Bücher der Saison

Sachbücher

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
Die Klimakrise und ihre Folgen, damit beschäftigt sich Philip Staab, der auf Anpassung statt Individualismus setzt. Thomas Halliday führt mit einer Reise durch die Evolution frühere Klimaveränderungen vor. Außerdem empfohlen: Serhij Plokhys Geschichte der Ukraine, eine musikalische Biografie von Bob Dylan, Erinnerungen von Quentin Tarantino und die abessinischen Fräuleins bei Coleridge.
Gesellschaft

Gestaltung, Verbesserung, Selbstentfaltung - damit ist es jetzt im wesentlichen vorbei, glaubt der Soziologe Philipp Staab. Oder es sollte zumindest damit vorbei sein, in Zeiten der Klimakrise. Jetzt treten wir in eine Phase der Erhaltung, der Stabilisierung - kurz: der "Anpassung", wie Staab sein neues Buch betitelt hat (bestellen). SZ-Kritikerin Meredith Haaf nimmt mit Interesse zur Kenntnis, dass Staab Anpassung als etwas eigentlich positives beschreibt. Erschreckend findet sie jedoch, dass er die Zweifel am Fortschritt auf die Demokratie übertragen sieht. Am Ende überlegt die Rezensentin, für wie relevant die jüngere Generation in Zukunft Demokratie und Meinungsaustausch halten wird. Auch der spanische Soziologe César Rendueles möchte in seinem Buch "Gegen Chancengleichheit" (bestellen) Schluss machen mit egoistischem Individualismus, der Idolatrie persönlicher Freiheit und der harmlosen Forderung nach Chancengleichheit, die er als eine Ideologie des Wettbewerbs verwirft. In der FR kann sich Thomas Kaspar ganz gut mit dieser These anfreunden, die auf eine materielle Gleichheit zielt, die ständig ausgehandelt wird. Das ist basisdemokratisch und im Grunde sehr sozialdemokratisch, findet Kasper.

Während das Vertrauen in politische Handlungsmöglichkeiten abnimmt, werden die Anhänger esoterischer Dogmen immer zahlreicher, stellen Pia Lamberty und Katharina Nocun in ihrem Buch "Gefährlicher Glaube. Die radikale Gedankenwelt der Esoterik" (bestellen) fest. FAZ-Kritiker Oliver Jungen wird angst und bange bei der Lektüre dieses Kompendiums, denn die Autorinnen können ihm anschaulich darlegen, wie sich Gesellschaften in Krisenzeiten immer stärker dem Hokuspokus zuwandten, von der Lebensreformbewegung über New Age bis zu heutigen Verschwörungstheorien. Das verheißt nichts Gutes für kommende Zeiten, fürchtet er. Ein Beispiel im Buch ist die angebliche "Barcode-Verschwörung": Danach sollen die Strichcodes auf Produkten toxische Strahlung absondern, erklärt im NDR Claas Christophersen, Aber auch Homöopathie, Schamanismus und Verschwörungstheorien fassen die beiden unter Esoterik. "Das sind doch recht unterschiedliche Glaubenslehren", meint Christophersen. "Was sie aber gemeinsam haben, arbeiten die Autorinnen eindrucksvoll heraus." Eine "umfassend recherchierten, fesselnde Analyse" ist dieses Buch, lobt auch Lisa Berins in der FR. Überraschend ruhige und informative Aufklärungsprosa zum Klimawandel fand die FAZ in Greta Thunbergs "Klima-Buch" (bestellen)


Naturwissenschaften

Der britische Paläobiologe Thomas Halliday weiß, wie man längst untergegangene Welten wieder auferstehen lässt, ohne reißerisch zu werden, versichert in Dlf Kultur ein ordentlich beeindruckter Michael Lange. Über sieben Kontinente und eine Zeitspanne von 500 Millionen Jahren führt Halliday in seinem Buch "Urwelten. Eine Reise durch die ausgestorbenen Ökosysteme der Erdgeschichte" (bestellen) durch die Epochen der Evolution, deren markanteste Entwicklungen er anhand von Fossilienfunden beschreibt. Mit großer Brillanz, lobt FAZ-Kritiker Ulf von Rauchhaupt, der unvermutet auch mal vor Schwänen steht, die Elefanten überragen, erklärt Halliday die oft blitzschnellen Veränderungen der Biosphäre. Klimaaktivisten könnte es allerdings verstören zu erfahren, wie oft sich Ökosysteme mit, aber auch ohne Zutun des Menschen schon verwandelt haben, warnt der Kritiker. Der faszinierte Economist war bei der Lektüre hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

