Vorgeblättert

Leseprobe aus Wolgang Kraushaar: Keine falsche Toleranz!

11. Die rechtsradikale Mordserie

Die inzwischen auf so dramatische Weise zu Bewusstsein gekommene Unfähigkeit der politischen Klasse, mit den fremdenfeindlichen und rassistischen Vorkommnissen angemessen umzugehen, hängt unter anderem mit einem weitgehenden Versagen der etablierten Parteien zusammen, das auch auf die durch die deutsche Einigung veränderte politische Lage der neunziger Jahre zurückzuführen ist. Die beiden Unionsparteien etwa waren während der vorletzten Amtszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl selbst noch so stark auf die Abwehr von Flüchtlingen und Asylbewerbern gepolt, dass ihre Haltung als Ermunterung der fremdenfeindlichen Kräfte verstanden werden konnte.

Was Szenen wie die von Rostock-Lichtenhagen, wo im August 1992 der rechtsextreme Mob unter den Augen von Polizei, Sicherheitsbehörden und dem christdemokratischen Innenminister tagelang ungehindert eine Hatz auf Ausländer durchführen konnte, bei einem jüdischen Überlebenden wie dem bereits erwähnten Ralph Giordano auslösten, wurde in einer seiner als Appell gegen das Wiederaufkommen kollektiver Hassausbrüche gedachten Publikationen deutlich. "Im Herzen Europas, in Deutschland, war für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr, vom September 1991 bis zum November 1992, ein quasi rechtsfreier Raum entstanden, eine Periode der Staatsabwesenheit und der gesellschaftlichen Indifferenz, in der Angehörige einer Minderheit so gut wie risikolos angegriffen, verletzt und getötet werden konnten..." Im gleichen Zeitraum sei es, so Giordano weiter, auch vermehrt zu antisemitischen Aktionen gekommen, wie etwa beim Anschlag auf das jüdische Ehrenmal in Berlin, der Sprengung des Jüdischen Museums auf dem Gelände des ehemaligen KZ Sachsenhausen-Oranienburg und dem Mord an einem Mann in Wuppertal, den man für einen Juden gehalten hatte.

Worin die politische Funktion der Inkaufnahme solch lebensgefährdender Ausschreitungen bestanden haben könnte, dürfte nur wenige Monate später deutlich geworden sein. Die beiden "Volksparteien" CDU/CSU und SPD vereinbarten im Dezember 1992 den sogenannten Asylkompromiss, der im Mai 1993 zu einer Neuregelung des im Grundgesetz verankerten Rechts auf politisches Asyl führte, die von Kritikern als eine substanzielle Aushöhlung des entsprechenden Artikels 16 angesehen wurde. Da diese unter Bundeskanzler Kohl durchgeführte Verfassungsänderung eine Zweidrittelmehrheit der Bundestagsabgeordneten erforderlich machte, war sie nur durch Zustimmung der zuvor der christdemokratischen Flüchtlingspolitik gegenüber kritisch eingestellten SPD-Opposition möglich.

Die Folgen waren einschneidend und unübersehbar. Während die Asylanträge von Flüchtlingen, die ganz überwiegend aus den ethnisch motivierten Bürgerkriegen des im Zerfall befindlichen Vielvölkerstaats Jugoslawien stammten, rasch zurückgingen, verminderte sich die Anzahl der fremdenfeindlichen Brandanschläge sehr viel langsamer. Nur die mediale Verarbeitung hatte sich währenddessen "verbessert".

Jedes Mal, wenn wieder einmal in den Morgennachrichten von einer weiteren nächtlichen Schandtat berichtet wurde, folgte anschließend wie bei einem Anrufbeantworter das Mantra "Es liegen keinerlei Hinweise auf einen fremdenfeindlichen Hintergrund" vor. Ohne Konkretes über Spuren und mögliche Tatverdächtige zu wissen, wollte man auf diese Weise offenbar dem längst etablierten Bild mörderischer Fremdenfeindlichkeit möglichst rasch einen Riegel vorschieben. Es war so, als hätte man eine mediale Brandmauer vor dem Nicht-Gewünschten errichten wollen. Das wiederum bestand freilich nicht in der Verhinderung der Schandtat, sondern in der Berichterstattung darüber.

Die vielbeschworene Zivilgesellschaft hatte sich zu dieser Zeit mit den fremdenfeindlichen Attacken, die zu Hunderten von Todesopfern führten, eher symbolisch auseinandergesetzt. Sie reagierte mit Demonstrationen und Kundgebungen, vor allem aber mit Lichterketten. Das diente der Selbstveredelung ebenso wie der Beruhigung und kam letztlich einer Form des Selbstbetrugs nahe. Man glaubte offenbar tatsächlich, mit solchen Aktionen die gefährlichen Kräfte in der eigenen Gesellschaft bannen zu können. Doch das dürfte ein gravierender Irrtum gewesen sein.

Der Verdacht, dass es eine Komplizenschaft zwischen bestimmten Politikern und Organisationen der äußersten Rechten gibt, ist in der Geschichte der Bundesrepublik des öfteren geäußert worden. Insbesondere die Vorgänge um die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen haben ein starkes Misstrauen gegenüber der Einsatzbereitschaft der Sicherheitsbehörden vor Ort und dem politischen Willen der CDU-geführten Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern genährt, überhaupt gegen die Gewalttäter vorgehen und sie verfolgen zu wollen. Als am dritten Abend mehrere Etagen des Gebäudes durch Molotow-Cocktails in Brand gesetzt waren, drohten mehrere vietnamesische Familien, der Ausländerbeauftragte der Stadt und ein Kamerateam der ZDF-Sendung "Kennzeichen D" in den Flammen umzukommen, weil ihnen die Fluchtwege versperrt waren und die telefonisch alarmierten Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr ausblieben. Die auch durch eine parlamentarische Untersuchungskommission nicht restlos aufgeklärten politisch-administrativen Hintergründe dieses Versagens der Sicherheits- und Rettungsorgane hat in der Öffentlichkeit zu einer Vertrauenskrise gegenüber den Verantwortlichen von Politik und Behörden geführt.

