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01.06.2023. Die FAZ lässt sich von Clemens Setz eine Dicyaninbrille aufsetzen. Die SZ unterhält sich mit Axel Ranisch über dessen Opern-Kino-Mashup "Orphea in Love". Die FR staunt über den fantastischen Stilmix im Zeichentrickfilm "Across the Spider-Verse". Die nmz hüpft mit Lorenzo Fioronis Inszenierung von Jules Massenets selten gespielter Oper "Hérodiade" fröhlich zwischen Belle Epoque und Gegenwart hin und her. In der Zeit erklärt Bonaventure Ndikung, neuer Leiter des Hauses der Kulturen der Welt, warum er so gern katholisch ist.
Selbstironisch und bodenständig: "Orphea in Love" von Axel Ranisch Axel Ranisch hat mit "Orphea in Love" ein Opern-Kino-Mashup gedreht und den Orpheus-Mythos dabei gut durchgequirlt. Perlentaucherin Olga Baruk hatte ihre helle Freude daran: Der Berliner Regisseur Ranisch hat "eine großartige Komödie geschrieben (in Ko-Autorschaft mit Sönke Andresen und Dennis Pauls) und inszeniert. Sie ist komisch, lustvoll, rasend und ein bisschen Herzkino-like. bodenständig und warm. Sie macht sich über die aufgeblaseneLeere mancher moderner Theaterinszenierungen lustig und handelt vor allem davon, dass die wahre Kunst nicht zwangsläufig große Bühnen oder besondere Zugangsvoraussetzungen braucht, und dass das Schöne für alle da ist." SZ-Kritiker Fritz Göttler lässt sich von MirjamMesak als Orphea gerne mitreißen: Diese spielt "ohne jede Spur von Divenhaftigkeit, dynamisch wie die Kinofrauen der Fünfziger, Debbie Reynolds, Moira Shearer, Jean Seberg. Unerschrocken rennt sie, wie vom Höllenfürsten verlangt, gegen die sieben Türen an, die in ihre Jugend führen."
Außerdem hat Egbert Tholl für die SZ mit Ranisch über seinen Film gesprochen. Der wurde vor allem für seine Impro-Filme für wenig Geld bekannt. "Rückwirkend, nachdem ich meine ersten Opern inszenierte, musste ich feststellen, dass ich meine Filme schon immer wie Opern gedreht habe. Ich bin immer von der Musik ausgegangen." Für ihn zählt die "Sinnlichkeit in der Oper, dieser Moment, wenn die Zeit stehen bleibt und ich mich im Schutz der Dunkelheit komplett gehen lassen darf, das ist für mich der Zauber der Oper. Ich kann nicht leiden, wenn diese Offenheit von der Regie missbraucht wird, um mir einen Spiegel vorzuhalten. Deswegen sind meine Operninszenierungen auch kitschig, und meine Filme sinds auch. Aber da ist schon genug Nonsens drin - ohne Selbstironie würde Kitsch keinen Spaß machen." Bedrucktes, magisches Papier: "Spider-Man: Across the Spider-Verse" ist ein Meilenstein des Zeichentrickfilms Mit Marvel-Superheldenfilmen kann man FR-Kritiker Daniel Kothenschulte eigentlich jagen. Eine Ausnahme macht der Zeichentrickfilm-Experte allerdings für die Animationsfilm-Interpretation von Spider-Man, die mit "Across the Spider-Verse" nun in die zweite Runde geht: Dieser Film "ist nicht weniger als ein Meilenstein in der Geschichte des Animationsfilms. ... Es ist wie 1920, als die Macher des expressionistischen Stummfilms 'Das Kabinett des Dr. Caligari' verkündeten: 'Das Filmbild muss Graphik werden.'" Im Zuge werden fortlaufend "immer weitere künstlerische Stile eingeführt, manche zweidimensional, andere plastisch aber immer wieder wird daraus auch bedrucktes, magischesPapier - jener unendliche Imaginationsraum, der einst für wenige Cents verkauft wurde. ... Die Idee eines multiperspektivischen Universums ist durch sich unendlich öffnende Bildräume repräsentiert, eine Art digitaler Piranesi."
Außerdem: Cosima Lutz schreibt im Filmdienst zum Tod des Schauspielers PeterSimonischeck (weitere Nachrufe hier). Die Welt bringt ein bislang unveröffentlichtes Gespräch mit Kenneth Anger, das Daniel Kothenschulte Ende der Zehnerjahre mit dem kürzlich verstorbenen Experimentalfilmer geführt hat (Nachrufe auf Anger hier). StefanCantz, Drehbuchautor des ersten "Manta, Manta"-Films vor über 30 Jahren, verklagt die Produzenten von Til Schweigers "Manta, Manta 2", berichtet David Steinitz in der SZ: Diese hätten seine Grundlagenarbeit für das Sequel nicht entlohnt.
