Efeu - Die Kulturrundschau
Ein von oben kommendes Pochen
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Literatur
Schon vor zwanzig Jahren hatte Hafiz einen Prozess gegen Houellebecq angestrengt - damals ging es um den Roman "Plattform", Houellebecq hatte unter viel solidarischer Anteilnahme gewonnen. FAZ-Kritiker Niklas Bender hält es indessen für "unwahrscheinlich, dass Houellebecq wieder prominente Fürsprecher mobilisieren kann". Ihm "werden nach den Attentaten auf Bali und Charlie Hebdo sowie den 'Gelbwesten'-Protesten - Ereignissen, die jeweils Pendants in kurz zuvor veröffentlichten Houellebecq-Romanen hatten - geradezu hellseherische Fähigkeiten zugeschrieben. Kurz nach dem Gespräch mit Onfray wurden in Paris drei Kurden von einem bekennenden Rassisten ermordet. Es ist eine Sache, Attentate oder Proteste als wahrscheinlich anzukündigen, und eine andere, durch eindeutige Sympathie potenzielle Attentäter zu ermutigen und so Gewalttaten herbeizureden. Auch wenn der Mörder wohl kaum Houellebecqs Äußerungen rezipiert hat, scheint der Schriftsteller dieses Mal an einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung gewerkelt zu haben: durch Einlassungen, die Ressentiment und Gewalt rechtfertigen."
Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Besprochen werden unter anderem Timur Vermes' "Comicverführer" (taz), Finn Jobs Debütroman "Hinterher" (ZeitOnline), Bette Westeras und Sylvia Weves Kinderbuch "Auseinander" (Tsp), Tom Kummers "Unter Strom" (Standard), Peach Momokos Manga-Serie "Demon Days" (Tsp), Roland Barthes' "Proust. Aufsätze und Notizen" (SZ) und Hartmut Langes Novellensammlung "Am Osloer Fjord" (FAZ).
Film

Martin McDonaghs irisches, im Jahr 1920 angesiedeltes Drama "The Banshees of Inisherin" über eine Freundschaft, die mit einem Mal auseinander bracht, bietet oscarverdächtiges Schauspielerkino: Insbesondere Colin Farrell wird von der Kritik bejubelt. Anders als Sandra Kegel in der FAZ behauptet, war Farrell zuletzt zwar nicht als Batman zu sehen (sondern als Batmans Gegenspieler Pinguin), dennoch staunt sie, "was für ein Charakterdarsteller in ihm steckt, wenn er verzweifelt über die Zurückweisung bei seinen Tieren Trost sucht oder mit seinen buschigen Augenbrauen immer neue Ausdrücke auf sein Gesicht zu zaubern vermag. Was seine Mimik da Stück für Stück freigelegt, ist das Erschrecken über eine Bedürftigkeit, die dem jungen Mann bislang fremd war: die Scham, womöglich etwas falsch gemacht zu haben, weil er nie etwas anderes mit seinem Leben anzufangen mochte, als im Pub zu sitzen und es nett zu haben. ... Dass dieser zarte und sprunghafte, mitunter rätselhafte Film als Ganzes funktioniert, ist dem virtuosen Spiel seiner beiden Hauptdarsteller Colin Farrell und Brendan Gleeson zu verdanken."
Ähnliches schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel: "Der Begriffsstutzigkeit des Einen, versinnbildlicht in Farrells konzentrierter Monobraue, und der essentialistischen Stoik des Anderen, vom Buddha-haften Gleeson buchstäblich ausgesessen, verleihen die stumpfen Kadenzen in McDonaghs Dialogen (ungläubige Wiederholungen, Lakonie, verräterische Auslassungen) eine Eigendynamik. 'The Banshees of Inisherin' dreht sich im Grunde um eine moralische Frage, die gerade auch den Kulturbetrieb beschäftigt: Wie wägen wir menschliche Qualitäten gegenüber dem künstlerischen Schöpfungsakt ab?
Weitere Artikel: Andreas Hartmann berichtet in der taz von Tarifkonflikten bei der Berliner Yorck-Kinogruppe - was insofern pikant ist, da die betroffenen Kinos auch mit der Berlinale zusammenarbeiten und es nun zu Belegschaftsstreiks kommen könnte. Tobias Mayer sorgt sich im Tagesspiegel nach dem vorzeitigen Aus für die deutsche Netflixserie "1899" um den Fortbestand seiner Lieblingsserien.
Besprochen werden Kaspar Kasics' Schweizer Portätfilm über die Feministin Erica Jong (NZZ), die britische Agentenserie "A Spy Among Friends" (taz) und die "Star Wars"-Animationsserie "The Bad Batch" (Welt).
Kunst

