Im Kino

Wie ein Nachbarschaftsfest

Die Filmkolumne. Von Olga Baruk
01.06.2023. Axel Ranischs Film "Orphea in Love" ist Kino und Oper zugleich, mit Arien von Monteverdi, Puccini, Gluck, Händel und dem Schlagerkünstler Hardy Schwetter alias Christian Steiffen. Man lernt dabei vor allem eins: Dass wahre Kunst nicht zwangsläufig große Bühnen oder besondere Zugangsvoraussetzungen braucht, und dass das Schöne für alle da ist.


Die Orphea kommt aus Estland, spricht gebrochen Deutsch, wohnt in einer WG mit zwei zickigen Hipstergirls, arbeitet im Callcenter und an der Garderobe in der Bayerischen Staatsoper. Wie sie dem Alltag entflieht, wohin sich ihr aufgeweckter Geist zum Tagträumen begibt - das ist die Musik, der Gesang, die ganz großen Geschichten. Wenn sie singt, öffnen sich alle Schleusen, alle schweren Mauern und Türen klappen zusammen wie dünnes Pappmaché. Die in farbiges Licht getauchte Welt wird grenzenlos und elastisch. Sie träumt, und aus ihren Träumen wacht sie nicht unverändert auf. Denn Nele (Mirjam Mesak), so heißt die Orphea eigentlich, verguckt sich während einer dieser Trancezustände in den virtuosen Straßentänzer und Dieb Kolja. Kolja (Guido Badalamenti) dreht sich im Nieselregen um Straßenlaternen wie Gene Kelly, der Körper dieser Eurydike ist aus Gummi gemacht, er wedelt mit dem Po vor Neles Gesicht und - na klar - Orphea ist in love! Auch die Kamera tanzt und beschreibt Pirouetten, umkreist die Figuren schwerelos, zieht die schicksalhafte Schlinge um die jungen Hälse schon mal an. Bald geht es in die Unterwelt. Aber wo soll die bitteschön sein?

Irgendwo zentral gelegen, Münchens Innenstadt, ein großzügig geschnittener Altbau. Die zwei aus der Unterwelt, Adina Nicoletta (Ursina Lardi) und Mr. Höllbach (Heiko Pinkowski), sind teuflisch charmant - so sind es die Bösen praktisch immer. Die allürenhafte Diva und ihr Manager, das Establishment also - schräg, schamlos und fies drauf. Das Alkohol fließt und im Wohnbereich steht - na klar - eine große Badewanne, außerdem gehört zu ihrer Entourage eine Art Personal Jesus, der die gelebten Exzesse mit Gospel-Gesang begleitet: "Let the holy light of Las Vegas into your heart!!". Aber als es zu der entscheidenden Ansage kommt, da hapert die Sprache: "Solltest du Kolja irgendwo da unten finden, don't make eh dingsbums... Dreh dich nicht um! It's important. Really important!". Dazu singt man Arien von Monteverdi, Puccini, Gluck, Händel und dem Schlagerkünstler Hardy Schwetter alias Christian Steiffen. Sie haben Recht, diese Liaison aus Film und Oper ist möglicherweise nicht Ihre Tasse Tee.

Oder vielleicht doch? Allein die Oper kann man ja aus verschiedenen Gründen lieben. Wegen der Musik, des Gesangs oder der Neugier auf neue künstlerische Interpretationen. Aber auch um den Überschwang an sich kann es gehen, um den Pomp und die großen Gefühle, um den Charme der hell erleuchteten Foyers, um schnell im Entreakt in sich gekippten Prosecco, um das Rascheln der schicken Kleider und das gedämpfte Klackern der Stöckelschuhe, wenn alle nach dem Gong wieder zu ihren Plätzen eilen. Die Magie des Gesamtkunstwerks.



Aus welchem Grund auch immer, der Klassik-Nerd und Regisseur Axel Ranisch liebt diese Kunstform und er versteht viel von ihr, ihre Seele und den schönen Schein. Er hat in München, Stuttgart und Lyon Opern inszeniert und macht zusammen mit Devid Striesow einen Radio-Podcast über klassische Musik. Der Berliner ist der Richtige für den Job, wenn es darum geht, Oper und Film in einer anregenden Form zu verbinden. Apropos Form: Das Offene der Improvisation, das Märchenhafte und das Luzide sind typisch für Axel Ranisch. Auch die nackte Wampe des Stammdarstellers Heiko Pinkowski ist ein wiederkehrendes Motiv - wabernd und maximal konkret. Ranisch, ein vor Ideen sprudelnder Gegenentwurf zum bierernsten deutschen Autorenfilmer, macht schon immer mit einer mediterranen Gelassenheit das, wovon alle träumen, nämlich sein Ding, sei es eine Tatort-Folge, ein Theaterstück für Kinder oder eben einen Opernfilm.

Die Oper hin oder her: Mit "Orphea in Love" hat Axel Ranisch vor allem eine großartige Komödie geschrieben (in Ko-Autorschaft mit Sönke Andresen und Dennis Pauls) und inszeniert. Sie ist komisch, lustvoll, rasend und ein bisschen Herzkino-like. bodenständig und warm. Sie macht sich über die aufgeblasene Leere mancher moderner Theaterinszenierungen lustig und handelt vor allem davon, dass die wahre Kunst nicht zwangsläufig große Bühnen oder besondere Zugangsvoraussetzungen braucht, und dass das Schöne für alle da ist. "Orphea in Love" ist ein bisschen wie ein Nachbarschaftsfest - jeder ist willkommen. Aber ganz wichtig, very important: Nicht umdrehen, bitte!

Olga Baruk

Orphea in Love - Deutschland 2022 - Regie: Axel Ranisch - Darsteller: Mirjam Mesak, Guido Badalamenti, Christina Große, Ursula Lardi, Heiko Pinkowski - Laufzeit: 109 Minuten.