Bücher der Saison

Politische Bücher

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
Sabine Adler über die Ukraine und wir, Sergio de Molino über die Leere Spaniens, Emilio Lussus Erinnerungen an Mussolinis Marsch auf Rom, Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey über die gekränkte Freiheit der Querdenker und Francis Fukuyama über die Feinde des Liberalismus.
Wichtigstes Thema bei den politischen Büchern ist sicher der russische Angriff auf die Ukraine. Gwendolyn Sasse liefert mit ihrem schmalem Band "Krieg gegen die Ukraine" (bestellen) ein must-read. In der FR betont Christian Thomas nachdrücklich, wie zurückhaltend, aber unmissverständlich die Politikwissenschaftlerin argumentiert, wenn sie die Hintergründe des Krieges herausarbeitet, die Autokratisierung Russlands unter Waldimir Putin, seine ideologische Geschichtspolitik und imperialen Machtansprüche. Dass Sasse dem die Entwicklung der Ukraine zu einer demokratischen und zivilgesellschaftlichen Identität gegenüberstellt, findet Thomas sehr richtig, vor allem weil sie, alles andere als blauäugig, auch auf Defizite in der Kiewer Politik hinweist.

"Klug und messerscharf" findet SZ-Kritikerin Viola Schenz Sabine Adlers "Die Ukraine und wir" (bestellen). Die Osteuropa-Expertin des Deutschlandfunks rechnet darin gnadenlos mit der deutschen Russlandpolitik ab, die nicht nur über Jahre hinweg die Bedrohung übersah, die von Wladimir Putin ausging, sondern auch die Ukraine und ihre Geschichte. Adler zufolge hat Deutschland für eine billige Gasversorgung seine Seele verkauft. Im Gespräch mit dem Dlf Kultur bekräftigt Adler diese Ansicht: "Die deutsche Ostpolitik sei von führenden SPD-Politikern geprägt worden, die 'der Ukraine das Ukrainisch-Sein abgesprochen haben', sagt Adler: Für Ex-Kanzler Helmut Schmidt habe es keine ukrainische Nationalität gegeben. ... 'In anderen Zusammenhängen nennt man sowas Kolonialismus', sagt Adler, 'in Bezug auf die Ukraine durfte man das geschehen lassen, da war es 'in Ordnung'.'"

Mehrfach hingewiesen haben wir bereits auf Serhii Plokhys Essayband "Die Frontlinie" (bestellen) , der sehr instruktiv die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine analysiert. In der taz empfahl Barbara Oertel außerdem die sehr "gut lesbare" Selenski-Biografie (bestellen) des polnischen Journalisten Wojciech Rogacin, der einen nicht-westlichen Blick auf die Ukraine habe.

Ein rascher Blick auf die spanische Landkarte lässt erkennen, dass Madrid umgeben ist von einem großen Nichts. Durch die Weiten der Mancha ließ Cervantes seinen Don Quijote reiten, in der Wüste von Almería drehte Sergio Leone seine Spaghetti-Western. Doch welch politische und gesellschaftliche Verwerfungen in Spanien damit einhergehen, hat erst Sergio de Molinos Reportage "Leeres Spanien" (bestellen) dem Land vor Augen geführt, wie die Kritiker einhellig staunen. Die übergroße Mehrheit der spanischen Bevölkerung lebt in den Städten Madrid, Barcelona, Valencia und Bilbao, um sie herum erstrecken sich über Hunderte von Kilometer entleerte Landstriche. Die FAZ versichert, dass Molino lesenswert und lehrreich schreibt, ohne vorgefertigte Meinungen, voller Neugier. Der taz liest betroffen, welch tiefe Spuren die Landflucht in der Bevölkerung hinterlassen hat, die mit der brutalen Industrialisierung unter Franco einherging. Im Spiegel-Interview erklärt Molino, dass im Vergleich zum "leeren Spanien" selbst Brandenburg dicht besiedelt sei: "Hier hält jeder ICE alle 30 Minuten irgendwo. Wenn Sie von Madrid nach Barcelona reisen, stoppt die Bahn auf 600 Kilometern Strecke genau einmal, in Saragossa."