Dass ausgerechnet Krefelds Kaiser-Wilhelm-Museum die experimentelle Klangkunst-Ausstellung "On Air" zeigt, gefällt taz-Kritiker Oliver Tepel, der sich mit Sinn für Ironie an der mechanischen Poesie der Klangmaschinen von Jean Tinguely und Güther Ueckers erfreut oder an der strengen Intellektualität von Bruce Nauman und John Baldessari: "Tatsächliche, unmittelbare, die Distanziertheit auch der antiakademischen Avantgarde durchbrechende Körpererfahrung suchen wenige Arbeiten. Gegen Ende der Schau trifft man auf Bernhard Leitners 'Vertical Space' aus dem Jahr 1975. Es erzeugt den Eindruck, man sei durchflossen von Klang, als würde man Teil der Töne, einem helleren, von oben kommendem Pochen und dunkleren, von unten aufsteigenden Sounds. Hermann Goepferts 'Optophonium' aus Holz, Metall, Farbe, Licht, Tonband, Lautsprechern und 57 Aluminiumplatten schafft, was sein Titel verspricht: eine audiovisuelle Science-Fiction-Fantasie der frühen 60er, so rauschhaft wie subtil."
Weiteres: Im Standard berichtet Olga Kronsteiner, dass die Erben des jüdischen Bankiers Paul von Mendelssohn-Bartholdy nun gerichtlich vom japanischen Versicherungskonzern Sompo Vincent van Goghs "Sonnenblumen" zurückverlangen. Monopol stellt die Personen vor, die im kommenden Jahr eine wichtige Rolle im Kunstbetrieb spielen werden. In Monopol erhebt Leonie Wessel grundsätzlichen Einspruch gegen die Wahl einer Farbe des Jahres durch die Farbe Pantone, besonders jedoch gegen das anstrengende Magenta.
Besprochen werden die Ausstellung "Kunst und Leben, 1918 bis 1955" zu rund zu fünfzig Künstlerbiografien im Münchner Lenbachhaus (FAZ) und die Rosemarie-Trockel-Retrospektive im Frankfurter Museum für Moderne Kunst (Standard).
Musik
Besprochen werden neue Popveröffentlichungen, darunter "Ambient 23" von Moby ("Setzen, fünf", schimpft Christian Schachinger im Standard).
Bühne

Nicht nur eine Ausstellung über die Oper, sondern über das opernhafte Wesen erlebt Judith von Sternburg (FR) in der Bundeskunsthalle in Bonn. Aber, baut sie etwaigen Erwartungen vor, die Schau diskutiert die Oper nicht kritisch, sondern sagt einfach Ja: "Zum Bizarren, zur Schönheit, zum Spektakel, zur Illusion, die angesichts des aufwendigen Gesamtgeschehens besonders unperfekt sein mag, aber vielleicht auch darum besonders mitreißend. Das ist keine Schwärmerei - dafür ist es schon viel zu detailliert -, das ist das, worum es geht... Eine Ausstellung als Oper: Chrubasik und Meier-Dörzenbach führen das Publikum in ein theaterkatakombenhaftes Labyrinth, mit Gängen, Foyers, Räumen hinter den Kulissen. Ein raffiniertes Hörstationen-System begleitet die flanierenden Menschen und sorgt dafür, dass an passender Stelle (wie von Geisterhand, notfalls per Nummerneingabe) Jessye Norman den 'Liebestod singt, oder Enrico Caruso 'E lucevan le stelle'. Denn natürlich geht es um die größten Opern, dazu die Häuser, die Stars, die Technik, den Markt."
Weiteres: In der Welt blickt Manuel Brug auf Serge Dornys nicht ganz reibungsfrei verlaufende Intendanz an der Münchner Staatsoper. Im Tagesspiegel besucht Patrick Wildermann das von Regisseur Ufuk Güldü gegründete Theater im Ballhaus Prinzenallee im Wedding.