Besprochen werden TiWests Kunst-Horrorfilm "Pearl" (Perlentaucher, Tsp, ZeitOnline), die Horrorkomödie "Renfield" mit NicolasCage als Dracula (Presse), die Wiederaufführung von LucBessons "Im Rausch der Tiefe" (FR), der argentinische Kollektiv-Film "Trenque Lauquen" (SZ) und RobSavagesStephen-King-Verfilmung "The Boogeyman" (SZ). Außerdem informiert die SZ, welche Filme sich wirklich lohnen.
In der Frankfurter Poetikvorlesung des BüchnerpreisträgersClemensJ. SetzerfährtFAZ-Kritiker Jan Wiele, was eine Dicyaninbrille ist: eine jahrmarktartige Kuriosität nämlich, die einst damit beworben wurde, dass man damit die Aura von Menschen erkennen könne. "Von Setz nun hörte man: 'Ich glaube wirklich, Romane sind wie Dicyaninbrillen.' Fiktionen aller Art trügen, durch ihre eingespielten Formen, dazu bei, auch die Wirklichkeit weiter nach ihren Konventionen zu ordnen. Sie ähnelten darin perfekt erzählten Verschwörungstheorien, die sich nicht selten als seelenlose Simulationen erwiesen. Das aber sei längst nicht mehr zeitgemäß, so Setz, der schließlich postulierte: 'Keine Nebenfiguren mehr, es ist nicht mehr die Epoche für sie!' In einem appellativen, bewegenden Schlussteil wandte Setz seine Wahrnehmungs- und Kategorisierungskritik auf den Umgang mit Literatur von vermeintlich andersartigen Menschen an - insbesondere mit der von Autisten."
Außerdem: Andreas Rossmann schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Verleger LudgerClaßen. Besprochen werden unter anderem MichelHouellebecqs "Einige Monate in meinem Leben" (NZZ), KatrinSeddigs "Nadine" (Tsp) und ArnoldStadlers "Irgendwo. Aber am Meer" (FAZ).
Anaconda mit Wasserschwein. Bild: Senckenberg-Museum Frankfurt Bei der Restaurierung eines riesigen Anaconda-Präparates im Senckenberg-Museum in Frankfurt "müssen Wissenschaft, Kunst und Handwerk eng zusammenarbeiten", erfahren wir von FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster. Die besondere Herausforderung besteht darin, dass die Riesenschlange gerade dabei ist, ein Wasserschwein zu verspeisen: "Bei der ursprünglichen Präparation musste etwa an den Wangen der Schlange improvisiert werden. Die gegerbte Haut am Maul ließ sich nicht mehr so weit dehnen, wie es für das Umschlingen des Wasserschweins nötig war. Also schnitt der damalige Präparator die Wangenhaut in Streifen und kaschierte die unbedeckten Streifen dazwischen mit Wachs, das sich dann ebenfalls bemalen ließ. Im Entstehungsjahr 1926 war die Farbfotografie noch nicht verbreitet, aber auf den um 1930 gemachten Schwarz-Weiß-Aufnahmen lässt sich durchaus erkennen, dass die Bemalung der Schlange damals ganz anders aussah als heute."
Nicht sehr spezifisch wird das ganzseitige Porträt, das Zeit-Redakteur Ijoma Mangold dem neuen Leiter des Berliner Hauses der Kulturen der Welt, Bonaventure Ndikung, widmet. Irgendwann kommt zwar auch die Rede auf seine BDS-nahen Einlassungen, die er heute bedauert (Antisemitismus und Rassismus müssten gleichzeitig bekämpft werden, betont er), aber auch seine konkreten Pläne werden nicht recht benannt. Es soll körperlich und performativ sein. Erstaunlich ist, wie bei Achille Mbembe, dass das Religiöse offenbar nicht ins Sündenregister des Postkolonialismus gehört. Fröhlich bekennt sich Ndikung zu seinem Katholizismus. Er höre jeden Morgen die Morganandacht im Deutschlandfunk: "Kurz stockt das Gespräch, als wäre nicht ganz klar, wie es von hier aus weitergehen soll. Dann sagt er: 'Ich sehe das als große Performance. All diese Rituale, die Kommunion. Schon das Wort finde ich extrem wichtig: Zusammenkommen. Der performative Vorgang par excellence. Die Idee, den Körper eines Menschen zu essen und sein Blut zu trinken, ist pervers, aber das ist Performance.' Und er breitet vor Entzücken seine Arme aus, deren Hände wie durch Zauberhand wieder alle Ringe tragen."
Weiteres: In der taz interviewt Edith Kresta Norbert Martins, der seit 48 Jahren Berliner Streetart fotografiert. Besprochen wird die Sommerausstellung der Heidi Horten Collection in Wien mit Werken von Marc Chagall, Pablo Picasso und Yves Klein (Standard).
