Bücher der Saison

Herbst 2003 - Biografien

27.11.2003.
Romane und Lyrik / Russland-Schwerpunkt / Sachbücher / Kinder- und Jugendbücher / Biografien

Dies ist auch ein Herbst der Biografien. Ralph Dutlis großes Werk über Ossip Mandelstam haben wir bereits im Russland-Schwerpunkt vorgestellt. Auf dieser Seite geht's um Kennedy und Kant, Musil und Mahler, "Vesper, Ensslin, Baader" und natürlich Theodor W. Adorno. Zwei originelle Projekte werden zudem vorgestellt: die Biografie des Vaters von Geert Mak und die des Bruders von Uwe Timm, sowie zwei Autobiografien, eine boshafte von Fritz J. Raddatz und eine historische von Eric Hobsbawm.

"Vesper, Ensslin, Baader" bestellen) lässt sich vielleicht nicht im engeren Sinne als Biografie beschreiben - das Buch ist eher das Porträt einiger 68-er und eines spezifischen, terroristischen Wahnsinns, der Ende der sechziger Jahr in Deutschland ausbrach. Gerd Koenen hat für dieses Buch neue Dokumente des Autors Bernward Vesper aufgearbeitet, der einerseits Sohn eines Nazischriftstellers, andererseits der erste Mann Gudrun Ensslins war - und es zeigen sich bestürzende Verbindungslinien zwischen der Radikalität der Nazis und der ihrer Kinder. Alle Zeitungen haben das Buch groß besprochen. In der Zeit nennt Fritz J. Raddatz den Autor einen "packenden Erzähler". In diesem Zusammenhang sei auch hingewiesen auf Kurt Oesterles "Stammheim" (bestellen), die Geschichte des Vollzugsbeamten Horst Bubeck, der die RAF-Mitglieder bewachen musste. Ein "furchtbares", aber auch "längst fälliges" Buch, befindet Renee Zucker in der taz. Deprimierend, "weil man erkennt, wie sehr man verstrickt, blind und blöd war in jenen Jahren".

Fast 800 Seiten dick ist Robert Dalleks Biografie über John F. Kennedy (bestellen). Die taz und die Zeit sind nicht so begeistert ("Eine moderne Biografie", erklärt Alexander Cammann in der taz, "hätte den Strukturwandel der amerikanischen Gesellschaft mitgedacht und einbezogen."), aber in der FAZ feiert Hans-Peter Schwarz das Buch als die "mit Abstand beste Kennedy-Biografie". Er lobt, dass sich der Historiker nicht von der bis heute schillernden Fassade des Präsidenten blenden lasse.

Ein "Monumentalschmöker", schreibt Oliver Pfohlmann in der taz über Karl Corinos Musil-Biografie (bestellen), allerdings: Der Band hat über 2000 Seiten und dürfte damit dicker sein als Musils "Mann ohne Eigenschaften". Aber über Musils Leben war bisher auch gar nicht so viel bekannt schreibt Pfohlmann weiter, der das Buch, wie die meisten Rezensenten, wärmstens empfiehlt. Wem 358 Seiten über Musil genügen, dem sei noch Herbert Krafts Musil-Porträt () empfohlen. SZ und der FR loben den ungewöhnlichen, ganz unakademischen Ton.

So seltsam es klingt: Aber auch eine große deutsche Biografie über Gustav Mahler fehlte (bestellen). Der Münchner Theaterwissenschaftler Jens Malte Fischer hat nun ein "überaus kluges, souveränes, wundervoll liebevolles Buch" vorgelegt, das nach Hans Wollschläger in der FAZ die Lücke schließt. Wollschläger rühmt nicht nur Fischers "Verfügung über das Material" sondern auch dessen geschmeidigen Stil. Besonders die Fähigkeit "zu fein gebosselten Charakterschilderungen" bezeichnet Wollschläger als "glänzendes Handwerk". Am "Phrasengarten der Musikwissenschaft" sieht er den Biografen sicher vorübergehen. Die SZ hat das Buch ebenfalls dringend empfohlen.

Nächstes Jahr ist Kant-Jahr - der Todestag des Philosophen jährt sich zum 200. Mal. Es sind bereits jetzt eine Reihe Biografien neu erschienen, Manfred Kühns "Kant" (bestellen) ist die gewichtigste. Sonja Asal lobt in der SZ besonders, wie Kühn die Königsberger Welt aufleben lässt, in der Kant wirkte, und wie er zahlreiche Freunde, Schüler und Kollegen Kants auftreten lässt und darüber hinaus einen "sozialen Kosmos" aus Kaufleuten, Adeligen, Universitätsangehörigen und städtischen Honoratioren entfaltet. Sehr gut besprochen wurde auch "Kants Welt" () von Manfred Geier. Geiers größter Verdienst bestehe darin, das Besondere des Kant'schen Denkens in eine gegenwärtige Sprache zu übersetzen, ohne dabei unnötig zu simplifizieren. Eine "in ihrer ruhigen Art geglückte Monografie", urteilt Ursula Pia Jauch in der NZZ.