Vor hundert Jahren inszenierte Benito Mussolini seinen berüchtigten "Marsch auf Rom" (bestellen), den der sozialistische Politiker Emilio Lussu, Sarde und Offizier, in seinem gleichnamigen Augenzeugenbericht die faschistische Machteroberung. In der SZ zeigt sich Gustav Seibt beeindruckt, wie klarsichtig Lussu Mussolinis Gewalttheater durchschaut, das Versagen des Staates, die taktierenden Eliten und die Feigheit des Bürgertums, das sich von einer im Grunde "läppischen Drohkulisse" einschüchtern ließ. Seibt sieht Parallelen zu Putins Gebaren. Auch Welt-Kritiker Marc Reichwein sieht in dem Bericht ein erstklassiges Zeitdokument, das ihm durch seinen Spott für die Opportunisten besticht. Voller Hochachtung schreiben FR und SZ auch über die Enrico-Berlinguer-Biografie "Der eigenartige Genosse" (bestellen) der italienischen Journalistin Chiara Valentini. Berlinguer gehörte zu jenen unwahrscheinlichen Politikern, die kommunistische Ideale mit demokratischen Prinzipien verbanden, weswegen er als KPI-Chef mit Moskau brach, mit den italienischen Christdemokraten Kompromisse schloss und standhaft gegen den Terrorismus und zum italienischen Staat stand. Eine Mahnung für das politisch so leichtfertig gewordene Land, meint Birgit Kraatz in der SZ.

Das beiden Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey gehen mit ihrer empirisch unterfütterten Studie "Gekränkte Freiheit" (bestellen) dem irritierenden Phänomen der Querdenkerbewegung auf den Grund, in der sie eine neue Rechte erkennen, die ganz wie einst die antiautoritäre Linke das Individuum und Nonkonformismus hochhalte und voller Misstrauen gegenüber Staat, Gesellschaft und Eliten agiere. Aber was so widersprüchlich erscheint, können die beiden Autoren dem taz-Rezensenten Robert Misik sehr gut aufschlüsseln: In der Spätmoderne steigere sich Selbstverwirklichung zu permanentem Groll gegen alle anderen und Machtskepsis zu destruktivem Dauerdagegensein. In der FAS versteht Novina Göhlsdorf, was diesen Typus zu eben jenem autoritären Charakter macht, den Max Horkheimer und Theodor Adorno in ihrer berühmten Studie definierten: Aggression, Kraftmeierei, Zynismus. Im Interview mit der FR betonen Amlinger und Nachtwey: "Die Mehrheit der Befragten sind qualifiziert und kommen eher aus der Mittelschicht."
Die FAZ kann außerdem Nils Kumkars Band "Alternative Fakten" (bestellen) empfehlen, der ihr klarmacht, dass es bei der Verbreitung von Fake News nicht um eine andere Wahrheit geht, sondern um die Sabotage von Kommunikation.

Wer sich über die Geschichte des rechten Terrorismus in Deutschland informieren will, dem sei Uffa Jensens "Ein antisemitischer Doppelmord" (bestellen) empfohlen, der am Beispiel des Mordes an Shlomo Lewin und Frida Poeschke 1980 durch ein Mitglied der "Wehrsportgruppe Hoffmann" die rechtsextreme Szene in Deutschland und ihre Ignorierung durch Politiker, Behörden und Gerichte beschreibt. Wolfgang Kraushaar setzt diese Geschichte des Versagens deutscher Behörden mit seinem neuen Buch "Keine falsche Toleranz" (bestellen) fort. Besprochen wurde es noch nicht, aber wir haben ein Kapitel daraus vorgeblättert.

Zu den Bestseller-Autoren mit weltweiter Aufmerksamkeit gehört zuverlässig auch Jeremy Rifkin, der in "Das Zeitalter der Resilienz" (bestellen) Einspruch erhebt gegen Inbesitznahme des Planeten und industrielles Effízienzdenken. In der SZ betont Andrian Kreye, dass Rifkin wirklich kein Langweiler sei. Mit Lob überschüttet wurde auch die Trump-Porträt "Täuschung" (bestellen) der New York Times-Reporterin Maggie Haberman, die dem bösen Zaubers des amerikanischen Ex-Präsidenten auf die Spur kommen will, indem sie ihn ernst nimmt. Eher enttäuscht zeigen sich die Kritiker von Francis Fukuyamas Globalanalyse "Der Liberalismus und seine Feinde"(bestellen): Für taz-Kritikerin Nina Apin scheitert Fukuyama an einer Erklärung, warum selbst mustergültige liberale Demokratien wie Schweden zuletzt vom Gespenst des Rechtspopulismus heimgesucht wurden. FAZ-Kritiker Christoph Möllers fehlt eine Auseinandersetzung mit der Frage, warum in liberalen Gesellschaften die soziale Ungleichheit blüht und gedeiht. Ziemlich überzeugend findet hingegen Marko Martin im Dlf Kultur die Argumente Fukuyamas, wonach die Unterschätzung einer funktionierenden Staatlichkeit auch durch linke Theoretiker wie Foucault und Marcuse den Weg für die neurechte Staatsverachtung mit geebnet habe.