Für die tazplauscht Benjamin Moldenhauer mit dem Mutter-Sänger MaxMüller, der mit "Was weiß ich" gerade ein Solo-Album herausgebracht hat. Nadine Brügger porträtiert für die NZZ den Schweizer Metalsänger ThomasWinkler. Ines Schwerdtner schreibt im Freitag einen Nachruf auf TinaTurner (weitere Nachrufe hier). In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker in dieser Woche hier über FannyArthurRobinson und dort über HalinaKrzyżanowska. Elisabeth Hahn schreibt im VAN-Magazin über die Musik des Komponisten MiloslavKabeláč.
Besprochen werden ein Auftritt des Perkussionisten MartinGrubinger aus dessen Abschiedstour (Standard), neue Jazzveröffentlichungen (NMZ), neue Popveröffentlichungen (NMZ), neue Aufnahmen aus der NeuenMusik (NMZ), ein Konzert von JessicaPratt (FR), ein Konzert von HerbertGrönemeyer in Zürich (TA), ein Konzert der ostdeutschen Wutrocker Augn (Welt) und das Sparks-Album "The Girl Is Crying in Her Latte" (taz).
Die Repressionen gegen Theaterschaffendein Russland werden immer extremer, erfahren wir von Nachtkritikerin Alla Shenderova: Jüngst wurden die Regisseurin Schenja Berkowitsch und die Dramatikerin Swetlana Petrijtschuk verhaftet. Das Regime geht mit bizarren Begründungen gegen das Theater vor. Das war vorhersehbar, meint Shenderova, allerdings herrsche auch unter den Zuschauern eine "florierende Praxis der Denunziation": "Kürzlich gefiel einem Zuschauer im St. Petersburger Alexandrinsky Theater die Inszenierung 'Cyrano de Bergerac' nach Edmond Rostand nicht. Er sah darin einen Versuch, die russischen Streitkräfte zu diskreditieren, und legte Beschwerde ein. Die Inszenierung wurde vom Spielplan genommen."
Im Interview mit der SZ spricht Iris Laufenberg, die als erste Frau die Intendanz am Deutschen Theater Berlin übernehmen wird, über ihre Pläne für die kommende Spielzeit, ihr Selbstverständnis als Vorsitzende und den Begriff "feministisches Theater", den sie zu plakativ findet: "Ich persönlich bin feministisch geschult. Die Gleichberechtigung steht im Gesetz. Die erst mal zu verstehen und zu leben, ist das eine. Der andere Aspekt ist: Welche Geschichten erzählen wir und welche nicht mehr? Die alten Heldengeschichten sind noch fest in unserer DNA. Wie bricht man das auf? Das Matriarchat ist vielleicht auch keine Lösung. Ich glaube an das Miteinander. Nicht an das einzelne Genie. Wir schaffen das Bestmögliche, wenn jede, jeder das beisteuert, was sie oder er richtig gut kann." Weitere Artikel: taz-Kritikerin Dorothea Marcus berichtet über das "Theatrium"-Festival in Litauen. In der FAZ zieht Reinhard Karger Bilanz zum bisherigen Verlauf der Wiener Festwochen. Sein Fazit: Zu viel Politisierung, zu wenig künstlerische Qualität: "Nicht alles, was auf dem Papier interessant erscheint, löst ästhetisch ein, was es verspricht. Das lässt sich leider bereits zur Halbzeit des Festivals konstatieren, dessen Produktionen auf unterschiedlichen Irrwegen scheitern." In der NZZerzählen die Intendantinnen des Züricher Neumarkttheaters Hayat Erdogan, Tine Milz und Julia Reichert, wie sie sich zu dritt die Intendanz teilen. Und Ueli Bernays teilt Eindrücke aus dem aktuellen Programm.
Besprochen werden Georges Delnons Inszenierung von Salvatore Sciarrinos Oper "Venere et Adone" an der Hamburger Staatsoper (Zeit, nmz), Christof Loys Inszenierung von Christoph Willibald Glucks Oper "Orfeo ed Euridice" bei den Salzburger Pfingstfestspielen (Zeit), Franz Schuberts "Schöne Millerin" in der Inszenierung von Nikolaus Habjan an der Staatsoper Berlin (Zeit), Herbert Fritschs Stück "Vergeigt!" am Theater Basel (Zeit), Kirill Serebrennikows Stück "Barocco" am Thalia Theater in Hamburg (Zeit), Axel Ranischs Inszenierung vom szenischen Händel-Oratorium "Saul" an der Komischen Oper Berlin (taz), Martin Grubers Stück "Morbus Hysteria" in Kooperation mit dem Aktionstheater Ensemble im Werk X in Wien (Standard) und der Auftakt der Potsdamer Tanztage mit Mette Ingvartsens Choreografie "Moving in Concert" (tsp).