Efeu - Die Kulturrundschau

Mit den Ohren sehen

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28.07.2023. In Bayreuth hadert die SZ immer noch mit Valentin Schwarz' "Rheingold"-Inszenierung, die FAZ macht einfach die Augen zu und überlässt sich Dirigent Pietari Inkinen, der zumindest klanglich für plastische Evidenz sorgt. Der Guardian bestaunt die frühen New-York-Fotos von Eve Arnold, die schon früh wusste, dass schwarze Macht und Stil die angesagtesten Spiele in der Stadt waren. Im Interview mit der taz ruft der senegalesische Musiker Baaba Maal seinen Landsleuten zu, dass "die Zukunft bei uns in Afrika" liegt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.07.2023 finden Sie hier

Bühne

Das Rheingold. Bild: Bayreuther Festspiele.

Aufgewärmt schmeckt vielleicht doch nur Gulasch, denkt sich Udo Bartelt im Tagesspiegel bei Valentin Schwarz' "Rheingold"-Inszenierung, der Vorgeschichte des Wagnerschen "Rings", bei den Bayreuther Festspielen, die in diesem Jahr zum zweiten Mal auf dem Plan steht, allerdings zum ersten Mal mit Pietari Inkinen am Dirigierpult. Wirklich besser macht er die Sache aber auch nicht, "gedeckelt und mehltauig" klingt Wagners Musik in den Ohren des Rezensenten, der schließlich resümiert: "Viel war darüber zu lesen, dass die gewaltsamen Verstrickungen innerhalb einer Familie im Mittelpunkt stehen, der 'Ring' als Netflix-Soap war das Schlagwort - wobei 'Netflix' einfach heutiger klingt, solche Sendungen prägen seit Jahrzehnten das TV-Programm. Sollte das Konzept also tatsächlich eine Soap-'Opera' sein, schrumpft es auf der realen Bühne zur Miniatur. Schon der große Strom selbst, auf dessen Grund Alberich der Liebe entsagt und den Rheintöchtern (Evelin Novak, Stephanie Houtzeel, Simone Schröder) das Gold raubt, mutiert zum schmalen, schalen Planschbecken. Die Götter versammeln sich in einem Penthouse oder Bungalow, das mondän wirken soll, dafür aber viel zu eng und wuselig geraten ist - und zusätzlich von herumstehendem, oft funktionslosem Personal verstopft wird. So schrumpft der Mythos zum alles- und nichtssagenden Wimmelbild."

Auch SZ-Kritiker Wolfgang Schmidt ist noch nicht recht überzeugt von der Inszenierung: "Am Ende, nach zweieinhalb szenisch durchwachsenen Stunden 'Rheingold', die Götter landen zermürbt in Walhall, obsiegt die Resilienz der Wagnerianer. Sie schalten vom lautstarken Beifall für die Sänger noch nicht auf Protest für die Taten des jungen Regisseurs Valentin Schwarz. Der wird erst nach der 'Götterdämmerung' vor den Vorhang treten und erfahren, ob die massive Zurückweisung aus dem Vorjahr Bestand hat." Immerhin: Dirigent Pietari Inkinens Musizierstil imponiert ihm durch "scharfe Akkuratesse ... Statt Rausch die bebende Ernüchterung." Und Jan Brachmann (FAZ) macht einfach die Augen zu und genießt: "Pietari Inkinen tut offenbar alles, damit die Singenden atmen und ihre Stimmen bis in die letzte Reihe des Parketts projizieren können. Und er tut noch mehr: Er sorgt klanglich für jene plastische Evidenz, an der es der Szene oft mangelt. Man hört im Orchester die Wasserspritzer, wenn die Rheintöchter planschen; man hört das Rheingold durch die Wogen strahlen wie Licht durch ein vielschichtiges Gewirk. Noch bevor Fasolt und Freia sich als Figuren einander zuwenden, kann man den Blick der Liebe in der solistischen Oboe bereits - pardon, man muss es so sagen - mit den Ohren sehen."