In Rostock gab es aufgrund glücklicher Umstände, die es den Eingeschlossenen doch noch ermöglichte, sich in letzter Minute aus eigener Kraft zu retten, keine Todesopfer. Dennoch hat die dortige Eskalation die Öffentlichkeit in einer bestimmten Hinsicht noch stärker verunsichert als die mörderischen Vorfälle von Mölln und Solingen. Die spezifische Dimension der Ereignisse von Rostock, die der SPD-Bundestagsabgeordnete Freimut Duve als ein "staatlich geduldetes Pogrom" bezeichnet hat, liegt weder in den dort begangenen Taten noch den agierenden Tätern begründet, sondern in der Tatduldung durch den dortigen Einsatzleiter der Polizei vor den laufenden Kameras mehrerer Fernsehstationen. Die Kombination von Freiraumgewährung für fremdenfeindliche Brandstifter durch die Sicherheitsbehörden und massenmedialer Verbreitung der so ermöglichten Pogromtaten hat Rostock zu einem einzigartigen Vorgang gemacht.

Die dramatischen Ereignisse vom August 1992 stellten eines der zentralen Beispiele in einem Buch mit dem Titel "Der Pakt – Die Rechten und der Staat" dar. Das Ziel des Bandes bestand darin, das "Zusammenwirken von Staat, Bonner Politik und den Rechten", diesen "in stiller, formloser, selbstverständlicher Übereinstimmung geschlossene(n) Pakt", sichtbar zu machen. Der vom Journalisten Bernd Siegler verfasste Hauptbeitrag versucht, Nachweise dafür zu erbringen, dass der staatliche Sicherheitsapparat (Politiker, Justiz und Verfassungsschutz) seinen Aufgaben nicht oder nur ungenügend nachkommt und gegen rechte Gewalttäter "mit einem Minimum an Aufwand und einem Maximum an Einfühlungsvermögen und Verständnis", wie es im Vorwort heißt, vorgegangen sei. In einer Fülle von Fällen zeigt sich, dass die Zweifel am Einsatzwillen mancher Staatsorgane durchaus begründet waren und der Verdacht, dass es sogar zur Kumpanei gekommen sein könnte, ernst genommen werden muss.

Insbesondere die bei gravierenden Straftaten mit rechtem Hintergrund immer wieder aus der Versenkung geholte These, es habe sich ja "nur" um Einzeltäter gehandelt, die sich "in ihrem jugendlichen Leichtsinn" und unter Alkoholeinfluss stehend zu solchen Vergehen "ganz" spontan hätten hinreißen lassen, hat zu einer systematischen Depolitisierung in der Beurteilung solcher Fälle geführt. Anschläge und Übergriffe von rechts wurden, soweit irgend möglich, in den Bereich jugendlicher Alltagskriminalität abgeschoben und auf diesem Wege als unpolitische Phänomene neutralisiert. Rechtsradikale und rassistische Taten wurden so verharmlost, Zusammenhänge verschleiert und Spuren ignoriert. Die exkulpierende Tendenz gegenüber den Tätern schlug sich dann in einer Vielzahl milder Gerichtsurteile nieder. Auch wenn bei einzelnen Richtern, verschiedenen Verfassungsschutzämtern und im Bundeskriminalamt durchaus Ansätze zu erkennen waren, die rechte Herausforderung ernster als bisher zu nehmen und auf sie angemessen zu reagieren, so erscheint das von Siegler gezeichnete Bild von einer gefährlichen politischen Schieflage des Sicherheitsapparats in einer Reihe von Punkten plausibel.

Dennoch müssen Einwände angemeldet werden, die den Tenor von Sieglers Darstellung in Frage stellen. So gewichtig die von ihm angeführten Beispiele auch sind, sie erscheinen in einem Licht, das nicht angemessen ist. In ihrer Quintessenz werden sie überinterpretiert. Für einen "Pakt" zwischen Rechtsradikalen und Staatsorganen, wie es der Titel des Buches unterstellt, gibt es jedenfalls keinerlei Nachweis. Tatduldungen, schwerwiegend genug, sind etwas qualitativ anderes als Formen von Kooperation. Selbst wenn man Siegler im Falle seiner Darstellung der Rostocker Eskalation folgen würde, dass es in der Nacht vom 24. auf den 25. August "eine Art Stillhalteabkommen zwischen Polizei und rassistischen Randalierern" gegeben habe, ist die Ermöglichung eines faktischen Freiraumes, aus dem heraus dann Gewaltdelikte begangen werden können, immer noch nicht gleichzusetzen mit einem operativen Bündnis. Diese qualitative Differenz darf nicht verwischt werden, wenn nicht leichtfertig Bilder von einem Netzwerk zwischen Rechten und Staat suggeriert werden sollen, aus denen sich letztlich nur haltlose Verschwörungstheorien speisen.

