Efeu - Die Kulturrundschau

Mit Freund-Feind-Ufftata kommt man nicht weiter

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11.08.2023. Dem hingerissenen Tagesspiegel läuft die Farbe aus den Ohren beim chinesischen Animationsblockbuster "Deep Sea". Außerdem unterhält er sich mit dem kurdischen schriftsteller Yavuz Ekinci, der seiner Wut über die Gewalt in der Türkei Luft macht. Die SZ porträtiert Sylvia Robinson von Sugar Hill Records, die HipHop seinen Namen gab. Die NZZ empfiehlt ganz generell Betonkopf-Linken und Rechtspopulisten: "Hört mehr Hip-Hop". Die Berliner Zeitung ermuntert zu einem Besuch der Berliner Gemäldegalerie: Dort sind nur heute die Gemälde Sarah Haffners ausgestellt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.08.2023 finden Sie hier

Kunst

Sarah Haffner: Christopher Isherwood in Berlin, 2007. Bild: Galerie Poll.

Nur einen einzigen Tag (heute) werden die Gemälde Sarah Haffners in der Berlinischen Galerie ausgestellt, bedauert Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung. Sie werden "werden vorerst wissenschaftlich bearbeitet und für spätere Ausstellungen vorbereitet", heißt es dazu. Schade, denn die überwiegend blauen Kunstwerke Haffners, die in Cambridge geboren wurde und als Jugendliche nach Deutschland kam, um dann an der HdK zu studieren, findet die Kritikerin faszinierend: "Die radikale Verknappung der Formen war schon früh ihr Markenzeichen. Was man sieht, ist nur scheinbar real. Stimmungen, Erscheinungen, Gedanken gerinnen zu dichten, strengen Formen für Gestalten und den Stadtraum Berlins, wo helle Farben zu dunklen, warme zu kalten komponiert sind. Auf suggestive Effekte verzichtete sie. Nicht aber auf Plastizität. Bis ins Alterswerk hinein malte sie scharfkonturige, fensterlose Häusergebirge. Brandmauern, Brücken, Treppen und Wände, die einen zurückstoßen, aber faszinierend charaktervoll sind: das steinerne Berlin."

Wie gehts weiter mit der Documenta? Im SZ-Interview versichert Sven Schoeller, neuer grüner Bürgermeister und Kulturdezernenten von Kassel, einen Antisemitismusskandal wie beim letzten Mal dürfe es nicht wieder geben. Daher habe man eine "Beratungsgesellschaft" mit einer "Organisationsanalyse" beauftragt. Die Rolle des Bundes, der derzeit viel Geld an die Documenta gibt, aber nicht mitreden darf, möchte er aber nicht ändern: "Die Documenta fifteen hat meiner Meinung nach nicht wegen der Gesellschafterstruktur ihres Trägers polarisiert - dies scheint vor allem an mangelnder Kommunikation zwischen der gGmbH, deren Organen und den Kuratoren gelegen zu haben", meint er. Alles weitere dann nach den Befunden der "Beratungsgesellschaft".

Weitere Artikel: Kerstin Holm widmet sich in der FAZ den verschiedenen Ausstellungen afrikanischer Kunst in Russland und der völlig ausbleibenden Reflektion des russischen Imperialismus und Kolonialismus in diesen Zusammenhängen. Das Museum of Popular Culture Seattle stellt zwar immer noch Artefakte aus dem Harry-Potter-Universum aus, hat aber alle Hinweise auf J.K. Rowling getilgt, weil der "ursprüngliche Autor schrecklich ist", wie es in einem Blog des Museums heißt, meldet die Berliner Zeitung. Anlass scheinen Rowlings Ansichten zu Transpersonen zu sein: Ihrer Meinung nach ist eine Frau eine Frau und eine Transfrau eine Transfrau.

Besprochen werden die Ausstellung "Lee Miller. Fotografin zwischen Krieg und Glamour" im Hamburger Bucerius-Forum (NZZ) und die Werkschau Ron Muecks in der Fondation Cartier in Paris (Welt).
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Literatur

