Bücher der Saison

Sachbücher

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
11.11.2023. Eine Geschichte des russischen Imperiums, eine Biografie des großen Warlam Schalamow, die Deutschen und ihre Revolutionen: Die wichtigsten Sachbücher der Saison sind nicht geeignet, das Publikum zu erheitern, und der Gabentisch zu Weihnachten könnte sich unter ihrem Ernst und Gewicht biegen. Aber die Zeiten sind ernst, und Oberflächlichkeit bietet in ernsten Zeiten erst recht keinen Trost. Und für eine "Kleine Geschichte der Zärtlichkeit" ist auch immer noch Platz.
Gesellschaft

Cover: TriggerpunkteDie "Triggerpunkte" (bestellen) sind ein Instant-Klassiker, mit dem Soziologie-Studenten in den nächsten Semestern garantiert traktiert werden. Also lesen. Oder wenigstens drüber informieren. Die Kritiker lesen ihn als Antwort auf einen anderen Instant-Klassiker: Andreas Reckwitz' "Gesellschaft der Singularitäten" (Taschenbuch). Reckwitz skizzierte zwei bürgerliche Milieus, die einander in feindseliger Unverbundenheit gegenüberstehen: ein absteigendes Kleinbürgertum, Genre Facharbeiter, das zur AfD tendiert, und ein akademisches Bürgertum, das sich in seiner Überlegenheit und seinem Beamtenstatus sonnt. Bei Mau und Konsorten stellt sich nach Umfragen nun heraus: So groß ist die Polarisierung gar nicht. Zum Beispiel sind alle für Gleichberechtigung, es wollen nur nicht alle gendern. Und für künftige Student*innen, die das Stichwort googeln: "Triggerpunkte" definiert Mau im Tagesspiegel-Gespräch als Auslöser von politischer Emotionalisierung, in diesem Zusammenhang etwa Verhaltensvorschriften. Wenn bestimmte Akteure sagen, du musst dich grundsätzlich verändern, in der Art, wie du sprichst, und das auch in deinem privaten Raum, dann provoziert das Reaktanz, also Abwehr, und viele sagen: Das mache ich jetzt nicht mehr mit."

Cover: Geschichte der ZärtlichkeitEin Buch, das auf aparte Art zwischen Geschichte, Soziologie und Rechtstheorie schwebt - und dabei ist von Zärtlichkeit die Rede. Johannes Kleinbeck erzählt in "Geschichte der Zärtlichkeit" (bestellen) die Geschichte der Einvernehmlichkeit beim Sex, die über Jahrhunderte errungen werden musste. Interessiert liest Oliver Pfohlmann in der NZZ Kleinbecks Buch. Geschickt lege dieser die Probleme offen, die die heute als Selbstverständlichkeit betrachtete Einvernehmlichkeit des Geschlechtsverkehrs im Eheleben im Zuge ihrer - im Napoleonischen Zivilrecht erstmals juristisch sich niederschlagenden - Durchsetzung im 19. Jahrhundert mit sich gebracht habe. Das "Nein heißt Nein" war, wie Pfohlmann entlang der in Kleinbecks Buch verhandelten Beispiele nachzeichnet, historisch mit einer Asymmetrisierung des Geschlechterverhältnisses verbunden, die der Frau die Rolle der Erzieherin des in seinen Trieben gefangenen Mannes zuwies.


Geschichte

Cover: Frühling der RevolutionCoverChristopher Clark ist durch die "Schlafwandler" berühmt geworden, seinen hoch aktuellen Wälzer über den Ersten Weltkrieg, der zeigt wie eine Welt unaufhaltsam in einen Weltkrieg schlittert. Ganz so bestürzend aktuell ist sein Band "Frühling der Revolution" (bestellen) über 1848 vielleicht nicht, aber während die einen Kritiker dem Band vorhalten, dass er allzu assoziativ und subjektiv sei, haben sich andere Kritiker mit seinem Facettenreichtum doch prächtig belehrt gefühlt. Als heilsam ernüchternde Beigabe empfehlen sich die Reflexionen Heinrich August Winklers über "Die Deutschen und die Revolution" (bestellen): So schmal das Buch, so erhellend ist für den Rezensenten, wie Winkler Wendepunkte wie 1848 oder 1871 analysiert und in lange Entwicklungslinien einbettet, faktenreich und mit Kenntnis der Forschung.