Szene aus Le Songe, Gwenaël Morin, Avignon 2023. Foto © Christophe Raynaud de Lage


"Vertrauen ins Unheil" hat Tiago Rodrigues, Leiter des Theaterfestivals Avignon, resümiert Joseph Hanimann die diesjährigen Festspiele in der FAZ. Und dennoch ist er von dessen Stückauswahl überzeugt: "Wobei das Tragische vielgestaltig daherkommt. Menschenschicksale verklumpen sich mit der Klimakrise, humanitäre Aktionen sind nur noch ein Nebeneffekt allgemeiner Barbarei, ökologisches Artensterben reimt sich auf kapitalistisch postkoloniale Kulturauslöschung. Und selbst die Narren verlassen vorzeitig die Bühne. Trotz eines so beklemmenden Fazits wirkt das Ergebnis in Avignon eher beflügelnd. Denn das Theater fuchtelt nicht mehr nur mit finsterem 'No Future', sondern spornt an zu Einspruch, Differenzierung, dokumentarischer Sachlichkeit, mitunter sogar zur politischen Aktion. Und das dramatische Repertoire, das in den vergangenen Jahrzehnten 'postdramatisch' verscheucht wurde, drängt durch die Hintertür wieder herein."

Weiteres: Auch Albrecht Selge war für das Van-Magazine in Bayreuth und setzt sich anlässlich der "Parsifal"-Inszenierung von Jay Scheib mit den Möglichkeiten und Beschränkungen von Augmented Reality bei Wagner auseinander. Der Standard hörte die "eklektische Rede" des Physikers Anton Zeilinger zur Eröffnung der Festspiele in Salzburg. Roland Müller porträtiert in der Zeit den Schauspieler André Jung. Christine Dössel unterhält sich für die SZ mit der Schauspielerin Valery Tscheplanowa, die bei den Salzburger Festspielen in Lessings "Nathan der Weise" einspringt, um den Nathan zu spielen. Besprochen wird "Vatermal", der erste Roman des Theatermachers Necati Öziri (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Literatur

Ein ungarischer Jugendbuchverband protestiert gegen eine neue Gesetzeslage im Land, die den Vertrieb und Verkauf queerer Literatur drastisch einschränkt und Zuwiderhandlungen drakonisch bestraft, meldet Cathrin Kahlweit in der SZ: So soll etwa ein Buchladen, der Alice Osemans queeren Comic "Heartstopper" nicht in Plastik eingepackt hat, 32.000 Euro Strafe zahlen. Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Barbara Machui porträtiert im Standard die Schriftstellerin Marie NDiaye, die heute den österreichischen Staatspreis für europäische Literatur erhält.

Besprochen werden unter anderem Elsemarie Maletzkes "Agathes dunkler Garten" (FR), Juliane Pickels "Rattensommer" (SZ) und der Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Rudolf Kolisch (FAZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Im Tagesspiegel guckt Falk Jaeger unglücklich auf die missratene Europacity rings um den Berliner Hauptbahnhof: "Auf 22 Hektar Fläche hätte man nördlich des Hauptbahnhofs ein urbanes, quirliges Stück Stadt gänzlich neu kreieren können. Stattdessen Großblocks, serielle Ödnis, tote Erdgeschosse, uninspirierte Stadträume", klagt er. Das schönste hier sei der alte Getreidespeicher am Ufer des Spandauer Schifffahrtskanals, der liebevoll und aufwändig renoviert wurde.

Waterwoningen Ijburg. Bild: Marlies Rohmer Architecture & Urbanism.


Da kann man als Berliner nur neidisch werden, guckt man auf die Niederlande: "Besser mit dem Wasser leben als gegen das Wasser kämpfen," ist wohl das Motto der Amsterdamer Architekten, die dem Klimawandel und dem steigenden Meeresspiegel innovativ begegnen, hält Klaus Englert in der FAZ fest: "Zu welchen Experimenten die Architekten fähig waren, lässt sich in Amsterdams Östlichen Hafengebieten beobachten, wo vor 25 Jahren die Erweiterung der Hauptstadt begann, in deren Zuge künstliche Inseln und sogar ganze Archipele im Flussbecken des Ij entstanden. Im Zuge der Siedlungswelle baute die Architektin Marlies Rohmer vor gut zehn Jahren auf dem künstlich aufgeschütteten Ijburg-Archipel 55 Häuser auf das Wasser. Waaterburg-West war die bis dahin größte schwimmende Siedlung. Neu war auch, dass sich Rohmer am Format der Schiffscontainer orientierte und eine städtische Verdichtung auf dem Wasser mit öffentlich begehbaren Anlegestellen schuf."