Die Frage, wie nahe sich die Interessen von Staatsorganen, Parteien und Rechtsradikalen sind, steht auch im Zentrum einer anderen Publikation. Der Berliner Politikwissenschaftler Hajo Funke konzentriert sich in seinem Band Brandstifter auf das Rostocker Beispiel, zeichnet die komplexen administrativen Vorgänge, die in der Berichterstattung der Presse zu kurz gekommen waren, detailliert nach und zieht daraus seine analytischen Schlussfolgerungen. Im Unterschied zu Siegler kommt es ihm dabei vor allem auf die Klärung der institutionellen Rahmenbedingungen an, die die von ihm als "Pogrom" klassifizierten ausländerfeindlichen Anschlagswellen erst ermöglichten:

"Die Herstellung eines völkisch-rassistischen Konsenses im Mob [...], das augenzwinkernde 'Verständnis' von Politikern und Teilen der Bevölkerung; die nicht nur augenzwinkernde Zuspitzung und Eskalation der Spannung durch das Verhalten des Rostocker Innensenats und des Schweriner Innenministeriums; die auch für die eigenen Polizisten gänzlich verantwortungslose Einsatzplanung vor und während der Unruhen und eine Mentalität der Drückebergerei insbesondere innerhalb der Führung der Polizei – dies zusammen schuf eine Grundeinstellung und aktuelle Haltung der Verantwortungslosigkeit, eine Stimmung der 'Passivität' [...] und einer passiv-resistenten und routinierten Abwehr der eigentlichen Aufgabe, nämlich angemessen für die Sicherheit aller einzustehen."

Bereits im Vorfeld sei es zu einer Wechselwirkung zwischen administrativem Rassismus kommunaler Behörden und alltäglichem Rassismus in der Bevölkerung gekommen, die sich gegenseitig potenziert hätten. Erst die "Erosion der administrativen, der polizeilichen und der politischen Verantwortungswahrnehmung" habe eine Dynamik in Gang bringen können, die für Nicht-Deutsche wie Deutsche lebensbedrohlich geworden sei.

"Der Staat", fasst er seine Vorwürfe zusammen, "hat das Geschehen in Rostock nicht nur geduldet. Es war ein durch bewusste Blockade von Lösungen staatlich gefördertes Pogrom: durch Inkaufnahme eines bestehenden aggressiven Vorurteilstaus; durch fahrlässige Einsatzschwächung der Polizei und durch offenen Gewaltpopulismus des für Sicherheit zuständigen Innenministers Kupfer."

Kein direktes Bündnis zwischen Staatsorganen und rechten Mordbrennern war demnach für die Eskalation im Stadtteil Lichtenhagen ausschlaggebend, sondern der paradoxe Sachverhalt einer Förderung von Gewalttaten durch die Indolenz von Behörden.
Indem es Funke gelingt, die Rahmenbedingungen eines Gewaltszenarios nachzuzeichnen und die Interaktionsmuster der an dem Szenario Beteiligten, vom Innenminister, von der Einsatzleitung der Polizei, den Brandstiftern und den Claqueuren aus der Bevölkerung, sichtbar zu machen, kann er die Logik der in dieser Eskalation freigesetzten Dynamik präziser erfassen. Ohne die Konstellation im Sinne einer operativen Verzahnung einzelner Handlungselemente überzuinterpretieren, legt er deren kollaborativen Kern in der intentionalen Übereinstimmung frei, Ausländer ohne Rücksicht auf deren Leib und Leben zu vertreiben. Was sich als einheitlicher Wille, eine gemeinsame Handlung zu begehen, nicht nachweisen lässt, tritt vermittelt über ein System kommunizierender Röhren als Koinzidenz der Intentionen in Erscheinung. Es gibt Täter, Opfer, Zuschauer und zwei Paten – Innenminister Lothar Kupfer und Polizeichef Siegfried Kordus. Hinter einem "institutionalisierten Rassismus" (Funke) steckt vermutlich eine tiefe Mentalitätsverwandtschaft, die Akteure und Claqueure mit den für die Sicherheit Verantwortlichen verbindet.

Nach den Angriffen auf das Asylbewerberheim in Hoyerswerda im September 1991 war die Zahl der fremdenfeindlichen Anschläge von 314 auf 961 nach oben geschnellt und nach der Pogromwoche von Rostock im August 1992 war sie von 461 auf 1163 gestiegen. Der "Erfolg" der rassistischen Übergriffe – in Hoyerswerda mussten die Asylbewerber anschließend die Stadt verlassen, und in Rostock konnten sich rechtsradikale Akteure unter dem Beifall von Anwohnern Abend für Abend in Szene setzen – animierte, medial vermittelt, ganz offensichtlich zu Nachfolgetaten. Die Botschaft dieser Aktionen war von zahlreichen Sympathisanten verstanden worden. Dass sie eine Kette von Nachahmungstaten auszulösen vermochten, ist ein Indiz für den Resonanzboden derartiger Aktionen.

Ein anderes bedenkenswertes Phänomen war die unverhohlene Inanspruchnahme der fremdenfeindlichen Aktionen durch zwei Landespolitiker und ihre Instrumentalisierung zu parteipolitischen Zwecken. Der später wegen seines Versagens bei den Rostocker Vorfällen zurückgetretene Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lothar Kupfer, erklärte am 25. September 1992 in dem vom WDR ausgestrahlten Fernsehmagazin ZAK: "Die Rechten haben bewirkt, die Politiker dafür zu sensibilisieren, dass das Asylrecht eingeschränkt wird und dass das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung an erster Stelle steht – nicht nur in Ostdeutschland." Und der Berliner Innensenator Dieter Heckelmann (CDU) stieß mit der Bemerkung ins selbe Horn: "Was sich in den Zustimmungsbekundungen in Rostock geäußert hat, ist nicht Rechtsradikalismus, Ausländerfeindlichkeit oder gar Rassismus, sondern der vollauf berechtigte Unmut über den Massenmissbrauch des Asylrechts." Die Journalistin Charlotte Wiedemann zog daraus in einem Beitrag über das Wechselspiel zwischen den Bonner Parteien und dem Rechtsradikalismus die Schlussfolgerung, dass es eine symbolische Beziehung zwischen beiden gäbe: "Wie in einem Verbundsystem kommunizierten [...] die rassistischen Ressentiments der Bevölkerung und der politischen Elite mit den Gewalttätigkeiten der Rechtsradikalen." Dieses Symptom hatte einen Zeit lang einen Namen, den Namen einer winzigen, rund 40 Kilometer östlich von Berlin gelegenen Gemeinde, der inzwischen längst in Vergessenheit geraten ist.

