Efeu - Die Kulturrundschau

Irgendwo in den Welten Albions

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05.07.2023. FAZ und Berliner Zeitung vermissen in der Ausstellung "Schlösser. Preußen. Kolonial" eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema. Zeit online wird vom sphärischen Indie-Pop auf PJ Harveys neuem Album "I Inside the Old Year Dying"  wie von Meerjungfrauenhänden in eine ursprüngliche und gefährliche Tiefe gezogen. Die Feuilletons trauern um den Schriftsteller Peter Bieri alias Pascal Mercier. Die FAZ lässt sich von Trajal Harrells Tanzsolo-Performance beim Festival Theater der Welt hypnotisieren.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.07.2023 finden Sie hier

Kunst

Antoine Pesne, Prinz Friedrich Ludwig oder Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen im Gartenwagen mit Friedrich Ludwig (?) © SPSG / Jörg P. Anders


Andreas Kilb hat für die FAZ die Ausstellung "Schlösser. Preußen. Kolonial" im Schloss Charlottenburg besucht, in der sich die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg mit ihrer kolonialen Vergangenheit auseinandersetzen will, und findet, dass hier die Chance auf eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema verpasst wurde. Ein Beispiel ist der Lebenslauf des nubischen Kammerdieners August Albrecht Sabac el Cher, den Albrecht von Preußens vom osmanischen Vizekönig in Ägypten geschenkt bekommen hatte. Er wird, "nur bruchstückhaft nacherzählt... Der Nubier, heißt es knapp, sei nie in sein Heimatland zurückgekehrt und habe in Preußen 'ein Kostüm' tragen müssen, dessen ursprüngliche 'soziologische Bedeutung' durch den orientalisierenden Blick auf außereuropäische Gesellschaften ersetzt worden sei. Keine Erläuterung gibt die Präsentation im Charlottenburger Schloss dagegen zu der Frage, wie sich Sabac El Chers Jahresgehalt von 600 Goldmark beispielsweise zum Einkommen eines preußischen Finanzbeamten, Schullehrers oder Oberförsters verhielt. Schon zweihundert Jahre zuvor hatte ein schwarzer Diener Friedrichs I. jährlich 500 Taler verdient, so dass er sich einen eigenen Diener leisten konnte." Gemessen an "der leibeigenen Bevölkerungsmehrheit" in Preußen ging es ihnen verhältnismäßig gut, so Kilb. In der Berliner Zeitung findet Maritta Adam-Tkalec die Ausstellung notwendig, betrachtet sie aber sehr kritisch. Vor allem amüsiert sie sich über die verdruckste Sprache, der man die Angst anmerkt, jemand könne sich beleidigt fühlen: "Für das nicht mit dem einschlägigen Blasen-Sprech vertraute Publikum bringt das Verständnisprobleme mit sich."

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung des Fotografen Lorenz Berges im Museum für Gegenwartskunst Siegen (FAZ) und die Ausstellung "Schaurig Schön" im Tiroler Schloss Ambras (Standard).
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Musik

Auf ZeitOnline weiß Juliane Liebert nicht, ob sie bei PJ Harvey nur Augen für deren Nase oder Ohren für deren Musik haben soll, schließlich sind "Nase und Lieder einzigartig in ihrer eigenwilligen Schönheit". Auf ihrem neuen Album "I Inside the Old Year Dying" besinne sich Harvey "auf ihre Tugenden: die angezerrte, heruntergedimmte E-Gitarre; akustische Schrammelhooklines mit Patina, die klingen, als hätte man sie irgendwo in den Weiten Albions ausgegraben; ein naturbelassenes Schlagzeug; ein paar analog-sinnliche, elektronische Instrumente fürs Klangfarbenspiel; Gesang in luftigen Höhen. ... Ein Album, auf das man sich einlassen muss, wenn es einen in seinen Strudel zieht. Wenn die Songs nach einem grabschen wie die kühlen, rauen Hände von Meerjungfrauen, als die noch keine Disneyfiguren waren, sondern etwas Ursprüngliches, Gefährliches."



Weitere Artikel: Karl Fluch verneigt sich im Standard vor dem US-Produzenten Amerigo Gazaway, der in einer seit Jahren anhaltenden Albenserie die Arbeit verschiedener Musiker miteinander verschmelzen lässt und dabei erstaunlicherweise ohne Rechtsverfahren davon kommt. Gregor Dotzauer schwärmt im Tagesspiegel von Taiko Saito, die mit dem Jazzpreis Berlin ausgezeichnet wurde, und dem "Reichtum an Texturen", den sie ihrer Marimba entlockt. Auf ihrem Album "Tears of a Cloud" hört man einen "Reigen frei improvisierter Stücke mit geschmeidigem Gestus", eine Kostprobe:



Besprochen werden Richard Morton Jacks Biografie über den Musiker Nick Drake (online nachgereicht von der FAZ), The Weeknds Auftritt in Hamburg (taz), ein Konzert des früheren Genesis-Gitarristen Steve Hackett (TA), Guns N'Roses' Konzert in Frankfurt (FR) und ein Konzert der Metropolitan Opera New York in Baden-Baden (FAZ)
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Stichwörter: Harvey, Pj

