
Was für eine Ausgabe! 13 CDs mit
Originalaufnahmen 94 englischsprachiger Dichterinnen und Dichter, die ihre Verse lesen, singen, brüllen, rappen. Von Alfred Tennyson bis Simon Armitage, eine 130 Jahre umspannende
"Poet's Collection" (
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Kritiker schwelgten geradezu in den Aufnahmen. Die rauschen zwar manchmal gewaltig, weil die Aufnahmetechniken vor über 100 Jahren noch mäßig waren, dafür hört man mit
Walt Whitman etwa einen Zeitgenossen Georg Büchners, staunt Tobias Lehmkuhl in der
SZ. Und jeder Dichter hat beim Vortrag seinen ganzen eigenen,
modenunabhängigen Stil, erklärt er - der nicht immer mit dem Bild zusammenpasst, das man vom Dichter hat, lernt ein fasziniert Elmar Krekeler (
Welt), für den die Autoren beim Hören etwas "physisch Greifbares" bekommen. Zudem bekomme man einen wunderbaren Einblick in die
verschiedenen Idiome der englischen Sprache. In der
taz lobt Sylvia Prahl die chronologische Reihenfolge, weil sie einen
Vergleich unterschiedlicher Sichtweisen auf dieselben Themen möglich macht. Den einzelnen Gedichtvorträgen ist jeweils eine deutsche Übersetzung beigestellt, die u.a. von Hanns Zischler, Ulrike Draesner oder Martin Wuttke gelesen werden. Eine herrliche Komposition, schwärmt Alexander Cammann in der
Zeit. Hier
eine Hörprobe.

Drei wunderbare Empfehlungen zu
japanischen Gedichtbänden hat uns der Lyriker Nico Bleutge in der
NZZ beschert. Da ist zunächst ein Band mit dreihundert
"Haikus" (
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ganze Strahlkraft des Haiku vor Augen geführt, in denen sich der kurze Moment und das große ganze der Welt zu einem "kleinsten Sprachgewächs" zusammenfinden. Thema kann alles sein, von der Grasmücke bis zum Mietwucher. Der Band ist "
wie Weihnachten,
Ostern und Geburtstag auf einmal. Endlich kann man mal uneingeschränkt losloben!",
freut sich André Hatting im
Dlf Kultur. Auch die Aufmachung des Bandes hat ihn schwer beeindruckt: drei Abdrucke pro Gedicht (im Original, in der Übersetzung und als Transliteration), daneben jeweils ein Kommentar, Kurzbios, knappe Erläuterungen der verschiedenen Haiku-Schulen - "mehr geht nicht", ruft der beglückte Rezensent. Und Bleutge gibt uns noch eine
kurze Kostprobe von Matsuo Bashu mit auf den Weg, passend zur Jahreszeit: "Erster Winterregen / Selbst der Affe hätte gerne / ein Strohmäntelchen."


Viel älter als der Haiku ist der Tanka. Diese Gedichtform ist über 1300 Jahre alt und hat mehr Silben als der Haiku (31 statt 17). Einer der berühmtesten neueren Tanka-Dichter war
Wakayama Bokusui, geboren 1885, gestorben 1928 wohl an den Folgen seiner Alkoholsucht. Bokusui hat in seinem 43-jährigen Leben Tausende von Tankas geschrieben. Für den Band
"In der Ferne der Fuji wolkenlos heiter" (
Leseprobe,
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so Katharina Borchardt auf
SWR 2. Bokusai lässt uns Mückenspiralen sehen und Wildentenschwärme hören, schreibt Nico Bleutge, während er dem unruhigen alkoholkranken Dichter auf seinen Wanderungen folgt. Bokusais Tanka sind "kleine,
wundervolle Kraftpakete, die der Ambiguität ihrer Motive volle Rechnung tragen",
lobt David Westphal im
Gedichtblog. Frank Dietschreit gibt uns im RBB kulturradio ein Beispiel: "Mich selbst betrachte ich/ mit Hohn und Spott/ Doch vor meinen Augen/ sind die Kinder selbstvergessen/ in ihr Spiel vertieft". Wärmstens empfohlen wird auch
Ishikawa Takubokus Band
"Einsamer als der Wintersturm" (leider schon vergriffen, versuchen Sie es antiquarisch oder
direkt beim Verlag), den Ruth Linhart aus gut 2000 Tankas des Dichters zusammengestellt und übersetzt hat. Auch Takuboku war unglücklich, starb früh (1912, mit 26 Jahren) und modernisierte den Tanka, indem er Begriffe aus der Alltagssprache einband. Bei ihm haben die Wörter eine "Eigenmacht", so Bleutge. In einem sehr schönen Text für
Signaturen porträtiert Timo Brandt den Dichter als modern-komplizierten Menschen und er macht eine wichtige Beobachtung: Tankas sind für sich allein genommen keine Meistergedichte. Sie wollen nicht herausragen, erklärt er, sondern bestimmte Momente festhalten, "
kleine Eruptionen" der Aufmerksamkeit, die man sonst schnell vergisst, die in ihrer Fülle aber das Leben ausmachen.