Der 260 Einwohner zählende Ort heißt Dolgenbrodt. Auch dort sollten Asylsuchende eine Unterkunft finden, 85 an der Zahl. Einen Tag bevor sie eintrafen, wurde das dafür vorgesehene Gebäude angezündet, brannte aus und war dadurch unbewohnbar geworden. Der oder die Täter konnten unerkannt entkommen. Der Brandherd war noch nicht ganz ausgeglüht, als sich am 1. November 1992 ein Teil der Bewohnerschaft in der Dorfkneipe einfand, weil es für sie nun offenbar etwas zu feiern gab. Dolgenbrodt war durch den Brandanschlag "ausländerfrei" geblieben. Schnell machte das Gerücht die Runde, dass der Brand bestellt worden sei, ja, dass man dafür sogar gezahlt habe.

Natürlich wollte das niemand zugeben. Aber einfach abstreiten, dass sich die Mehrzahl der Einwohner für den Brandanschlag ausgesprochen hatte, ging auch nicht mehr. Denn eine Woche zuvor hatte man eine Dorfversammlung abgehalten, um darüber zu beraten, wie man den Bezug der Ausländerunterkunft am besten verhindern könnte. Dabei soll der Satz gefallen sein: "Am besten das Haus würde abbrennen..." Anschließend soll geklatscht worden sein. Niemand hatte Einspruch dagegen erhoben. Dann war geschehen, was offenbar im Sinne der Mehrheit unter den Einwohnern war. Wer aber hatte die Asylunterkunft angezündet?

Da wegen der Brandstiftung der Staatsschutz ohnehin ermitteln musste, konnte man auch nicht die Augen davor verschließen, dass in der Gemeinde angeblich Geld dafür gesammelt worden war. Und es gab tatsächlich auch eine Summe, die genannt wurde. Eine taz-Redakteurin bezifferte sie mit 2.000 DM. Aber es gab auch einen Tatverdächtigen. Einen Rechtsradikalen, vermutlich den einzigen, den man in Dolgenbrodt hatte nennen können, den Skinhead Silvio J., ein Mitglied der nur wenige Tage später am 29. November von Bundesinnenminister Rudolf Seiters wegen ihrer "Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus" verbotenen Nationalen Front. Der Skinhead war offenbar stolz auf das, was er getan hatte. Jedenfalls brüstete er sich in diversen Lokalen mit seiner Brandstiftung. Und es gab Zeugen, die seinen auffällig weißen Golf GTI in der Tatnacht vor dem Flüchtlingsheim gesehen haben wollten.

Als das alles bekannt geworden war, schritt auch die Staatsanwaltschaft zur Tat und stellte einen Haftbefehl aus. Der Skinhead wurde verhaftet und saß elf Monate lang in Untersuchungshaft. Trotz einer Reihe von Indizien blieb er bei seinem Prozess vor dem Jugendgericht Potsdam hart und stritt alles ab. Er kam wieder auf freien Fuß. Zur Begründung hieß es, dass die Beweislage nicht ausreichend sei. Doch genau diesen Punkt sah der Bundesgerichtshof in Karlsruhe anders. Er stellte fest, dass eben diese Beweise von dem Potsdamer Gericht nur ungenügend gewürdigt worden seien. Es kam zur Neuverhandlung, diesmal vor dem Landgericht Frankfurt an der Oder. Das Landgericht verurteilte den mittlerweile 21-jährigen Silvio J. am Ende zu einer milden Strafe, einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung. Wegen Brandstiftung in Tateinheit mit der Herstellung von Brandsätzen. Die Dolgenbrodter Dorfbevölkerung wurde in der Urteilsbegründung vom Gericht ausdrücklich als mitverantwortlich für das Geschehen in der Brandnacht genannt.

Auch der stellvertretende SPD-Vorsitzende und spätere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hatte sich zu dem Fall in der brandenburgischen Provinz, auf den sogar die internationale Presse aufmerksam geworden war, geäußert. Als er in einem Interview darauf einging, benutzte er das gleiche Bild von den kommunizierenden Röhren, das auch die erwähnte Journalistin verwendet hatte.

Thierse ließ es sich nicht nehmen, genauer zu erläutern, was er an demokratischer Gefährdung im Zusammenwirken von Brandstiftern und der Bevölkerung zu erkennen glaubte:

"Das Bestürzende an Dolgenbrodt ist das Moment von Normalität. Rechtsradikale können sich offenbar wie Fische im Wasser bewegen. Da gibt es einen diffusen Untergrund einer kleinbürgerlichen, anständigen Normalität, aus der Zustimmung, Deckung, Verdrängung, Verschweigen kommt oder mehr. Die Rechtsradikalen exekutieren in einer Art von osmotischem Prozess nur noch eine Emotion, die ohnehin in der Bevölkerung da ist."

Die Ressentiments und Hassgefühle, die zwischen politischen Biedermännern, rechtsradikalen Brandstiftern und Animateuren wie Claqueuren in der Bevölkerung ausgetauscht wurden, waren eine gefährliche Botschaft.