Empfohlen werden weiter Lars Jaegers Biografie der brillanten Mathematikerin Emmy Noether (bestellen), das die Zeit uns eindringlich ans Herz legt: Noether war die erste Frau, die sich in Deutschland in Mathematik habilitierte und die Algebra auf eine neue Umlaufbahn schickte. Und Scott Weidensauls "Auf Schwingen um die Welt" (bestellen), das die globale Odyssee der Zugvögel verfolgt: wunderbar poetisch, aber auch die "modernen Abbruchkanten" nicht aussparend, wie Dlf Kultur uns versichert.


Geschichte

Serhij Plokhys Geschichte der Ukraine, "Das Tor Europas" (bestellen), ist ein absolutes Standardwerk - da sind sich die Kritiker in Zeit und FAZ einig. Bis in die Antike greift der Autor zurück und schildert die Ukraine als ein Gebiet, das stets im Spannungsfeld unterschiedlicher Großmächte stand, erklärt Thomas Speckmann, der das Buch in der Zeit empfiehlt. Und auch FAZ-Kritiker Oliver Schmitt lobt, wie Plokhy Entstehung und Selbstbehauptung einer Nation nachzeichnet, die über die Jahrhunderte hinweg den Imperien zur Beute wurde. Auch dass kaum ein Land im zwanzigsten Jahrhundert solche Verheerungen über sich ergehen lassen musste wie die Ukraine, stellt Plokhy dem Rezensenten zufolge eindrucksvoll dar. Die Verbrechen Stalins in der Ukraine wurden im Rest Europas kaum bemerkt. Einer der wenigen, der Bescheid wusste, war der walisische Journalist Gareth Jones, dem Miroslaw Wlekly eine lesenswerte Biografie gewidmet hat (bestellen). Wie Jones dem Holodomor auf die Spuren kam, schildert der Autor laut SZ-Kritikerin Renate Nimtz-Köster ebenso wie das nicht immer wohlwollende Echo, das seine Entdeckung hervorrief und die mutmaßliche Beseitigung des Walisers durch den KGB. Dass stalinfreundlichere Journalisten die Hungersnot bagatellisierten, treibt Wolfgang Schneider (Dlf Kultur) noch heute die Zornesröte in die Wangen.

Im Dlf Kultur empfiehlt Wolfgang Schneider Ander Izagirres "Der Berg, der Menschen frisst" (bestellen), eine Reportage über die Geschichte und Gegenwart von Boliviens Rohstoffhandel am Beispiel des rohstoffreichen Bergs Cerro Rico de Potosí, das die Umweltzerstörung und Ausbeutung in Folge des Rohstoff-Kolonialismus deutlich mache: Ein "überaus welthaltiges" Buch, das zu lesen sich trotz, oder gerade wegen seiner ernüchternden Wirkung lohnt, resümiert der Rezensent. Sehr gut besprochen (und zum Teil auch schon in älteren Bücherbriefen empfohlen) wurden außerdem Giles Miltons Buch "Das Inferno von Smyrna" (bestellen) über den Untergang der größten multikulturellen Metropole des Osmanischen Reiches 1922 und David van Reybroucks Oral History "Revolusi" (bestellen) über die Revolution in Indonesien und den Kampf gegen die niederländischen Kolonialherren.

Gut besprochen wurden auch zwei Bücher zur Revolution von 1848, die so tragisch scheiterte: Ohne die Widersprüche zu verschweigen, beschreibt Alexandra Bleyer sie in ihrem Buch "1848" (bestellen) als Erfolgsgeschichte: Immerhin basiert noch unser Grundrechtekatalog auf den Forderungen der damaligen Revolutionäre. FAZ und FR fanden das ausgesprochen informativ, zumal Bleyer die vielfältigen Verläufe der Revolution in Europa berücksichtigt. Jörg Bongs "Die Flamme der Freiheit" (bestellen) setzt dagegen mehr auf eine szenische Darstellungsweise. Konventioneller, aber auch gut lesbar, bescheinigt ihm die FAZ. Für die SZ ist es gar ein mitreißendes Buch.