Cover: OzeanFlankierend sollte man einen Zeitgenossen lesen: Victor Hugo, der 1848 ganz vorn dabei war. "Ozean - Dinge, die ich gesehen habe" (bestellen) heißt der von Alexander Pschera herausgegebene Band mit seinen Skizzen und Aufzeichnungen. Alle Kritiker loben diese "Choses vues" für ihre ungeheure Lebendigkeit, und am meisten mag Tilman Krause in der Welt die Passagen über 1848: Hier beschreibt Hugo die Ereignisse präzise und unterhaltsam, und zwar nicht aus jener Außenseiterposition, die ein deutscher Dichter seines Ranges wohl traditionellerweise eingenommen hätte, sondern aus nächster Nähe. Hugo nämlich hatte sich, so Krause, bis in die höchsten politischen Ränge seiner Zeit hochgearbeitet, wobei diese hohe Position niemals seine Nähe und Liebe zum Volk mindern konnte, die er auch oft, kunstvoll und mit viel Pathos auszudrücken wusste. Weitere Bücher zu 1848, von denen einige erst letztes Jahr erschienen sind, finden Sie hier.

Cover: American MatrixCover: Die unbequeme VergangenheitHingewiesen sei auch nochmal auf drei Bücher, die wir schon in den Bücherbriefen empfohlen hatten: Karl Schlögel, der deutsche Gigant der Russland- und Osteuropaforschung, immer essayistisch und erzählerisch drauf, schreibt diesmal in "American Matrix" (bestellen) über Amerika. Ihn interessieren aber jene Phasen des konstruktiven Optimismus in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg - visionäre Architekturen wie Staudämme - , die Amerika für ihn mit der Sowjetunion vergleichbar machen. Riesen-Interesse hat auch Ilko-Sascha Kowalczuks Biografie (bestellen) über Walter Ulbricht ausgelöst, einen auf den ersten Blick wenig attraktiven Protagonisten, doch kann man aus dem Buch eine Menge übe deutsche Geschichte lernen kann, versichern die Rezensenten. Nikolai Epplees "Die unbequeme Vergangenheit" (bestellen) erschien auf Russisch bereits 2020, aber SZ-Rezensent Nicolas Freund erscheint es mit Blick auf den Ukrainekrieg geradezu prophetisch. Auch dieses Buch wurde in fast allen vom Perlentaucher gelesenen Medien besprochen - und mit rückhaltloser Begeisterung empfohlen. Epplée beleuchtet nicht nur die sowjetischen Staatsverbrechen, sondern auch solche in Deutschland oder Südafrika. Der Fokus liegt denn auch auf der Sowjetunion, so die Rezensenten. Im Buch zeigt sich, welche Folgen das Ausbleiben der Vergangenheitsaufarbeitung auf ein Land haben kann, bestätigen die Kritiker mit Blick auf die verrohte russische Gesellschaft, die kein Mittel gegen den finsteren Autokraten Putin mehr findet.


Umwelt, Klima, Natur

Eine ganze Flut von Büchern widmet sich dem Klimawandel und wie die Gesellschaft darauf reagieren sollen (mehrere Professoren empfehlen Verzicht). Andere widmen sich im allgemeinen Sinn der Nachhaltigkeit oder dem Verhältnis der Menschen zur Natur. Wir greifen zwei Bücher heraus, die den großen Vorteil der Konkretheit haben