Im Tagesspiegel spricht Stefan Berkholz mit dem kurdischen Schriftsteller Yavuz Ekinci über dessen Roman "Das ferne Dorf meiner Kindheit", der dieser Tage auf Deutsch erschienen ist. Im Original erschien das Buch bereits 2012. Es geht um die Geschichte der Türkei und Kurdistans im 20. Jahrhundert, erfahren wir. Der Roman "kam in einer Zeit heraus, als in der Öffentlichkeit sehr viel über Vergangenheitsaufarbeitung und Versöhnung diskutiert wurde. Das hing mit den Ambitionen der Regierung zusammen, eine EU-Vollmitgliedschaft zu erwirken. ... Ich war beim Schreiben noch jung, gerade einmal Ende zwanzig, und sehr, sehr wütend. Und ich fand, dass dieser Stoff eine harte, eine realistische, aber auch zerstörerische Sprache erfordert." Die Türkei "ist in eine Art Hölle verwandelt worden, in einen verfluchten Ort. Seit hundert Jahren gibt es Gewalt mit unglaublich vielen Toten und schrecklichem Leid. Und in jeder Runde wird wie beim Pokern der Einsatz erhöht. ... Ich glaube, dass Schriftstellerei gefährlich sein sollte. Menschen, die dieses Risiko nicht eingehen, wollen sich oft nur nicht die Hände schmutzig machen. Sie meiden bestimmte Themen, weil sie ihre Wut verloren haben."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Markus Thielemann schreibt auf 54books über den Dichter Hermann Löns.

Besprochen werden unter anderem Klara Blums "Der Hirte und die Weberin" (FR), Lisa Sophie Gebhards Biografie "Davis Trietsch. Der vergessene Visionär" (taz), Joris Mertens' Comic "Das große Los" (Tsp), Helmut Böttigers "Czernowitz. Stadt der Zeitenwenden" (NZZ), Wolfgang Rihms und Peter Trawnys Gesprächsband "Frei" (FAZ) sowie neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Cornelia Franz' "Wildesland" (SZ). Außerdem liest der Freitag die Krimis der Saison.
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Film

Auf den 3D-Effekt des chinesischen Animationsfilmblockbusters "Deep Sea" muss das deutsche Publikum zwar verzichten. Aber die fantasiereiche Odyssee ist dennoch ein Knaller, verspricht Tagesspiegel-Kritikerin Claudia Reinhard: Sie hatte nach dem Film geradezu das Gefühl, es "müsste einem die Farbe aus den Ohren herauslaufen. Für ihre Unterwasserwelt haben Regisseur Tian Xiaopeng und sein über tausendköpfiges Team 3D-Animation mit traditioneller chinesischer Xieyi-Tuschmalerei verknüpft, bei der mit schneller Pinselführung, das Wesen eines Gegenstands abgebildet werden soll. Das Ergebnis ist eine Welt, in der Formen und Farben in einem ebenso ständigen Strom bewegen wie die Emotionen der Helden, die sie durchschreiten. In weiten Teilen präsentiert sich 'Deep Sea', der in China zu den erfolgreichen Filmen des Jahres gehört und in Deutschland bei der Berlinale Premiere hatte, als Hayao Miyazakis 'Chihiros Reise ins Zauberland' auf LSD." Der Trailer vermittelt einen Eindruck:



Weitere Artikel: Heide Rampetzreiter staunt in der Presse über das Comeback, das dem Schauspieler Josh Hartnett mit "Oppenheimer" gelungen ist. Die Krimi-Autorin Rita Falk ärgert sich über die erfolgreichen Verfilmungen ihrer Eberhofer-Krimis, meldet David Steinitz in der SZ. Rüdiger Suchsland (hier) und Lilith Stangenberg (dort) schreiben auf Artechock zum Tod von William Friedkin (hier weitere Nachrufe).

Besprochen werden Regina Schillings im ZDF gezeigter Essayfilm "Diese Sendung ist kein Spiel" (Welt, mehr dazu hier), Celine Songs Romanze "Past Lives" über eine Kindheitsliebe, die sich nach Jahren wieder aktualisiert (Standard, Filmdienst), Asli Özges "Black Box" (FAZ), Robert Rodriguez' Thriller "Hypnotic" (Standard), Neill Blomkamps Videospielverfilmung "Gran Turismo" (FR), die Wiederaufführung von Sabus "Dangan Runner" aus den Neunzigern (Filmdienst), die in der ARD-Mediathek gezeigte MeToo-Serie "37 Sekunden" (Welt) und die Netflix-Serie "Painkiller" (FAZ).
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Bühne