Neue Wege in der deutschsprachigen Lyrik geht
Hannes Bajohr mit seinem Band
"Halbzeug" (
Leseprobe,
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FAZ und
taz. Der Autor experimentiert mit
Datenprofilen,
Märchenfundus und
Rechtschreibhilfen, das ist nah an der Konzeptkunst, macht aber mehr Spaß, versichert
FAZ-Kritiker Christian Metz. Im
Dlf Kultur ist André Hatting
hin und weg: Endlich mal jemand, der sich literarisch intelligent mit der Digitalisierung beschäftigt. In fünf Kapiteln untersucht Bajohr mithilfe von
Computerprogrammen die Wahrnehmungsveränderungen, die mit der Digitalisierung einhergehen, erzählt Hatting und nennt ein Beispiel: "Im originellsten Kapitel, '
maschinensprache', komponieren die Programme medienübergreifend. Bajohr füttert zum Beispiel eine Audioschnittsoftware mit
Eugen Gomringers berühmtem Gedicht 'schweigen'. Die Textdatei wird dabei vom Programm als Tondatei behandelt und entsprechend in Geräusche umgewandelt, nachzuhören auf einem im Buch angegebenen Link." Hier einige
Hörproben bei
Soundcloud.
Signaturen-Kritiker Timo Brandt
juckte es nach der Lektüre förmlich "in den Fingern, selbst eine paar der vorgestellten Verfahren auszuprobieren".


Prächtig amüsiert hat sich
FAZ-Kritiker Patrick Bahners mit
Ulf Stolterfohts "fachsprachen XXXVII-XLV" (
bestellen), die mit Hilfe eines
schwäbischen Doppelgängers etwa Gottfried Benns Poetik aufs Korn nehmen. Stolterfoht "ist keine Assoziation zu weit und kein Gedankengang zu lang",
freut sich Andre Hatting im
Dlf Kultur. "Kirchenarchitektur und Poetik zum Beispiel werden
zur nkl amalgamiert, das steht für 'neue konfessionelle lyrik'". Hier
erklärt Hatting das Konzept von Stolterfohts Fachsprachen. Lob auch für die
"zitatgedichte" (
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Mario Gmür, der Meldungen aus den Lokal- oder Sportteilen der Tageszeitungen durch Kleinschreibung, Verzicht auf Satzzeichen und Zeilensprünge verändert und neu auflädt. Da wird die Journalistenprosa plötzlich zur goldenen Lyrik,
staunt NZZ-Kritiker Urs Bühler. "Unverhofft erhält eine wohlstandsgesellschaftliche Banalität - wie etwa in 'bauch', gewonnen aus einem Text von Bettina Weber aus dem
Tages-Anzeiger -
existenzialphilosophische Tragweite",
amüsiert sich Adrian Riklin in der woz und zitiert: "ein bauch lässt sich/ bis zu einem gewissen grad/ kaschieren/ wenn das hemd darüber fällt".
Anzuzeigen sind außerdem Neuübersetzungen einiger Klassiker wie
John Keats'
"Endymion" (
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Marcel Prousts "Poèmes" (
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Gedichte von
Boris Pasternak (
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"Blätter und Blasshühner", eine Auswahl der Gedichte
Alberto Nessis (
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Gesamtausgabe der Gedichte
Paul Celans (
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Tagtigall, der Lyrikkolumne des
Perlentauchers,
erzählt Marie Luise Knott von ihrem Versuch, sich der
georgischen Lyrik zu nähern.


Und schließlich sei noch hingewiesen auf zwei Bände
über Lyrik beziehungsweise Lyriker:
FAZ-Kritiker und Germanist
Christian Metz erklärt in
"Poetisch denken" (
bestellen) an vielen Beispielen, warum die deutsche Lyrik im 21. Jahrhundert
ein Hoch erlebt (hier
ein Auszug). Und der Germanist
Dirk Skiba zeigt in seinem Band
"Das Gedicht & sein Double" (
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Lyrikszene im Porträt. Die 100 Fotografierten durften sich aussuchen, wie sie dargestellt werden wollten, was den Band für
FR-Kritikerin Cornelia Geißler
ebenso lebendig macht wie die Leidenschaft des fotografierenden Germanisten. Jedem Porträt ist außerdem ein Gedicht beigestellt, viele sind hier zum ersten Mal veröffentlicht, so Geißler, die versichert: "Dieses Buch lädt
zum Verweilen ein."