Cover: MüllCover: Der Kampf ums WasserAlles hat eine Weltgeschichte, sogar der Müll. Möglicherweise würden wir ohne ihn nicht mal existieren, lernt FAZ-Rezensent Kai Spanke aus Roman Kösters Studie über "Müll" (bestellen). Das Müllproblem entstand mit der Sesshaftigkeit, erfahren wir, oder war es umgekehrt? Es könnte nämlich auch sein, dass die Mensch beobachteten, wie aus ihren Fäkalien die Pflanzen sprossen und dass sie somit den Garten und die Sesshaftigkeit erfanden. Ein wichtiger Aspekt. "Gar nicht mehr aus der Hand legen" will Dlf-Kultur-Rezensentin Dagmar Röhrlich Jürgen Rahmigs Buch "Der Kampf um Wasser" (bestellen) über Dürren im 21. Jahrhundert. Wasserknappheit, erfahren wir, ist vor allem durch den Klimawandel und das Bevölkerungswachstum bedingt - und den Umstand, dass die Kontrolle über Wasservorräte Macht bedeutet. Rahmig führt etwa die Türkei als Beispiel an, die viele Stauseen bauen ließ und diese als Waffe gegen pro-kurdische Staaten einsetzen kann. Wasserknappheit hat auch tiefgehende politische Konsequenzen. In der Sahelzone treibt sie Menschen in die Flucht oder in die Arme von Islamisten, so Röhrlich.

Cover: WespenSehr lesenswert im Zusammenhang mit dem Klimawandel: Thomas Brussigs "Meine Apokalypsen" (bestellen), die Cover: Meine ApokalypsenGeschichte eines gescheiterten Romans, erzählt SZ-Rezensentin Renate Meinhof und vor allem der Versuch, angesichts des Klimawandels nicht in Angststarre zu verfallen, sondern  Hoffnung zu schöpfen. Kurieren kann man sich auch mit Nature Writing. Ohne ihre Bestäubung könnten wir keine Feigen ernten, mit ihrem Geruchssinn stellen sie jeden Spürhund in den Schatten, und Bestandteile ihres Gifts spielen bei der Bekämpfung von Krebszellen zunehmend eine Rolle: Wespen sind unbeliebt, aber wichtig. Seirian Sumner gelingt in ihrem Buch "Wespen - Eine Versöhnung" (bestellen) laut FAZ-Rezensent Thomas Weber eine beeindruckende Rehabilitation. Demnach gibt es parasitisch-lebende Arten, die als Larve in einem Wirt aufwachsen und diesen schließlich töten - eine Methode, die brasilianische Bauern zum Schutz ihrer Maisfelder vor einer bestimmten Schmetterlingsart einsetzen, lesen wir. In Deutschland tragen Wespen sowohl zur Schädlingsbekämpfung wie auch zur Bestäubung von Blüten bei, zum Beispiel bei Orchideen oder Feigen. Weber lobt die Ehrlichkeit und den Stil der Autorin.

Weiter im Feld der Nachhaltigkeitsdenker: Die französische Starphilosphilosophin Corine Pelluchon denkt in "Verbessern wir die Welt!" (bestellen) laut FAZ nicht völlig pessimistisch über Tierrechte nach. Werner Bätzing erzählt in "Homo destructor" (bestellen) eine laut FAZ aber arg professorale "Mensch-Umwelt-Geschichte". Professor Otfried Höffe empfiehlt in "Die hohe Kunst des Verzichts" (bestellen) wie gesagt eine gesunde Selbstbeschränkung, wenn möglich auf C4-Niveau. Und Sacha Bourgeois-Gironde will in "Wie uns das Recht der Natur näher bringt" (bestellen) die Natur als Rechtssubjekt behandeln: Eine Richtung "Common-Law" tendierende "Bricolage" aus Talmud, Antike, Maori-Kosmologie und westlichem Patent-, Erb- und Eigentumsrecht, die dem FAZ-Kritiker Milos Vec geeignet scheint, die Idee der Menschheit als "Vermächtnisempfänger der Umwelt" mit "juristischer Substanz" zu füllen. Unter dem Stichwort "Nachhaltigkeit" findet sich weitere erbauliche Lektüre.