Das Modell der kommunizierenden Röhren verrät, dass es jenseits des eilfertig verbreiteten Bildes von den fremdenfreundlichen Deutschen ein zumindest in Ansätzen funktionierendes ethnozentrisches System geben muss. Die politische Kraft, der es gelingt, die hier zirkulierenden Emotionen als Parteiorganisation in den Griff zu bekommen und auf parlamentarischem Wege auszuschöpfen, würde nicht nur ein erfolgversprechendes Modell etablieren, sondern vielleicht sogar mit an die Hebel der Staatsmacht gelangen können.

Das Exempel von Lampertheim

Doch es hat zur selben Zeit auch nicht an exponierten Fällen in den alten Bundesländern gefehlt. So war in der Nacht vom 30. auf den 31. Januar 1992 in einem Flüchtlingswohnheim in der südhessischen Kleinstadt Lampertheim ein Brand ausgebrochen. Als die Feuerwehr eintraf, stand das Treppenhaus des Altbaus bereits lichterloh in Flammen. Wegen der extremen Hitzeentwicklung konnten die Feuerwehrleute nichts mehr ausrichten – das Gebäude brannte bis auf die Grundmauern nieder. Von den im Haus untergebrachten Asylbewerbern hatten sich 17 in Sicherheit bringen können. Eine Familie aus Sri Lanka konnte jedoch nicht ausfindig gemacht werden. Am späten Vormittag wurden die verkohlten Leichen eines jungen Ehepaares und ihres noch nicht einmal ein Jahr alten Kleinkindes gefunden. Sie waren bis zur völligen Unkenntlichkeit verbrannt, das Geschlecht des Babys konnte nicht mehr bestimmt werden.

Auf der Suche nach der Ursache des Brandes schalteten sich neben der Kriminalpolizei Heppenheim sofort auch Beamte des hessischen Landeskriminalamtes ein. Nach einigen Tagen Informationssperre – die drei Toten waren inzwischen klammheimlich in Mannheim beerdigt worden – gelangten sie zu dem Ergebnis, dass der Brand von einer in einen Blecheimer geworfenen Zigarettenkippe ausgelöst worden sein müsse. Es handle sich deshalb um einen Fall von "Selbstentzündung"; eine Fremdeinwirkung müsse nach dem bisherigen Ermittlungsstand ausgeschlossen werden.

Die Meldung wurde von den meisten Bewohnern des im Landkreis Bergstraße gelegenen Städtchens mit Erleichterung aufgenommen. Niemand hatte Interesse daran, dass Lampertheim durch den Tod der Kleinfamilie aus Sri Lanka in die Schlagzeilen kommen würde. Von der Presse einen fremdenfeindlichen Stempel aufgedrückt zu bekommen, wäre ein Makel, der sich auch durch eine noch so intensive Fremdenverkehrswerbung über Jahre hinweg nicht ausgleichen ließe. Doch es gab auch skeptische Stimmen gegenüber dem vorläufigen Ermittlungsergebnis. Eine Reihe von Zeugen hatte von Anfang an die Vermutung geäußert, dass es sich hier um einen fremdenfeindlichen Brandanschlag handeln müsse; auch Feuerwehrleute direkt vor Ort waren dieser Meinung.

Für diese These sprach nicht nur das Objekt des Brandes, sondern auch der Zeitpunkt: 59 Jahre zuvor waren in dieser Nacht Zehntausende begeisterter Nazis in Berlin mit Fackeln durch das Brandenburger Tor gezogen – der 30. Januar war schließlich der Jahrestag von Hitlers Machtergreifung. Wie weit die NS-Vergangenheit in Lampertheim noch in der Nachkriegszeit eine Rolle gespielt haben muss, lässt sich an zwei Vorfällen ablesen, auf die der Herausgeber der Deutschen Rundschau, Rudolf Pechel, am 21.November 1955 in einer Sendung des Süddeutschen Rundfunks aufmerksam gemacht hat. Danach ist es in der Kleinstadt, die einst Adolf Hitler mit Stolz gemeldet hatte, sie sei die erste "judenfreie" Stadt im Deutschen Reich, zehn Jahre nach Kriegsende einerseits zu antisemitischen Demonstrationen gegen einen jüdischen Schriftsteller und andererseits zum begeisterten Empfang eines als Kriegsverbrecher verurteilten Lampertheimers anlässlich dessen Entlassung aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft durch den Bürgermeister und die Einwohnerschaft gekommen. Hinzu kam noch ein weiterer Punkt.

In der Brandnacht war, nur wenige Straßen von dem Flüchtlingswohnheim entfernt, die Lampertheimer Geschäftsstelle der Arbeiterwohlfahrt, dem Träger des Heims, mit ausländerfeindlichen Parolen beschmiert worden. Außerdem hatte ein Sprecher der Heppenheimer Polizei am Tag nach dem Brand Journalisten darauf hingewiesen, dass bereits im Herbst 1991 eine Reihe von für Flüchtlinge eingerichtete Wohncontainer angezündet und erst wenige Wochen zuvor im benachbarten Bensheim Skinheads wegen eines Brandanschlags auf das dortige Asylbewerberheim festgenommen worden waren. Doch all diese gravierenden Hinweise auf einen möglichen fremdenfeindlichen, vielleicht sogar rechtsradikalen Hintergrund blieben unberücksichtigt. Die Toten von Lampertheim tauchten deshalb auch in keiner Statistik über fremdenfeindliche Anschläge und ihre Opfer auf.