Literatur

Der Schweizer Autor Peter Bieri ist tot. Unter seinem bürgerlichen Namen war er Philosoph im akademischen Betrieb, unter seinem Pseudonym Pascal Mercier war er als Schriftsteller tätig und schrieb unter anderem den verfilmten Bestseller "Nachtzug nach Lissabon". Bevölkert ist seine Literatur von "grüblerischen Außenseitern", schreibt Paul Jandl in der NZZ, "die oft auch noch aus ihren angestammten beruflichen Rollen fallen, weil sie einen Blick hinter die Kulissen der Wirklichkeit gewagt haben. Flach ist die Welt nur für den, der die Höhenkämme des Geistigen nicht sieht. Die Philosophie als Trost steckte immerhin in dieser Literatur. ...  Bieri und der von ihm erfundene Pascal Mercier haben das Modell des Erfolgsautors in philosophische Höhen geschraubt. Zum Autor seines eigenen Erfolgs wird, wer der Literatur jenes Geheimnis wieder einpflanzt, das dem schnöden Alltag gehetzter Gesellschaften längst fehlt." Weitere Nachrufe schreiben Gerrit Bartels (Tsp) und Mirjam Comtesse (TA).

Weitere Artikel: In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Besprochen werden unter anderem Judith Schalanskys "Schwankende Kanarien" (Jungle World), Kate Beatons Comic "Ducks" (Standard), Josefine Soppas "Mirmar" (ZeitOnline), Dmitry Glukhovskys "Der Aufbruch" (FR), Hugo Lindenbergs "Eines Tages wird es leer sein" (SZ) und Anna Maria Orteses "Der Hafen von Toledo" (FAZ).
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Film

David Steinitz plaudert in der SZ mit IMAX-Chef Rich Gelfond über den internationalen Erfolg seiner Kuppelleinwand-Kette, der sich in Deutschland mit gerade einmal zehn Leinwänden noch nicht recht spüren lässt. Den Streit ums Kinoauswertungsfenster sieht er als erledigt an: "Die Studios und die Streamingdienste haben jahrelang davon geträumt, die Kinos aus der Verwertungskette zu kegeln. Aber wie man im Englischen sagt: Be careful what you wish for. Die Pandemie hat ihnen erlaubt, dieses Modell auszuprobieren - aber es hat nicht funktioniert. Alle haben viel Geld verloren. ... Außerdem liefen Filme, die eine Kinoauswertung hatten, online viel besser als Filme, die gar keine Kinoauswertung hatten."

Im NZZ-Gespräch trauert der scheidende Locarno-Präsident Marco Solari den guten alten Zeiten nach, als für einen Festivalchef in der Filmbranche noch der rote Teppich ausgerollt wurde: "'Heute ist eine Generation von Managern tätig, die ganz andere Vorstellungen hat.' Alles sei aufs Marketing versessen, klagt er. Und er müsse dem Sekretariat 'schon fast ein CV schicken, bevor ich überhaupt mit den Leuten reden darf'."

Weitere Artikel: Der Nachlass von Peter Ustinov wird versteigert, meldet Bettina Wohlfarth in der FAZ. Besprochen werden François Ozons Krimikomödie "Mein fabelhaftes Verbrechen" mit Isabelle Huppert (Tsp), Pietro Marcellos "Die Purpursegel" (Tsp), Emad Aleebrahim-Dehkordis "Chevalier Noir" (Filmdienst), Franziska Pflaums Komödie "Mermaids Don't Cry" (Standard) und die auf Sky gezeigte Gangsterserie "Last King of the Cross" mit Tim Roth (FAZ).
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Bühne

Impression von Traja Harrells Tanzsolo "Sister or he buried The Body". Foto:Orpheas Emirzas.

"Innerlich ganz still" wird FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster während Trajal Harrells sitzendem Tanzsolo "Sister or he buried The Body" beim Festival Theater der Welt in Frankfurt. Kaum glauben kann sie, wie der amerikanische Choreograf und Tänzer allein in geblümten Röcken auf dem Boden sitzt und dabei "eine Macht wie ein ganzer Chor in der griechischen Tragödie" ausstrahlt: "Irgendwann, wenn er sich von dem Sitzkissen erhebt und die Röcke ablegt, ist das wie eine Transformation. Harrell, nun in Shorts, auf denen in Gold 'No Pain no Gain' steht, an einem anderen Tag in einem fließenden ockerfarbenen Kleid, zeigt sich auftauchend, gegenwärtig, und tanzt auf den Abschied von seinem Publikum zu. Was war es nur, was wir mit ihm teilten? Ein Zug innerer Bilder, eine Erinnerung an frühere Tänze der Befreiung und schwarze einflussreiche Kunst, ein Manifest der Verbindung, ein bleibendes, bindendes, soziales Ereignis, das die ungeminderte Kraft und Magie des Tanzes beschwört. Große Kunst."

Weitere Artikel: Zum einjährigen Jubiläum des jüdischen Theaterschiffs "MS Goldberg" zieht dessen Chef Peter Sauerbaum im Gespräch mit Tagesspiegel-Kritiker André Görke positive Bilanz und informiert über zukünftige Projekte.

Besprochen werden Peter Maxwell Davies Monodrame "Eight songs for a mad King", inszeniert von Katarzyna Bogucka, und "Miss Donnithorne's Maggot", inszeniert von Stefanie Hiltl, die das Staatstheater Mainz zusammen zeigt (FR), das Tanzstück "Nostalgia" von Guy Weizman und Roni Haver am gleichen Ort (FR) und Satoko Ichiharas Inszenierung von "Die Bakchen. Holstein-Milchkühe" im Rahmen des Festivals Theater der Welt in Frankfurt (SZ).
Archiv: Bühne