Philosophie

Der Judaist Peter Schäfer untersucht in "Die Schlange war klug" (bestellen) antike Schöpfungsmythen auf der Grundlage der Torah und vergleicht sie mit biblischen und altorientalischen, platonischen und epikureische sowie christlichen Vorstellungen von der Entstehung der Welt und des Menschen. Seine Neudeutungen - der Auszug Adam und Evas aus dem Paradies zum Beispiel war laut Schäfer keine Vertreibung, sondern ein Akt der Emanzipation - findet ein bewundernder Burkhard Müller in der SZ originell, erhellend und von "eigenwilligem Charme". Dass Schäfer auch Aristoteles, Lukrez und Epikur behandelt, liegt für den Kritiker nicht unbedingt nahe, führt ihm aber indirekt die zerklüftete Landschaft des abendländischen Denkens vor Augen.

Empfohlen wurden außerdem Anne Chengs im Original 1997 erschiener "Grundriss Geschichte des chinesischen Denkens" (bestellen), den der Münchner Sinologie-Professor Hans van Ess in der SZ als Standard- allerdings auch nicht ganz einfache Lektüre preist, und Jürgen Habermas' "Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik" (bestellen). Das wohl meist besprochene Sachbuch der Saison, haben wir bereits im letzten Bücherbrief vorgestellt: Habermas zeigt darin einen Zusammenhang zwischen der Krise der Demokratien in den letzten beiden Dekaden und den medientechnischen Entwicklungen auf, was die Rezensenten zum Teil erhellend, zum Teil etwas zu pessimistisch fanden.


Die Künste

NZZ-Kritiker Philipp Meier bekommt mit dem autobiografischen "Album" Meret Oppenheims (bestellen) einen tiefen Einblick in das private Leben der Künstlerin. Oppenheim stellte ihr Künstlertagebuch bereits 1958 zusammen und sammelte darin eine Auswahl von (Original-) Zeichnungen, Fotografien, Briefe von Freunden und Geliebten, Anekdoten und Zettel, so Meier, für den der Band nicht nur eine bedeutsame Quelle für die Kunstgeschichte sondern auch schlicht eine Augenweide ist. Auch FAZ-Rezensentin Alexandra Wach freut sich, ein wenig am Boheme-Leben Oppenheims teilnehmen zu können mit dieser erweiterten Neuauflage des "Albums". Wach ist ganz hingerissen von dem visuellen Fest des "Gesamtkunstwerks", das der Leserin eine echte Fundgrube bietet, wie sie findet. Dass es sich hier um eine subjektive Werk- und Lebensdokumentation handelt, sollte man aber im Kopf behalten. Der Kunsthistoriker Uwe M. Schneede untersucht in "Ich!" (bestellen) 23 künstlerische Selbstporträts von Vincent van Gogh bis Marina Abramovic. Die Reaktion der Kritiker ist verhalten positiv: Man lernt einiges über Selbstergründung und Selbstbehauptung der einzelnen Künstler, meint in der FAZ Dieter Thomä. Auch Ingo Arend (Dlf Kultur) kann den Band in dieser Hinsicht empfehlen. Die beiden Kritiker hätten sich nur vielleicht eine etwas mutigere Auswahl gewünscht: Nur "weiße Protagonist:innen der transatlantische Westmoderne", seufzt Arend. Frida Kahlo bittet möglicherweise zu differenzieren.

Außerdem: Die NZZ empfiehlt wärmstens Marco Giacomettis üppig illustrierte zweibändige Biografie des Glasmalers Augusto Giacometti (bestellen). Fein säuberlich und doch leichthändig strukturiert der Autor das geerbte üppige Konvolut an Briefen, Tagebuchnotizen und autobiografischen Texten, freut sich der Kritiker, der den Bänden durch viele Originalzitate "intime" Einblicke in Giacomettis Leben verdankt. Hingewiesen sei auch noch auf die Autobiografie des "Heimat"-Filmregisseurs Edgar Reitz, "Filmzeit, Lebenszeit" (bestellen), der euphorisch besprochene Rückblick Werner Herzogs auf sein vollkommen erstaunliches Leben, "Jeder für sich und Gott gegen alle" (bestellen) und Quentin Tarantinos "Cinema Speculation" (bestellen) in der der amerikanische Regisseur von den Filmen seiner Kindheit und Jugend erzählt.

