seiner Zeit und seiner Generation. Nun, mehr als siebzig Jahre später, soll auch dieses Buch rassistisch, sexistisch und antisemitisch sein."

"Alle gewinnen, wenn geschlechtliche und sexuelle Vielfalt anerkannt werden", meint der Historiker Benno Gammerl, der gerade eine queere Geschichte Deutschlands von 1871 bis heute veröffentlicht hat, im Interview mit der SZ über das neue Selbstbestimmungsgesetz. Für ihn reiht es sich ein in eine lange Kette gesellschaftlicher Fortschritte: "Konservative haben in den Siebzigern behauptet, das Transsexuellengesetz werde das Sozialsystem zum Einsturz bringen. Damals war das Renteneintrittsalter für Frauen niedriger als für Männer. Man hat gesagt, Männer würden plötzlich einen Transitionsprozess durchmachen, um ein paar Jahre früher in Rente gehen zu können."

In der Welt warnt hingegen Deniz Yücel: "Erstmals in der bundesdeutschen Geschichte soll eine sexualpolitische Reform beschlossen werden, mit deren Regelungen der Gesetzgeber nicht einem allgemeinen Wandel gesellschaftlicher Normen Rechnung trägt. Vielmehr wollen die Koalitionspartner ein Gesetz durchpeitschen, ohne Rücksicht auf die Einwände zu nehmen, die von höchst unterschiedlichen Seiten vorgetragen werden."
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Europa

Putins Überfall auf die Ukraine dauert nunmehr 18  Monate, der Krieg hat sich festgefressen. Die taz bringt ein kleines Dossier zur Lage. "Die Ukrainer*innen sind entschlossen durchzuhalten", schreibt Barbara Oertel im Editorial, "die überwiegende Mehrheit (laut jüngsten Umfragen 90 Prozent) ist nicht bereit, auch nur einen Zentimeter Boden abzutreten und ihre Menschen, die jetzt unter russischer Besatzung leben müssen, aufzugeben." Aber im Westen bröckle die Unterstützung, "das Verständnis und die Geduld vieler, und das nicht nur in Deutschland, scheinen schon jetzt endlich zu sein. Kriegsmüdigkeit, Unsicherheit und Verteilungskämpfe nehmen zu. Vor allem auch ukrainische Geflüchtete bekommen das bereits zu spüren."

In dem Dossier wirft Margarita Liutova von Meduza einen Blick auf die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage in Russland.  Der Militärexperte Franz-Stefan Gady spricht über den Verlauf der ukrainischen Gegenoffensive, deren enttäuschendes Ergebnis Dominic Johnson in einem weiteren Artikel so benennt: "315 Quadratkilometer in 80 Tagen".

In Frankreich tobt eine Debatte um den Rapper Médine. Dieser hat auf X die jüdische Aktivistin Khan antisemitisch beleidigt. Das gibt er aber nicht zu, schreibt Lucien Scherrer in der NZZ. "Dazu passt, dass er Antisemitismus und 'Islamophobie' gleichsetzt - eine Anmaßung, mit der sich Islamisten gegen Kritik zu immunisieren versuchen. Dabei hat gerade der von Médine geförderte religiöse Separatismus dazu geführt, dass sich Homosexuelle, unverhüllte Frauen und Juden in islamisch geprägten Quartieren nicht mehr sicher fühlen können. Die Dutzende jüdischen Frauen, Kinder und Männer, die in den letzten Jahren in Frankreich getötet wurden, waren Opfer von Islamisten." Währenddessen wurde er von den französischen Grünen und der Partei von Mélenchon zu deren jeweiligen Parteitagen eingeladen. Beide verweisen dabei auf "Intersektionalität".
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Stichwörter: Intersektionalität

Politik

"abhs" kommt in einem Leserkommentar im Perlentaucher noch einmal auf die Vokabel "Apartheid" zurück, die nun nicht mehr nur von wohlgesinnten Intellektuellen in Europa und Amerika, sondern auch von eher als moderat eingeordneten israelischen Intellektuellen auf Israel gemünzt wird. Verfochten wird sie auch in dem aktuellen Aufruf "The Elephant in the Room" meist israelischer oder amerikanischer Geisteswissenschaftler: "Im Gegensatz zum Apartheidssystem dient der israelische Staat nicht der Ausbeutung als minderwertig klassifizierter Menschen, sondern als Heimstatt, das heißt modisch ausgedrückt: als safe space für Juden... Auch wenn Amos Goldberg und seine Mitstreiter die besten Absichten haben mögen, ihre Radikalisierung aus der innerisraelischen Dynamik heraus verständlich sein mag und es sicher unsinnig wäre, sie als Antisemiten oder Antizionisten abzuqualifizieren, reflektieren sie nicht ausreichend, dass sie den israelischen Staat faktisch verwerfen, indem sie sich den Apartheidsvorwurf zu eigen machen."
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Medien

"Ein neuer Typ Content-Manager" setzt in den Anstalten der ARD zum Kahlschlag an, warnt Hannes Hintermeier, der in der FAZ die Programmreform beim Bayerischen Rundfunk unter die Lupe nimmt. Dem bisherigen Sendeschema im Radio geht's an den Kragen. Die ARD will Kompetenzzentren gründen, um Redundanzen zu reduzieren, das ganze wird dann als Podcast bei Spotify platziert, so scheint deren Vision: "In einem anonymen Aufruf wird Stefan Maier, der Programmbereichsleiter von Bayern 2, zitiert, der die Frage aufgeworfen habe, ob ein Film oder ein Buch von neun Landesrundfunkanstalten besprochen werden müsse. Die Antwort, dass ein interessantes Kunstwerk mehr als eine Kritik verträgt und benötigt, scheint nicht mehr selbstverständlich. Gibt es künftig die eine, in der ganzen ARD gesendete Meinung zum neuen Roman von Clemens J. Setz, zum neuen Film von Maren Ade, zur Personale von Neo Rauch? Das täte dem kulturellen Föderalismus einen Tort an."
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Ideen

Soll man in einer Welt mit Klimakrise, Krieg und Leid noch Kinder bekommen? Philosoph Tim Henning kann im Tagesspiegel-Gespräch mit Oliver Geyer zumindest die Position nachvollziehen. "Als Ultima Ratio in einer ökologischen Krise ist es meines Erachtens auch legitim, sich weniger fortzupflanzen." Die Schule der "Longtermisten" befürwortet jedoch, dass es so viele Menschen wie möglich auf der Welt geben sollte - zur Not sollen sie auf einen anderen Planeten auswandern, wenn es durch zu viele Menschen mehr Leid auf der Welt gebe. Davon hält Hartmann wenig. "Nicht jede Form von Leid hat schon etwas Gutes. Krankheit und Tod gehören dazu, das stimmt. Und sie können unserem Leben auch eine gewisse Tiefe geben. Sicher wird auch Beethoven nicht die ganze Zeit gelacht haben, während er seine Sinfonien komponiert hat, sondern sich seine Kunst teilweise leidvoll abgerungen haben. Aber deshalb das Leid selbst zu bejahen, ist eine Position, die einem höchstens aus dem sicheren Lehnstuhl heraus plausibel vorkommt. Erzählen Sie das einem Menschen, der im Gulag sitzt. Für den ist ganz sicher, dass eine Maximierung von Glück eine sinnvolle Zielvorgabe ist."
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Stichwörter: Klimakrise