Mehrere Monate danach, im November 1992, trat die Staatsanwaltschaft Darmstadt auf einmal mit einem "modifizierten Ergebnis" an die Öffentlichkeit. Zwei Lampertheimer Jugendliche, hieß es nun, hätten gestanden, aus Wut über eine von einem Asylbewerber nicht eingehaltene Verabredung den Brand gelegt zu haben. Sie hätten dem Heim deshalb um fünf Uhr morgens "einen Besuch" abgestattet, dabei ein wenig "herumgeblödelt" und überlegt, "wie das wohl wäre, einen Brand zu legen." Einer habe dann einen Lappen angezündet, ihn kurz darauf wieder ausgetreten, doch offenbar nicht vollständig. Denn dann habe ein Papierkorb gebrannt und wenig später das gesamte Treppenhaus. Die Staatsanwaltschaft kam angesichts dieses Geständnisses zu dem Schluss, dass es sich bei dem vorliegenden Fall um "fahrlässige Brandstiftung aus Doofheit" handle. Mit Sicherheit könne "ein politisches Motiv" ausgeschlossen werden. Die Überprüfungen hätten schließlich ergeben, dass die beiden Jugendlichen nicht in rechtsradikalen Kreisen organisiert seien.

Ein Lampertheimer Bürger fand diesen Abschlussbericht über das Ermittlungsergebnis so empörend, dass er sich mit einem ausführlichen Brief an die Frankfurter Rundschau wandte. Diese druckt ihn unter der Überschrift "All diese Umstände wurden minutiös ignoriert" in ihrer Ausgabe vom 10. November 1993 ab. Dazu wurde der Staatsanwaltschaft gegenüber der Vorwurf erhoben, sie habe den Tätern den Persilschein "nicht rechtsextrem" ausgestellt. Offenbar könne nicht sein, was nicht sein dürfe. Damit würde die Statistik der Bundesregierung über Mordtaten aus rassistischen Motiven verfälscht.

Genau dieser Verdacht war kurz zuvor von der innenpolitischen Sprecherin der PDS im Bundestag, Ulla Jelpke, artikuliert worden. Auf einer Pressekonferenz hatte sie eine Statistik vorgestellt, die auf der Auswertung von Presseberichten beruhte, und diese mit der offiziellen Regierungsstatistik verglichen. Danach sollte die Anzahl der von Rechtsradikalen umgebrachten Menschen mehr als doppelt so hoch ein. Während das Bundesministerium für die Zeit von 1990 bis 1993 auf 30 Todesopfer gekommen war, hatte sie für denselben Zeitraum insgesamt 75 Todesfälle aufgelistet. Ihr Vorwurf lautete, die Bundesregierung versuche, wo immer nur möglich, das Ausmaß rassistischer Gewalt herunterzuspielen. Die Statistiken würden "bereinigt" und politische Hintergründe für die Mordtaten nach Möglichkeit bestritten.

Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis war, freilich ohne politische Vorwürfe damit zu verbinden, bereits ein Jahr zuvor der Präsident des Bundeskriminalamtes, Hans-Ludwig Zachert, gekommen. In einem Artikel für das Fachorgan Die Polizei hatte er geschrieben, dass es wegen des unterschiedlichen Meldeverhaltens der Polizeidienststellen erhebliche Zweifel gebe, dass dem BKA als der zuständigen Zentralstelle alle fremdenfeindlichen Straftaten bekannt gegeben würden. Diese würden ganz offensichtlich "nicht einheitlich als politisch motivierte Taten" bewertet.

Eine solche Praxis, die sich dem Verdacht aussetzt, beabsichtigte Camouflage zu betreiben, hat in der Bundesrepublik eine lange Tradition. Seit dem Ende der vierziger Jahre ist die nicht abreißende Kette der Schändung jüdischer Friedhöfe von den zuständigen Polizeibehörden zumeist mit der Erklärung abgetan worden, dass dies die Tat spielender Kinder gewesen sein müsse. Antisemitische oder rechtsradikale Hintergründe waren oft auch dann nicht in Erwägung gezogen worden, wenn sich herausstellte, dass die zentnerschweren Grabsteine von Kindern schon allein aus physischen Gründen nicht hätten umgestürzt werden können.

Kanzler Kohls Beileidsverweigerung und deren Fundierung in einer Abschiebementalität

Geradezu provokativ musste Bundeskanzler Kohls beharrliche Weigerung wirken, an der Trauerveranstaltung für die Mordopfer von Solingen, den toten türkischen Frauen und Kindern, teilzunehmen. Ein Regierungschef, der es sich nicht hatte nehmen lassen, der Umbettung eines vor zwei Jahrhunderten verstorbenen preußischen Königs beizuwohnen, ließ sich trotz aller Aufforderungen nicht dazu bewegen, den Hinterbliebenen von Opfern rassistischer Brandanschläge sein Beileid auszudrücken. Das gab eine Haltung zu erkennen, die für das Verhältnis von Deutschen zu Ausländern, zu Nation und Gesellschaft, Geschichte und Gegenwart markant war. Krönender Abschluss dieser demonstrativen Verweigerung war die Bemerkung, die Kohls Pressesprecher Dieter Vogel den nach einer Antwort drängenden Journalisten entgegenhielt, dem Kanzler sei ein derartiger "Beileidstourismus fremd".

Ein halbes Jahr zuvor hatte sich unter dem Eindruck der nicht abreißenden Kette fremdenfeindlicher Mordanschläge ein prominenter Holocaust-Überlebender in einem offenen Brief an den Bundeskanzler gewandt, um ihn zu einem entschlossenen Handeln gegenüber dieser die Demokratie gefährdenden Serie aufzufordern und dabei eine ähnliche Erfahrung gemacht – Kohl reagierte nicht persönlich, sondern ließ im Duktus von Offizialerklärungen, die keinerlei Problembewusstsein verrieten, Statements verbreiten.

