Efeu - Die Kulturrundschau

Lichtmeister der Gegenwart

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22.07.2023. Die Musikkritiker trauern um einen der ganz Großen, den Sänger Tony Bennett, der sein Publikum mit Charme, Elan und einer begnadeten Stimme in lautstarke Verzückung singen konnte. Das Kino ist so langweilig geworden, stöhnt in der Welt Filmemacher Dario Argento. Die FAS fürchtet mit der Eröffnungsausstellung von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, dem neuen Leiter des Hauses der Kulturen der Welt, eine neue Enteignung der Kulturen. Die NZZ taucht in die florierende Kunstszene Japans ein.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.07.2023 finden Sie hier

Kunst

Installationsansicht der Ausstellung O Quilombismo: Von Widerstand und Beharren. Von Flucht als Angriff. Von alternativen demokratisch-egalitären politischen Philosophien, Haus der Kulturen der Welt (HKW), 2023. Foto: Laura Fiorio/HKW

Es bleibt noch viel zu tun im Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin, bemerkt FAS-Kritiker Mark Siemons beim Besuch der Eröffnungsausstellung des neuen Leiters Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, "O Quilombismo". In der Absicht, Kunst aus ehemals kolonisierten Gebieten von der Vorherrschaft des "westlichen Blicks" zu befreien, geht das Museum einen falschen Weg, so Siemons und landet genau dort, wo es nicht hinwill. Dazu trägt die Hängung der - eigentlich großartigen - Werke bei: ohne Information zu Herkunft oder Urheber. Auch der Katalog geht nicht auf die Eigenart der Werke ein, sondern "verbindet folkloristische Angaben" mit "bedeutungsvollen Stichwörtern postkolonialer Theoriebildung", so Siemons: "Alle Fragen also, mit denen man diese Kunst und die politischen Verhältnisse, in denen sie entstanden ist, ernst nehmen könnte, werden durch die Formeln neutralisiert, die nichts als bescheidwissendes Kopfnicken provozieren. Egal, ob Talismane aus Elfenbeinküste, Rindenstoffdrachen aus Neuseeland oder ein Quilt von der Westküste Indiens: Alle Geister werden hier zum Symbol für eine Praxis, die sich mit dem in ihr gespeicherten Wissen den Abstraktionen des Westens entgegenstellt...Statt der angestrebten Wiederaneignung droht die Schau damit aber eine neuerliche Enteignung der Kulturen zu betreiben, aus denen sie sich bedient."

Enoura Observatory, Odawara Art Foundation. Foto: Masatomo Moriyama.

Fasziniert flaniert NZZ-Kritiker Philipp Meier durch den Themenpark der Odawara Art Foundation. Der Starfotograf Hiroshi Sugimoto hat hier einen Ort geschaffen, an dem japanische Tradition und zeitgenössische Kunstwelt sinnbildlich aufeinandertreffen, staunt er: "Sugimotos Park ist...ein Observatorium, das dem Licht huldigt. Denn ohne dieses wäre die Lichtkunst der Fotografie nichts. An den Tagundnachtgleichen, dem astronomischen Frühlings- und Herbstbeginn, aber auch zu den Sonnenwenden im Sommer und Winter kann man hier während des Sonnenaufgangs an bestimmten Punkten der Anlage Zeuge von magischen Lichteffekten durch Tunnels und Steinbögen werden. Japan, das Land der aufgehenden Sonne, nach dem shintoistischen Schöpfungsmythos geschaffen von der Sonnengöttin Amaterasu: Hier erlebt man diese urjapanische Vorstellungswelt in einer begehbaren Kunstinstallation eines Lichtmeisters der Gegenwart."