Archiv: Architektur

Film

Reichsbürger sind Deppen: Das ZDF bestätigt, was jeder weiß (ZDF)

Mit der Mini-Serie "Freiheit ist das Einzigste, was zählt" nimmt das ZDF die Reichsbürgerszene satirisch aufs Korn. Matthias Dell von ZeitOnline findet das Resultat alles andere als überzeugend: "Schon künstlerisch ist die gewählte Form der Satire eine Herausforderung, wenn nicht schlicht das falsche Mittel - wie will man Leute überzeichnen, deren eigene Performance schon pure Überzeichnung ist? Und vor allem: wozu? Was weiß man, wenn man weiß, dass Leute, die als Deppen gelten, Deppen sind? ... Man sieht einer Gruppe großer Schauspielnamen dabei zu, wie sie durchaus mit Lust am Ausziehen, Dämlich- und Krasssein auf Reichsbürger macht."

Kevin Spacey wird wohl auch nach seinem mittlerweile zweiten Freispruch keine guten Rollen in Hollywood mehr bekommen, meint Claudius Seidl im FAZ-Kommentar und zwar schon auch, "weil sie alle damit zugäben, wie hysterisch, heuchlerisch und opportunistisch sie gehandelt haben, damals, als MeToo völlig zu Recht ganz Hollywood erschütterte und verunsicherte, was trotzdem kein Grund war, jeden, der bezichtigt wurde, sofort auch als schuldig zu betrachten." Christiane Peitz verteidigt im Tagesspiegel-Kommentar die Unschuldsvermutung, die allerdings auch für jene gelten muss, die Spacey der Übergriffe bezichtigt haben: "Gefühle, Begierden, Einsamkeit, Sex, Gewalt, es gibt eine klare Grenze, aber manchmal ist sie unfassbar schwer auszumachen. Weil Erinnerungen lange zurückliegen, Alkohol im Spiel war, Erlebnisse unterschiedlich und traumatisierend wahrgenommen werden, handelt es sich jedoch noch lange nicht um Lügen. Weder von der einen, noch von der anderen Seite." In der NZZ fasst Marion Löhndorf den Prozess zusammen.

Rüdiger Sturm bringt in der Welt Zahlen, Hintergründe und Updates zum großen Hollywoodstreik. Noch haben die Drehbuchautoren und Schauspieler das Momentum für sich, aber die Studios könnten laut Aussagen eines Produzenten auch einfach auf Zeit spielen: Denn ab Ende Oktober "seien die finanziellen Ressourcen der meisten Gewerkschaftsmitglieder so erschöpft, dass diese sich von der APTMP die Bedingungen diktieren lassen würden. ... Der Leidensdruck, weil aktuell keine Drehbücher akquiriert werden können, hält sich in Grenzen. Denn die Firmen sitzen auf Bergen unverfilmter Skripts und fertiger Produkte. ... Hinzu kommt noch ein anderes Motiv: 'Die Studios nutzen das, um bei sich aufzuräumen', so der ungenannte Produzent. 'Nach drei Monaten Streik können sie langfristig Verträge wegen höherer Gewalt auflösen. Du kannst alle loswerden, die du loswerden wolltest.'"

Weiteres: David Steinitz schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Drehbuchautor Bo Goldman. Besprochen werden Danny und Michael Philippous Horrorfilm "Talk to Me" (Tsp, FR), Ferit Karahans Internatsdrama "Brother's Keeper" (SZ), eine BluRay-Box mit Filmen von Jean-Paul Belmondo (Intellectures) und der deutsche, auf Netflix gezeigte Science-Fiction-Film "Paradise" mit Iris Berben (FAZ).
Archiv: Film