Der Brief war von dem 1923 in Hamburg geborenen Journalisten, Fernsehdokumentaristen und Autor Ralph Giordano verfasst worden, dem es zusammen mit seiner jüdischen Familie gelungen war, in einem Kellerversteck die NS-Herrschaft zu überleben. Unter dem unmittelbaren Eindruck des am Tag zuvor verübten Mordanschlags von Mölln verfasste er am 23. November 1992 ein Schreiben an Helmut Kohl, in dem es hieß:

"Da wir nach den jüngsten Mordfällen den Glauben und die Hoffnung verloren haben, dass Sie und Ihre Regierung einen wirksamen Schutz gegen den Rechtsextremismus und seine antisemitischen Gewalttäter bieten könnten, teile ich Ihnen mit, dass nunmehr Juden in Deutschland, darunter auch ich, dazu übergegangen sind, die Abwehr von potenziellen Angriffen auf unsere Angehörigen und uns in die eigenen Hände zu nehmen, und zwar bis in den bewaffneten Selbstschutz hinein. Ich warne Regierung, Bundestag, Länderparlamente, Verfassungsschutz und Polizei davor, die Entschlossenheit dazu zu unterschätzen. Nie wieder werden wir Überlebenden des Holocaust unseren Todfeinden wehrlos gegenüberstehen – niemals! Wir machen Sie und Ihre Regierung für alles verantwortlich, was daraus auf Grund der unentschuldbaren staatlichen Schwäche gegenüber den rechten Mördern entstehen könnte."

Das war eine dramatische Intervention, die die Mordserie mit einer möglichen Bedrohung der wenigen noch in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden verknüpfte und ankündigte, sich im Falle weiterer Schutzlosigkeit bewaffnen und selbst verteidigen zu wollen. Um begreifen zu können, warum ein solch ausgesprochen friedfertiger Mann sich zu einem bis zum bewaffneten Selbstschutz reichenden Appell hatte verleiten lassen, muss man nur einen Blick auf die an ihn gerichteten Drohbriefe und -grafiken werfen, die er zum Teil in faksimilierter Form dokumentiert und veröffentlicht hat. Dort ist etwa eine in fetten Lettern mit einem Kreuz versehene Annonce abgebildet, in der es heißt:

Todesmitteilung
Am 30.04.1993 verstarb erwartet
der Nestbeschmutzer
Ralph Giordano
Durch seinen Tod wurde Köln
ein wenig sauberer.
Statt Spenden erbittet der Jude
sein Vermögen zu Gunsten der PLO
zu verwenden und ihn in Auschwitz
beizusetzen wo er hingehört.

In diesem "Stil" geht es in der ausgewählten Sammlung von Dokumenten noch zehn Seiten lang weiter. Für Giordanos Reaktion auf die fremdenfeindlichen Mordanschläge wie in Mölln und Solingen waren diese gegen ihn persönlich gerichteten Drohungen sicher von Bedeutung. Einiges mag in seinem an den Kanzler gerichteten Brief überzogen gewesen sein – es war die subjektive Reaktion eines Holocaust-Überlebenden auf objektive, die Gesellschaft betreffende Missstände, dessen Stimme in der Öffentlichkeit von Gewicht war.

Die erste Reaktion kam aus dem Konrad-Adenauer-Haus in Bonn und war vom Generalsekretär der CDU, dem Pfarrer Peter Hintze, verfasst worden. Darin hieß es: "Verfehlte Schuldzuweisungen sind kein Beitrag zur Problemlösung. Die Angriffe von Ralph Giordano auf den Bundeskanzler sind unerträglich und entbehren jeder Grundlage." Danach folgte eine Rechtfertigung der Politik Kohls durch eine Berufung darauf, dass der Bundeskanzler schon immer "für eine entschlossene Bekämpfung jeglicher Form des Extremismus" stehe. Dann traf eine zweite Verlautbarung ein. Sie stammte aus dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, war allerdings gezeichnet von Friedrich Bohl, dem Chef des Bundeskanzleramtes.

Darin hieß es zunächst, dass es "gerade für einen Intellektuellen" eine besondere Verpflichtung gebe, sich für die Wahrheit einzusetzen und den Rechtsstaat zu verteidigen. Und weiter, wenn Schriftsteller und Journalisten der Gewalt nicht entsagten, dann werde das Gemeinwesen schweren Schaden nehmen. Das Gewaltmonopol des Staates dürfe nicht "zersetzt" werden. Deshalb seien die Intellektuellen insgesamt dazu aufgerufen, sich von Gewalt und Gewaltbereitschaft zu distanzieren. Und dann im Tone einer persönlichen Reaktion: "Es ist geradezu unerträglich, den Kanzler der Bundesrepublik Deutschland für Gewalttaten verantwortlich zu machen, die seinem politischen Leben und Wirken zutiefst widerstehen. Ich weise diese ehrverletzende Diffamierung mit aller Entschiedenheit und großer Empörung auf das schärfste zurück." Den Vorwurf der "Unerträglichkeit" wies nun Giordano in seiner Buchpublikation zurück, indem er ihn umkehrte und Kohl vorwarf, dass er es als "unerträglich" empfunden habe, wie der es 1985 habe fertigbringen können, den damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan in Bitburg an den Gräbern gefallener Soldaten, darunter Angehörigen der Waffen-SS, zu empfangen; wie er es fertigbrachte, den wegen seiner NS-Vergangenheit massiv in die Kritik geratenen österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim demonstrativ in Bonn zu empfangen und die Kritik jüdischer Überlebender mit der patzigen Bemerkung, welche Gäste er einlade, bestimme er immer noch selbst, zurückzuweisen.