Besprochen werden die Ausstellungen "Isa Genzken. 75/75" in der Neuen Nationalgalerie Berlin (FR), "Who by fire: On Israel" im Haus am Lützowplatz in Berlin (Tsp) und "Dark Light - Realism in the age of post-truth" in der Aïshti Foundation in Beirut (FAZ).
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Bühne

Besprochen werden: Lotte de Beers Inzenierung von Guiseppe Verdis Oper "Ernani" bei den Bregenzer Festspielen (FAZ), Sarah Groß' Inszenierung von Molières "Der Geizige" an der Frankfurter Volksbühne (FR) und das von Gregor Bloéb inszenierte Stück "7 Todsünden" zum Auftakt der Tiroler Volksfestspiele (nachtkritik).
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Stichwörter: Bloeb,gregor, Moliere

Film

Dario Argento, 2017. Foto: Brian Eeles, unter cc-Lizenz
Kino heute ist doch langweilig geworden, klagt im Interview mit der Welt einer der größten Horrorfilmer aller Zeiten, Dario Argento: "Die Gegenwart arbeitet gegen den Instinkt, der mein Kino immer geleitet hat. Heute regiert die politische Korrektheit. Selbst die Homosexualität wird heute verdruckster thematisiert als noch vor 20, 30 Jahren. Die Filmemacher gehen wie auf Eiern, aus Angst, einen Fehler zu machen und jemanden zu verletzen. Am ehesten wird es dann gleich außen vor gelassen. Auch das führt dazu, dass das gegenwärtige Kino eher eines des Spektakels ist, der Unterhaltung und Abenteuer. Nicht die Psychologie steht im Vordergrund, sondern die Effekte. ... Mich fasziniert das asiatische Horrorkino, vor allem das aus Südkorea. Es ist eben kein realistisches, sondern eines, das sich auf Träume und Psychologie fokussiert. Ebenso übrigens das japanische und das mexikanische Kino, von del Toro oder Cuarón. Filme, die selbst, wenn man auf die Oscars schaut, das amerikanische Kino seit einigen Jahren hinter sich gelassen haben." Argento kritisiert deshalb auch die Filmkritik, die sich nur für "realistische" Filme interessiere.

Die Münchner Filmtechnik-Firma Arri gibt es seit 1917 und ist heute "eine der wichtigsten Technikfirmen im weltweiten Filmgeschäft mit einem Umsatz von mehreren Hundert Millionen Euro", erzählt in der SZ der Filmhistoriker Armin Jäger, den diese Erfolgsgeschichte weniger interessiert, als die Frage, wie Arri den Nationalsozialismus überlebt hat: Die Gründer August Arnold und Robert Richter waren beide schon zum 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten. In den Entnazifizierungsverfahren legten sie "die üblichen entlastenden Zeugenaussagen vor, bedenkenswert scheinende von Personen, die von den Nürnberger Gesetzen betroffen waren, aber auch erkennbar unwahre, laut denen zum Beispiel eine Parteimitgliedschaft für Filmproduzenten zwingend nötig war, obwohl sich in Wirklichkeit 1933 im Filmgeschäft niemand dafür interessierte und das auch niemand einforderte." Letztere Behauptung dämpft Jägers Freude, dass Arri diese Geschichte jetzt aufarbeiten will, denn diese Mitgliedschaft doch wird die Freude gedämpft durch die Behauptung, "Mitgliedschaften in NS-Organisationen [seien] zwingend gewesen, um der Reichsfilmkammer beitreten und den Beruf ausüben zu können. Denn: "Das ist unzutreffend und nicht der beste Start für einen schmerzhaften Blick in die Vergangenheit."

Weitere Artikel: Im Interview mit der taz blickt die 86-jährige Filmemacherin Helke Sander zurück auf ihr Leben und ihre Arbeit, mit der sie sich immer wieder zwischen die Stühle setzte. Zum Beispiel: "'Eine Prämie für Irene', der das Leben einer Fabrikarbeiterin zeigt, hat viel Widerstand hervorgerufen. Ich habe den damals an der Filmakademie gezeigt, da gab es viele ML-Gruppen, Marxisten-Leninisten, und da wurde mir vorgeworfen, ich würde die Arbeiterklasse spalten." Claus Leggewie erinnert in der taz anlässlich des Films an die wichtigsten Stationen im Leben Robert J. Oppenheimers. Katharina Walser fragt sich in 54 books, ob Barbie und die Farbe Pink wirklich eine neue feministische Welle verkörpern. Willi Winkler erinnert in der SZ an Todd Haynes Puppenfilm "Superstar: The Karen Carpenter Story", ein Meisterwerk über die magersüchtige Sängerin, das man nur noch auf Youtube findet, in schlechter Qualität und mit portugiesischen Untertiteln, aber immerhin. Zeit online meldet den Tod der Schauspielerin Josephine Chaplin, Tochter von Charlie. Lena Karger plaudert für die Welt mit Schauspielerin Heike Makatsch über ihre Rolle in der RTL-Serie "Der König von Palma".