Philosophie

Cover: BleibefreiheitCover: Hier liegt Bitterkeit begrabenPhilosophie neigt neuerdings wieder zum Moralischen, meist verbunden mit Umweltthemen (siehe oben). Eines der meistbesprochen Bücher dieses Jahres war Eva von Redeckers "Bleibefreiheit" (bestellen), also ein Buch über die Schönheiten, die es haben kann, auf "Bewegungsfreiheit" zu verzichten. Politisch stehen für Bleibefreiheit etwa Gruppen, die sich für die Umwelt oder gegen Gentrifizierung einsetzen, erläutert FAZ-Rezensent Tobias Schweitzer. Aber so ganz behagt ihm der Begriff am Ende nicht, Redeckers Vorhaben durchweht ein "defätistischer, resignativer Zug", moniert er. Ijoma Mangold von der Zeit schlägt aus dem Buch ein Geruch von "totalitärem Biedermeier" entgegen. Nun ja, ein Buch, das man wird lesen müssen, um sich den Zumutungen der neuen Zeit zu stellen. Ebenfalls viel besprochen und mindestens genauso aktuell im Blick auf heutige Hysterisierung der Debatte: Cynthia Fleurys "Hier liegt Bitterkeit begraben - Über Ressentiments und ihre Heilung" (bestellen). Fleury begibt sich auf die Suche nach dem innersten Wesen des Ressentiments, verspricht der Klappentext. Die Kritiker sind zwiespältig, aber fasziniert, fast alle Zeitungen haben das Buch besprochen. SZ-Rezensent Nils Minkmar imponiert der ungewöhnliche Ansatz, mit dem Cynthia Fleury gegen das Gefühl des Ressentiments anschreibt. Denn die französische Philosophin und Therapeutin hat hier, so Minkmar, durchaus keinen leicht zugänglichen Ratgeber vorgelegt - auch wenn sie verschiedene Auswege aus dem Ressentiment aufzeigt: Durch die "vis comica" (also einen Sinn für Humor), die Poiesis (eine kreative Betätigung) oder die Philia (Freundschaft oder Liebe) könne man die eigene Welt erweitern oder eine gemeinsame Welt bauen, wie der Kritiker liest.


Kunst

Cover: Die ehrbaren TäuscherWolfgang Kemp hat für seinen schmalen Essay "Die ehrbaren Täuscher - Rembrandt und Descartes im Jahr 1641" (bestellen) eine äußerste spannende Ausgangskonstellation gefunden: Descartes und Rembrandt befanden sich im Jahr 1641 beide in der Stadt Amsterdam. Und beide beschäftigten sich mit der Konstitution des Subjekts. Während Descartes sein "Cogito ergo sum" erdachte, beschäftigte sich Rembrandt malend mit Grundsatzfragen des Porträts und malte auch "Tronies", Porträts von erdachten Personen. Kemp macht mit kunsthistorischer Expertise und "detektivischem Spürsinn" auf die verblüffenden Parallelen aufmerksam, ohne Rembrandt zum Illustrator von Descartes' Ideen zu machen, staunt Thomas Steinfeld in der SZ.
Cover: Immer lieber woandershinAußerdem sind drei Künstlerbiografien zu annoncieren: Nächstes Jahr ist Caspar-David-Friedrich-Jahr, der Maler wäre dann 250 Jahre alt. Große Ausstellungen zum Jubiläum sind bereits annonciert. Und Florian Illies legt mit "Zauber der Stille" (bestellen) schon mal eine Biografie vor. In der FAZ ist Stefan Trinks begeistert: Anhand ausgewählter Gemälde des Künstlers vermittle der Autor einen Eindruck von Friedrich nicht als Künstler im "Elfenbeinturm", sondern als Mensch aus Fleisch und Blut, lobt der Kritiker. In der SZ schwärmt Elke Heidenreich innig von Florian Illies und seinem "federleichten" Stil. Die Kritiker in Dlf Kultur, Welt und NZZ sehen es ähnlich. Rezensent Klaus Bittermann taucht mit Antony Penroses Biografie "Immer lieber woandershin" (bestellen) ein in das bewegte Leben der Kriegsreporterin Lee Miller. Der Kritiker genießt die Leichtigkeit dieses Porträts, das Millers Sohn Antony Penrose verfasst hat und das im Original schon 1985 in England erschienen ist. Und in der FAZ empfiehlt Niklas Maak wärmstens Virginia Woolfs Biografie des mit ihr befreundeten Malers Roger Fry (bestellen), 1940 im Original erschienen, die nicht nur Memoir ist, sondern zugleich den britischen "Aufbruch in die Moderne" dokumentiere.