Die meisten Kritiker haben sich gern mitnehmen lassen auf diese Reise durch Bob Dylans musikalische Biografie, die nebenbei die "Die Philosophie des modernen Songs" untersucht (bestellen). Von Philosophie würde der Philosoph Jürgen Goldstein in der FAZ vielleicht nicht gerade sprechen, aber die eigenwillige Auswahl der Songs hat ihm so gut gefallen wie der tiefsinnige "Plauderton" mit dem Dylan über das Musikhören schreibt. Welt, FR und Zeit sehen das ähnlich, ein paar mehr Frauen hätten der Playlist gut angestanden, merken sie noch an. Nur der SZ ist die Auswahl viel zu rückwärts gewandt. Gut besprochen wurde auch Jarvis Cockers "Good Pop, Bad Pop" (bestellen), das der Frontmann der Band Pulp der Natur des Pop widmet. Dabei geht es viel um das Verhältnis von Pop und Klasse bzw. das Selbstverständnis, ein Künstler aus dem Proletariat zu sein, so Klaus Walter in der taz. Wie Cocker sich bei seinen autobiografischen Überlegungen an Gegenständen entlang hangelt, die er auf seinem Dachboden gefunden hat, fanden auch die Kritiker in FAZ und FR reizvoll. Empfohlen werden außerdem die Erinnerungen des deutschen Jazz-Musikers Klaus Doldinger, "Made in Germany" (bestellen).


Literatur- und Kulturwissenschaften

SZ-Rezensent Johan Schloemann lief es beim Lesen von Hemut Lethens Essay "Der Sommer des Großinquisitors" (bestellen) kalt den Rücken runter. Auch wenn der Kulturwissenschaftler nichts explizit macht, ahnt Schloemann, dass es hier um Russland und die Neue Rechte in Deutschland geht, der Lethens Frau angehört. Lethen liest Geschichte vom Großinquisitor in Dostojewskis "Brüder Karamasow" als Blaupause, derzufolge nur die Negation der Moral zum Erfolg führt und die nur zu bereitwillig von etlichen Intellektuellen in Russland und Deutschland aufgegriffen wurde. Fatalistisch ist diese Erkundung des Nachlebens der Parabel aber nicht, versichert in der FAZ Sonja Asal, vielmehr könne Lethen die Faszination der ideologischen Kämpfe des 20. Jahrhunderts gut vermitteln: Von den ersten Übersetzungen des Textes im Jahr 1881 über Georg Lukacs und Helmuth Plessners Beschäftigungen mit dem Stoff bis zu Carl Schmitt. Ebenfalls sehr gut besprochen wurde Wolfgang Strucks Kulturgeschichte der "Flaschenpost" (bestellen), die FAZ-Kritiker Christian Schwägerl mit ihren zahlreichen Anekdoten und literaturgeschichtlichen Betrachtungen zum Thema gut unterhalten hat. Das ist nicht immer ganz einfache Lektüre, warnt Irene Helmes in der SZ, während sie sich in die Geschichte des Hydrografen Georg Neumayers vertieft, der die Schiffe der kaiserlichen Admiralität dazu brachte, an unterschiedlichsten Orten Flaschen ins Meer zu werfen, um die Strömungen der Ozeane zu berechnen. Aber Strucks Liebe zum Detail hat sie angesteckt.

Hervorgehoben wurden außerdem zwei große Biografien: Der britische Germanist Jeremy Adler porträtiert Johann Wolfgang von Goethe (bestellen) als frühen Liberalen und Künder der Moderne. Eckart Goebel, Professor für Komparatistik in Tübingen, der das Buch für die Welt besprochen hat, war hin und weg von dieser "glanzvollen, hinreißend gelehrten und federleicht lesbaren" Biografie. Er ist auch froh, dass mit Adler endlich auch mal jemand den Antisemitismus jener - eigentlich aufklärerischen - Zeit in den Blick nimmt, von dem auch Goethe beeinflusst war. Aber auch die Analyse einzelner Goethetexte, insbesondere des "Faust", findet er brillant. In der FAZ nimmt Andreas Kilb den "hochfliegenden" Anspruch Adlers nicht so ganz ernst: Der erste, der Goethe als Urvater der Moderne einführt, sei er nur wirklich nicht. Dass Goethe "Mitbegründer des europäischen Liberalismus" gewesen sein soll, findet Kilb allerdings gewagt. Dann vielleicht doch lieber Romantik? Mit Florian Bissigs Biografie des britischen Dichters Samuel Taylor Coleridge (bestellen), wird man sehr gut bedient, versichert in der FAZ Jürgen Kaube. Gut lesbar ist sie, und einige Gedichte hat Bissig überhaupt erstmals übersetzt, so der Kritiker, der bei Coleridge alles findet, was er sich von einem romantischen Dichter wünscht: Schaurige Balladen und Gedichte mit "Zauberwesen, hohem Seegang und abessinischen Fräuleins".