In welchem Zusammenhang das eingeschnappte Verhalten Bundeskanzler Kohls wohl gestanden haben dürfte, wurde erst im Sommer 2013 erkennbar, als Spiegel Online aus Geheimdokumenten zitierte, die im britischen Nationalarchiv lagerten und auf eine Begegnung zurückgingen, die sich im Herbst 1982 abgespielt hatte. Der am 1. Oktober 1982 durch das konstruktive Misstrauensvotum gegenüber der Vorgänger-Regierung unter Helmut Schmidt an die Macht gelangte Kohl hatte beim Besuch der britischen Premierministerin Margaret Thatcher am 28. Oktober 1982 in Bonn einen Schritt angekündigt, den er der bundesdeutschen Öffentlichkeit gegenüber unbedingt geheim halten wollte. In dem von Thatchers Privatsekretär A.J. Coles, der neben den beiden Regierungschefs und Kohl-Berater Horst Teltschik als einziger bei der Unterredung zugegen war, angefertigten und als "secret" eingestuften Protokoll hieß es, dass Kohl gesagt habe: "Über die nächsten vier Jahre werde es notwendig sein, die Zahl der Türken um 50 Prozent zu reduzieren – aber er könne es noch nicht öffentlich sagen. [...] Es sei unmöglich für Deutschland, die Türken in ihrer gegenwärtigen Zahl zu assimilieren." Nachdem die in Großbritannien vorgeschriebene Geheimhaltungsfrist abgelaufen war, hatten die National Archives dieses für Briten eher uninteressante, aber in Deutschland angesichts des dauerhaften innenpolitischen Konfliktthemas Migration brisante Dokument freigegeben.

Der in seinen letzten Lebensjahren gesundheitlich schwer angeschlagene Kohl hat den Inhalt des britischen Geheimprotokolls vier Jahre vor seinem Tod nicht nur bestätigt, sondern auch noch seine darin zum Ausdruck gebrachte Einstellung zu verteidigen versucht. In einer von seinem Berliner Büro am 2. August 2013 verbreiteten Erklärung hieß es, dass seine damalige Ankündigung, "auch in Deutschland bereits Teil einer hinreichend und breit geführten Debatte der Ausländerpolitik" gewesen sei. Ob und wenn ja, wie der im Dezember 2014 verstorbene Giordano, der sich im letzten Jahrzehnt seines Lebens mehr und mehr in islamkritischen bis -feindlichen Positionen verfangen hatte, die Kohlschen Äußerungen kommentiert hat, ist nicht bekannt.

Das im Nachhinein vielleicht Erstaunlichste war, dass Kohls nur in vertraulichen und engsten Kreisen gegenüber den aus der Türkei stammenden Arbeitsmigranten und ihren Familien eingenommene Grundposition selbst von führenden Politikern der sozialdemokratischen Opposition geteilt wurde. So hatte etwa sein Amtsvorgänger Helmut Schmidt im selben Jahr in der Illustrierten Stern erklärt: "Mir kommt kein Türke mehr über die Grenze." Und der hessische Ministerpräsident Holger Börner, ebenfalls SPD, hatte noch pauschaler und radikaler erklärt, dass der Zuzug von Ausländern "rigoros gestoppt" werden müsse. Das macht Kohls Äußerung nicht unbedingt akzeptabler, zeigt aber auf, wie verbreitet seine Einstellung auch in der Opposition war.

Kohls Grundposition bestand in einem klassischen Ethnozentrismus, der allerdings mit bestimmten kulturalistischen, möglicherweise auch rassistischen Elementen kombiniert war. In der Thatcher-Unterredung begründete er laut Coles-Protokoll seine Haltung gegenüber den Türken damit, dass sie "aus einer sehr andersartigen Kultur" stammten. Im Gegensatz zu ihnen sei es kein Problem gewesen, etwa Portugiesen und Italiener, selbst Südostasiaten zu integrieren. Als Beispiele für das mit den zugewanderten Türken verbundene "Aufeinanderprallen zweier verschiedener Kulturen" nennt er als Probleme vor allem Zwangsverheiratungen und Schwarzarbeit. Jeder zweite von ihnen müsse deshalb gehen und für die, die bleiben würden, müsse man Deutsch-Schulungen anbieten: Diejenigen, die integriert werden wollten, müssten Deutsch lernen. Mit den aus Anatolien stammenden Zuwanderern gebe es allerdings eine große Gruppe, die weder integrationsfähig noch -willig sei.  

Als Kohl im Oktober 1982 seine Äußerungen gegenüber der britischen Premierministerin kundtat, hielt die seit dem Beginn der achtziger Jahre im Gang befindliche fremdenfeindliche und zumeist auf den "Ausländer raus"-Slogan heruntergebrochene Welle unverändert an. Zu welchen tragischen Vorfällen dies mitunter führte, war in Hamburg etwa an dem Suizid eines 16-jährigen türkischen Schülers deutlich geworden. Dieser hatte es nicht mehr ertragen können, von seinen Mitschülern als "Kanaker" beschimpft und diskriminiert zu werden. Er hatte sich deshalb eines Abends im Februar 1982 im Hobbykeller seiner Eltern erhängt. Eine ausschlaggebende Rolle soll dabei gespielt haben, dass ausgerechnet eine ihm besonders nahestehende Mitschülerin dasselbe Schimpfwort gebraucht hatte.

Mit freundlicher Genehmigung der Europäischen Verlagsanstalt

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