Zum 100. Geburtstag von Theodor W. Adorno am 11. September sind mehrere Biografien erschienen. Die dickste ist mit über 1.000 Seiten "Adorno. Eine Biografie" ) von Stefan Müller-Doohm. "Redlich" wurde sie genannt, oder auch "artig" und "linear" - so richtig begeistern konnte sich kein Kritiker für diese "Dröhnung" (Christian Geyer in der FAZ). Aber immerhin als Buch, das Forschern unendlich viel Material bietet, wird es doch gewürdigt. Sprunghaft und manchmal etwas mäandernd findet die Kritik Detlev Claussens "Adorno. Ein letztes Genie" ). Doch dafür ist es auch "gehaltvoll und anregend", findet Ludger Lütkehaus in der Zeit, und Christian Geyer (FAZ) bewundert, wie Claussen es gelingt, Adornos Texte "hinter der ins Unendliche angewachsenen Sekundärlitertur wieder im Original hervortreten" zu lassen. Lorenz Jägers "Adorno. Eine politische Biografie" ) hat eine Generalthese anzubieten, jubelt Uwe Justus Wenzel in der NZZ. Andere Kritiker waren darüber weniger erfreut: Hilal Sezgin von der FR findet es geradezu gehässig. Tim B.Müller freut sich dagegen in der SZ, dass Jäger eine "populäre Biografie" Adornos gelungen sei.


Zwei sehr originelle, in der Kritik gefeierte Projekte sind hier außerdem vorzustellen.

Geert Maks Biografie des eigenen Vaters unter dem Titel "Das Jahrhundert meines Vaters" und Uwe Timms "Am Beispiel meines Bruders", in dem der Autor die Geschichte der Soldatengeneration am Beispiel des Bruders erzählt - in Deutschland wurde das Buch zum Bestseller.

"Das Jahrhundert meines Vaters" (bestellen) war in den Niederlanden, deren Geschichte des 20. Jahrhunderts der Autor Geert Mak hier am Beispiel seiner Eltern erzählt, ein ungeheurer Erfolg. Das findet der FAZ-Rezensent Andreas Platthaus durchaus erklärlich. Viel mehr werde hier nämlich verhandelt als nur die Geschichte einer Familie. Von besonderer Brisanz seien Themen wie die niederländische Kolonialpolitik in Indonesien - die in den Blick geraten muss, weil Maks Vater 1928 als Pfarrer nach Sumatra berufen wurde. Auch beim Blick auf die willige Hilfe der Niederlande bei der "Endlösung" kennt Mak keine Scheu vor nationalen Tabus. Auch Henk Raijer in der taz und Johannes Willms in der SZ waren begeistert.

Nüchterner und liebevoller, zarter und unerbittlicher sei über die deutsche Vergangenheit selten geschrieben worden, beschreibt FAZ-Rezensent Hubert Spiegel Uwe Timms Buch "Am Beispiel meines Bruders" bestellen), das er mit dem seltenen Gefühl aus der Hand gelegt hat, "einen künftigen Klassiker seines Genres" gelesen zu haben. Nein, kein Roman: ein Erfahrungsbericht über eine Erkundungsfahrt in die Vergangenheit von Timms eigener Familie. Zwei exemplarische Lebensläufe werden erzählt, der von Timms sechzehn Jahre älterem Bruder, der 1943 neunzehnjährig in Russland fiel, sowie die eigene Kriegs- und Nachkriegsgeschichte des Autors. Joschka Fischer empfahl das Buch in Elke Heidenreichs Sendung "Lesen" und machte es damit zum Bestseller.


Autobiografien

Wer sich für Klatsch und Tratsch aus der Welt der Literatur in der frühen DDR und der reifen Bundesrepublik interessiert, kommt an diesem Buch (bestellen) nicht vorbei. Selbst ein Ausbund an Eitelkeit hat Fritz J. Raddatz einen skalpellscharfen Blick auf die Schwächen seiner Zeitgenossen. Die Porträts Rudolf Augsteins oder der Gräfin Dönhoff sind so wenig liebevoll, das man sie in Erinnerung behält. Auch Hans Mayer oder der Verleger Ernst Ledig-Rowohlt werden nicht nur in vorteilhaften Farben geschildert. "Fabelhaft fesselnd", "finster-faszinierend" nennt Joachim Kaiser das Buch in der SZ, aber er ist auch ein Freund des Autors und kommt in "Unruhestifter" ziemlich gut weg!

Eric Hobsbawm gilt als einer der bedeutendsten Historiker des 20. Jahrhunderts. Aber das ist nicht das Zentralthema seiner Memoiren (bestellen), die von allen großen Zeitungen besprochen wurden. Das Leben Hobsbawms war aufregend genug, so Michael Jeismann in der FAZ: von der Jugend im Wien der zwanziger Jahre, die mit dem sozialen Abstieg und frühen Tod des Vaters endet, von der Emigration nach England bis zum eigentlichen Lebensthema, der Begeisterung für den Kommunismus, der allerdings in England, beruhigt Jeismann, eher "eine Frage von Temperament, Gefühl und gesellschaftlicher Ironie" gewesen ist als eine Sache des Klassenkampfs. Besonders gut gefallen haben dem Rezensenten die "Miniaturporträts" von Zeitgenossen, die Hobsbawm immer wieder gelingen.

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