Kulturgeschichte

Cover: Welt der Renaissance: NeapelNeapel war die bunteste Stadt der Renaissance, behauptet jedenfalls der Klappentext. Neapel-Liebhaber Tobias Roth hat in "Welt der Renaissance: Neapel" (bestellen) eine Menge Originaltexte zusammengestellt und vor allem so kommentiert, dass man sich als heutiger Leser unterhalten und informiert fühlt. Wie der Herausgeber seine Textauswahl mit Kommentaren und kulturgeschichtlichem Hintergrundwissen ergänzt, findet FAZ-Rezensent Andreas Rossmann formidabel. Schön gestaltet ist der Band auch, schreibt er. Die NZZ zieht es mit Birgit Schönau etwas nördlicher, nach Rom, wo sie mit der Autorin den "Geheimnissen des Tibers" (bestellen) und damit der römischen Geschichte nachspürt. Durch Schönaus lebendigen Stil werden die Episoden römischer Geschichte geradezu erlebbar, schwärmt Clemens Klünemann, der diese "meisterhafte Biografie eines Flusses" nachdrücklich empfiehlt.

Cover: Zeit der VerwandlungCover: CzernowitzManchmal fragt man sich als Berliner neidisch, ob München nicht die dollere Stadt war (nicht ist, das wohl nicht). Aber Schwabing um 1900! Oder Schwabing in den Sixties? Naja, in Stefan Bollmanns "Zeit der Verwandlung" (bestellen) geht's um 1900:  Der SZ-Kritiker Gustav Seibt begegnet neben Größen wie Hedwig Pringsheim, Stefan George, Thomas und Katia Mann, Lovis Corinth oder Gabriele Münter Genies, Lebensreformern, Designern, Spiritisten oder Genderexperimentierern, erfreut sich an Klatsch und Tratsch und staunt über Bollmanns exquisite Bildbeschreibungen. Den Ton der "staunenden Nahsicht" kennt Seibt bereits aus den Büchern von Florian Illies, aber weshalb sich Autoren zwar die Mühe machen, jede Menge Material zusammenzukopieren, dann aber auf Register, Zitatnachweise und Hintergrundinformationen verzichten, ist dem Kritiker ein Rätsel. Und noch eine Stadt: Czernowitz. "Eine Lebensgeschichte osteuropäischer Urbanität" nennt Rezensent Paul Jandl Helmut Böttigers autobiografisch geprägte Essay-Sammlung "Czernowitz - Stadt der Zeitenwenden" (bestellen), und deren bewegte Vergangenheit und Gegenwart. Über dreißig Jahre hat Jandl die Entwicklung dieser ehemals habsburgischen, dann rumänischen, anschließend sowjetischen und schließlich ukrainischen Stadt verfolgt und literarisch begleitet.


Literatur

Cover: Das Leben schreibenMehrere wichtige Schriftsteller-Biografien sind erschienen. Der Schriftsteller Warlam Schalamow gehört wie Wassili Grossman zu den Protokollanten des Stalinschen Terrors, die starben, bevor sie wussten, dass ihre Werke jemals rezipiert werden würden. Franziska Thun-Hohenstein hat nun mit "Das Leben schreiben" (bestellen) über Schalamow eine Biografie vorgelegt, die die Rezensenten tief beeindruckt. Man erfährt einiges über Schalamows Jugendsünden, seinen extrem nüchternen Stil, die ihn in Gegensatz zu Solschenizyn stellen, und seine Auseinandersetzungen mit Zeitgenossen. Eine Biografie zu diesem Autor, der sechzehn Jahre seines Lebens in sibirischer Lagerhaft verbracht hat, war kein leichtes Unterfangen, ahnt Jörg Plath im Dlf, zumal Schalamows Frau und Schwester aus Angst vor Repressionen viele Schriften, Briefe und Dokumente vernichtet haben. Der Kritiker kann nur bewundern, wie Thun-Hohenstein vorgeht, mit philologischem Spürsinn und Diskretion zugleich, ohne zu spekulieren oder zu fabulieren. Die Nüchternheit prägt Schalamows Erinnerungen - und ihr wird die Biografin auf geradezu vorbildliche Weise gerecht, lobt Wolfgang Schneider in der FAZ.