Besprochen werden Christopher Nolans "Oppenheimer" (FR, intellectures), Volker Koepps Dokum "Gehen und Bleiben" (Tsp), Greta Gerwigs "Barbie" (FAS) und die Ausstellung "Ausgeblendet/Eingeblendet. Eine jüdische Filmgeschichte der Bundesrepublik" im Jüdischen Museum Frankfurt (die u.a. daran erinnert, dass Barbie von Ruth Handler erfunden wurde, der Tochter jüdischer US-Einwanderer aus Polen, so Maria Wiesner in der FAZ).
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Literatur

Marina Mai besucht für die taz das "Gedächtnis der Nation", die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig. Paul Ingendaay schreibt in der FAZ über das Ende der Buchhandlung Lagun in San Sebastián, die sich jahrelang erst gegen Rechts-, dann gegen Linksextremisten wehren musste. Barbara Vorsamer erinnert in der SZ an den ersten Harry Potter, der vor 25 Jahren auf Deutsch erschien. In der FAZ macht Kai Spanke neue Sachbuchtrend aus: Bücher über "Das geheime Leben von ..." oder "Die dunkle Seite von ...". Und Tilman Spreckelsen schreibt in der FAZ über den von britischen Bomben ausgelösten Hamburger Feuersturm im Juli 1943, dessen grausame Folgen der Autor und Grafiker Hans Leip festhielt.

Besprochen werden Eberhard Häfners Gedichtband "Am unfrisierten Rand" (Tsp), Eva von Redeckers Band "Bleibefreiheit" (taz), Ludwig Tiecks neu aufgelegte "Wilde Geschichten" (Tsp), Helgard Haugs Roman "All Right. Good Night" (Tsp), Adam Soboczynskis "Traumland" (taz), Lorenz Justs Roman "Tag XYZ" (taz), J. M. Coetzees Novelle "Der Pole" (taz), Sheena Patels Roman "I'm a Fan" (FR), Matthias Vetters Band "Wir bringen den Tyrannen den Tod" über die russische Exilorganisation NTS (FR), "Operation Epsilon", Matthias Bickenbachs Band "Bildschirm und Buch" (Tsp), ein Band mit Briefen und weiteren Dokumenten der 1945 in England internierten deutschen Atomforscher (FAZ), Heinz Strunks Erzählband "Der gelbe Elefant" (FAZ), Emma Clines Roman "Die Einladung" (taz, FAS). tell empfiehlt Kinderbücher für den Sommer. Die SZ stellt in Kürze ebenfalls Bücher für den Sommer vor.

In der Frankfurter Anthologie widmet sich Thomas Brose Gerard Manley Hopkins' Gedicht "Felix Randal":

"Felix Randal"

"Felix Randal der Hufschmied, ach ist der tot? beendet meine Pflicht,
Der ich bei diesem Erdenmensch aus einem Guß mit ansah,
     großknochig kargschönes Gesicht,
Wie er litt, litt, bis die Vernunftkräfte in ihm herumgeisterten
Und schlimme Übel, vierfältig im Fleisch dort, alles meisterten?
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Musik

Der Sänger Tony Bennett ist im gesegneten Alter von 96 Jahren gestorben. Die Nachrufe sind äußerst liebevoll: "Hin und wieder stirbt ein Popstar, der Spuren in der eigenen Biografie hinterlassen hat, die sehr viel tiefer gehen als nur eine hübsche Sommeranekdote", schreibt Andrian Kreye in der SZ. "Tony Bennett zum Beispiel, der in den glücklichen Jahren in Brooklyn in den Metzgerläden, den Trattorien und Bars der Nachbarschaft so etwas wie der gute Geist von Carroll Gardens war, ein Tröster und Philosoph für den Alltag. Und für den man eigentlich immer viel zu jung war, auch wenn man heute schon alt ist. Seine erste große Zeit hatte er in den Fünfzigerjahren, als er mit Showtunes und Hits wie 'Because of You', 'Blue Velvet' oder 'Rags to Riches' Heerscharen amerikanischer Teenager in lautstarke Verzückung singen konnte. Bennett rückte damals in die erste Liga der Sänger auf, die damals von Frank Sinatra und Dean Martin angeführt wurde. Weswegen ihm sein Produzent Mitch Miller den Rat gab: 'Versuch nicht, wie Sinatra zu sein.' Bennett hielt sich sein Leben lang daran. Sinatra hatte die Coolness in den Pop gebracht. Bennett brachte die Wärme zurück. Das passte auch sehr viel besser zu ihm."