Kunst

Bardame in New York, 1950. Foto: Eve Arnold Estate


Wen die Fotografin Eve Arnold nicht alles vor der Kamera hatte: Marilyn Monroe und Neonazis auf einer Malcolm X-Demo, Queen Elizabeth und eine erschöpfte Bardame in New York. Guardian-Kritikerin Claire Armitstead ist in der Arnold-Ausstellung in Newlands House im englischen Petworth, West Sussex vor allem fasziniert von Arnolds frühen New-York-Fotos: "Von Anfang an ahnte sie, dass schwarze Macht und Stil die angesagtesten Spiele in der Stadt waren, und Anfang der 1960er Jahre war sie fasziniert von Afrofrisuren und Malcolm X. Zwei zutiefst beunruhigende Bilder zeigen weiße Faschisten, die sich 1962 bei einer Kundgebung von Malcolm X in Chicago unter die Menge mischten, als er für die schwarzen Muslime missionierte. Auf einem der Bilder sitzen drei Männer nebeneinander, wobei die obere Hälfte ihrer Gesichter außerhalb des Bildausschnitts liegt, so dass die Farbe und die Haltung ihrer Hände zum Thema des Bildes werden. Eine Hand ist weiß, lässig unter einer Hakenkreuz-Armbinde drapiert. In der Mitte ist ein Paar schwarzer Hände ehrfürchtig umklammert. Am anderen Ende tippen schwarze Finger mit goldenen Ringen in etwas, das aussieht wie ein Popcornbecher, der zum Geldsammeln umfunktioniert wurde. Es ist eine unheimliche Erinnerung an eine Allianz zwischen schwarzen Separatisten, die für die Ausreise aus den USA plädierten, und weißen Rassisten, die sie loswerden wollten."

Allan McColum und Matt Mullican: Your Fate Table. Bild: Galerie Thomas Schulte.


Die 28. "Rohkunstbau"-Ausstellung, diesmal auf Schloss Altdöbern, liest Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung) als Friedensappell, wie auch schon der Titel der Sammlung mit Werken von 14 Künstlern aus zwölf Ländern ihr verrät: "'Endlich Frieden', ist das Thema der Ausstellung, die, wie einst schon Goya, 'Desastres de la Guerra' direkt anspricht. Und bohrend fragt: Auf welcher Seite stehen wir - die Betrachter? Wie ist der Zustand der Welt noch zu reparieren? Schaffen wir eine neue Kultur der Sorge, die der Herrschaft und der Gewalt abschwört. Können wir uns aus dem Egoismus und dem Konkurrenzdenken lösen? Die Sehnsucht nach dem Paradies hat in den letzten Jahrhunderten nirgends zum Einlenken geführt. Die Kunst sucht nach Antworten."

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Fragment. Ukraine" (Tsp), die von der G.Art Gallery und dem Freiluft Kunst Klub Berlin im Hotel Berlin organisiert wird, und die Isa-Genzken-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie (FAZ).

Archiv: Kunst

Musik

Tazlerin Stephanie Grimm konnte am Rande des Femua-Festivals im ivorischen Abidjan mit dem senegalesischen Musiker Baaba Maal sprechen, der die Jugend der afrikanischen Staaten dazu aufruft, die Zukunft auf dem eigenen Kontinent zu schaffen, statt nach Europa zu migrieren, wo sie nur ein Realtitätsschock erwartet: "Wir leben auf einem riesigen Kontinent, der reich an natürlichen Ressourcen ist und zudem eine sehr junge Bevölkerung hat. Es gibt viele Gründe zu glauben, dass die Zukunft bei uns in Afrika liegt. Wenn sie Selbstbewusstsein und eine Perspektive haben, entwickeln viele jungen Leute gar nicht erst den Wunsch, aus Afrika wegzugehen. Zugleich stehen wir vor großen Problemen, etwa in der Sahelzone. Was dort gerade an Gewalt stattfindet, ist leider beispielhaft für viele Regionen in Afrika." Hier ein aktuelles Video von Baaba Maal:



Außerdem: Franka Lu schreibt auf ZeitOnline einen Nachruf auf die chinesische Sängerin Coco Lee, die insbesondere unter chinesischen Expats ein Superstar war und sich nun suizidiert hat. Zum Tod von Sinéad O'Connor (unser Resümee) schreiben Nanja Boenisch (Tsp), Sylvia Staude (FR), Moritz Marthaler (TA), Michael Pilz (Welt) und Ralf Sotschek (taz). Besprochen werden eine von Jordi Savall dirigierte Aufführung von Haydns "Schöpfung" (Standard) und die zwei Rammstein-Konzerte in Wien (Presse). In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Philipp Krohn über Sam Fenders "Seventeen Going Under":

Archiv: Musik