Weitere wichtige Biografien sind über Wolfgang Herrndorf (Bücherbrief), Georges Perec (hier) und Hannah Arendt (hier) erschienen. Der ehemalige Hanser-Lektor Wolfgang Matz empfiehlt außerdem Steven E. Aschheims eher essayistischen Band "Scholem, Arendt, Klemperer" (bestellen) über "Deutsch-jüdische Identität in Krisenzeiten": So schmal der Band, so elegant und konzentriert sei er.


Musik

Cover: CollaborationsViele wollen es nicht glauben: Aber "Neue Musik" ist bis heute das größte denkbare Abenteuer für die Ohren, und übrigens oft genug auch für die Augen, denn Neue Musik sollte man im Konzert hören, und da ist oft ein reichlich exotisches Instrumentarium versammelt, das malerisch betätigt wird. Das Genre des Streichquartetts ist dagegen natürlich Abstraktion in Musik, außer wenn Irvine Arditti vom gleichnamigen Quartett erzählt! FAZ-Rezensentin Lotte Thaler ließ sich von Ardittis "Collaborations - Reflections on 50 Years of Working with Composers" (bestellen) jedenfalls sich gerne mitreißen von den Erinnerungen des Geigers und Begründers des Arditti-Streichquartetts. Er erinnert sich an alle wichtigen Komponisten der letzten 50 Jahre. Und ein "hinterhältiger Humorist" sei er überdies. Wer mal in ihre Musik reinhören will: Hier spielen sie Olga Neuwirths "In the realms of the unreal".

Wer etwas über den Musikbetrieb in Deutschland und Europa erfahren will, sollte "Die Zwei-Klassik-Gesellschaft" (bestellen) dieses Musikjournalisten lesen. Axel Brüggemann bringt die Zeitschrift Crescendo heraus und traut sich auch in seinen Artikeln und Newslettern etwas. Er kritisiert etwa die Zusammenarbeit des SWR mit dem Putin ergebenden Dirigenten Teodor Currentzis, aber er beschäftigt sich auch grundsätzliche mit dem E-Musik-Betrieb, mit seiner Unbeweglichkeit angesichts des alternden Publikums, mit der Rolle der öffentlich-rechtlichen Sender und mit den Problemen des Journalismus - viele Journalisten sind nicht mehr unabhängig, müssen sich von Institutionen einladen lassen, wenn sie überhaupt noch berichten wollen, worüber die Medien aber nicht informieren. Der Perlentaucher brachte einen Vorabdruck. Einiges über den Musikbetrieb erzählen kann auch Britney Spears, einem Giganten unter den Popstars der 90er und 00er Jahre und gleichzeitig die Prinzessin Diana der Popmusik. In ihrer Autobiografie "The Woman in me" (bestellen) spielen die Skandale und Beziehungsprobleme jedoch nur eine Nebenrolle, versichert in der FAZ Elena Witzeck. Hauptsächlich gehe es um Spears' problematische familiäre Prägung sowie um die gnadenlosen Mechanismen der Musikindustrie. Das geht vielleicht nicht allzutief, meint Jacqueline Lipp in der NZZ, aber sie ist, wie auch die anderen Kritikerinnen, berührt von dem spürbaren Schmerz hinter Spears' Geschichte, die von der Ausbeutung eines jungen Stars durch Medien, die eigene Familie und unglücklich gewählte Beziehungspartner handelt; in einer Zeit zumal, die noch kein #metoo kannte.