Hier singt er im Konzert 1991 "Fly me to the moon":



Im Tagesspiegel erinnert sich Gunda Bartels an ein Konzert Bennetts vor zehn Jahren im Berliner Admiralspalast. Das Publikum war bunt gemischt: "Ergraute Verehrerinnen der Showlegende, die einer der letzten Überlebenden der klassischen US-Entertainerkultur war. Auch wenn es sein stets leicht angerautes, schmeichelndes Timbre nie ganz mit dem sonoren Bariton von Frank Sinatra aufnehmen konnte. Und die Jungen, die Tony Bennett cool fanden, weil er mit Lady Gaga in den 2010er Jahren die Alben 'Cheek To Cheek' und 'Love For Sale' aufnahm. Und zuvor schon Duette mit Amy Winehouse, Sheryl Crow und Queen Latifah sang, was ebenso für Tony Bennetts Neugier auf andere Künstler wie für sein Gespür spricht, sich ein neues Publikum zu erobern." Auch Holger Kreitling erinnert sich in der Welt an ein Konzert: "Ich war Mitte der 90er-Jahre bei seinem allerersten Konzert in Berlin. Im SFB-Sendesaal trat er auf, tolle Akustik, die Leute hatte sich fein gemacht, Männer trugen Smoking und rauchten, als sei das Las Vegas. Bennett riss das Publikum mit, selbst die unentschlossenen. Man kann einen Fernsehmitschnitt im Internet finden. Er lobte den Saal und bat, ihn unbedingt zu erhalten, es solle 'keine Versicherung oder so' dort einziehen. Am Ende legte er das Mikrofon weg und sang alleine. 'Fly me to the moon, Let me play among the stars.' Nie habe ich vorher oder nachher so eine Stimme gehört, bis in den letzten Winkel des Hauses." weitere Nachrufe von Ueli Bernays, der ahnt, dass "die Gesangskunst profitiert, wenn sie mit Charme und Elan vorgetragen wird", in der NZZ und Jan Wiele in der FAZ.

Und hier noch sein Konzert aus der Royal Festival Hall 1974:



Weitere Artikel: Reinhard J. Brembeck berichtet in der SZ von der Eröffnung der Salzburger Festspiele mit drei wunderbaren Werken geistlicher Musik. In der FAS schreibt der Schauspieler und Springsteen-Fan Johannes von Bülow über sein erstes Springsteen-Konzert. Ambros Waibel kann es in der taz nicht fassen, dass es immer noch Rammstein-Fans gibt: "Wie Kinder" kommen sie ihm vor, "die einfach nicht glauben wollen, dass Papi Mami schlägt, weil ja noch kein Urteil gesprochen ist, das sie in ihrer geistigen Unreife und emotionalen Abhängigkeit selbst nicht zu fällen in der Lage sind." Jungejunge. Anastasia Tikhomirova berichtet in der taz vom Telekom Electronic Beats Festival in Ulcinj, Montenegro. Gunnar Meinhardt lässt sich für die Welt von "Jahrhundertweitspringer" Bob Beamon (76) erzählen, warum er jetzt HipHop macht. Thomas Morawitzky war für die taz beim Rockfestival Zappanale in Bad Doberan in MeckPomm.

Besprochen werden Jessy Lanzas Elektronikalbum "Love Hallucination" (taz), ein Konzert von Kian Soltani und Seon-Jin Cho beim Rheingau Musikfestival (FR), Blurs neues Album "The Ballad of Darren" (FAS)
Archiv: Musik