Der Frage, warum Intimitätskoordinatoren an Theatern eine gute Idee sein könnten, geht Dorion Weickmann für die SZ nach. Die Koordinatoren arbeiten zu Fragen wie: "Wie lassen sich intime, sexualitätsbezogene oder konfliktlastige Momente innerhalb einer Inszenierung so gestalten, dass die Beteiligten einvernehmlich agieren und niemand etwas tut, was ihm oder ihr widerstrebt?" Kritik, diese Sicherheiten könnten zu Lasten von Spontanität und kreativem Geist gehen, weiß Weickmann im Gespräch mit verschiedenen Akteuren wie dem Koordinator Florian Federl zu entkräftigen: "'Wichtig ist, dass die Beteiligten wissen, was sie tun, warum sie es tun und worauf sie sich einlassen. ... Wieso sollen ausgerechnet Tänzer, die doch ständig und ausschließlich mit dem Körper sprechen, nicht von sich aus in der Lage sein, Grenzen zu ziehen? Die wichtigste Antwort liegt in der Ausbildung, die vielfach strikt hierarchisch organisiert und leistungstechnisch orientiert ist. Wer als Teenie nicht lernt, den Mund aufzumachen, wird ihn auch später kaum aufkriegen. Hier schaffen Intimitätskoordinatoren Abhilfe."

(La)Horde: Age of Content. Bild: Blandine Soulage.

Ob das Choreografen-Trio (La)Horde einen Intimitätsbeauftragten beschäftigt, wissen wir nicht. Nachtkritiker Michael Laages sah dessen Choreografie "Age of Content" beim Internationalen Sommerfestival Kampnagel jedenfalls mit gemischten Gefühlen. Ein Auto und sein Kampf mit den Figuren nimmt eine prominente Rolle auf der Bühne ein: Da es "die Wimmelwesen höchstpersönlich von sich runter werfen kann, ist bald schon nicht mehr auszumachen, wer hier die Oberhand behalten wird: Maschine oder Mensch. ... Das Schönste, was zu hoffen bleibt, wäre wohl Liebe: um die geht's im zweigeteilten Finale. Erst probiert ein einzelnes Paar möglichst phantasievolle erotische Stellungen aus - und das angedeutete Gelecke, Gefummel und Gerammel nimmt schon ziemlich explizite Formen an. Jeder ist mit jeder und jedem zugange". Es ist aber nicht der Sex auf der Bühne, der ihn stört, sondern "dass 'Age of Content' eher montiert wirkt und als Gesamt-Dramaturgie nicht überzeugt - wie überall und immer wieder auch an den Stadt- und Staatstheatern, wenn mal wieder drei Choreografinnen und Choreografen einen Ballett-Abend gemeinsam verantworten". Das Finale allerdings war toll, meint er.

Mehr Spaß hatte Tagesspiegel-Kritikerin Sandra Luzina bei der Eröffnungsvorstellung des Berliner Festivals Tanz im August im HAU: Gegeben wurde "Carcaça" in der Inszenierung von Marco da Silva Ferreira, einem Choreografen des "Urban Dance", der sich fragt, was heute noch Volkstanz ist: "Er verbindet Streetdance und Clubbing mit Schrittmustern, die man von folkloristischen Tänzen kennt. Dabei fokussiert er sich auf die Fußarbeit. Die Tänzer:innen treten zunächst in schwarzen Trikots mit Cut outs auf. Später schlüpfen einige der Männer und Frauen in Röcke mit bunten Ethno-Mustern. ... Das ist streckenweise mitreißend, eine Demonstration von Lebensfreude. Nur leider ist die Guckkastenbühne des Hebbel-Theaters denkbar ungeeignet für das Stück."

Weiteres: Gina Thomas hat sich für die FAZ Händels "Semele" und Strauss' "Ariadne" beim Opernfestival Glyndebourne angeschaut.
Archiv: Bühne

Musik

Heute vor fünfzig Jahren fand in der Bronx die wohl einflussreichste Hinterhofparty der Musikgeschichte statt: Kool Herc loopte damals mit zwei Plattenspielern (und sehr viel Fingerspitzengefühl) einen Breakbeat aus einer Funknummer und heizte den zu diesem Endlos-Beat tanzenden Leuten mit dem Mikrofon ein - es war die Geburtsstunde des Hip-Hop! Schon damals zog eine Frau im Hintergrund die Strippen - und auch, als Hip-Hop 1979 sich aus den New Yorkern Hinterhöfen in die Charts erhob, wie Jakob Biazza in der SZ schreibt: Sylvia Robinson von Sugar Hill Records ließ "die tiefe, hopsende Melodie aus Chics Disco-Song 'Good Times' nachspielen, eingeleitet von einem dieser Drumbreaks, die für Kool Herc schon so prächtig funktioniert hatten. Chic-Bassist Bernard Edwards und Gitarrist Nile Rodgers drohten eilig mit Klage und bekamen außergerichtlich Songwriting-Credits. Die für das Projekt zusammengestellten Vokalisten benannte Robinson nach ihrem Label, The Sugarhill Gang, der Song bekam den Titel 'Rapper's Delight'. Die ersten Zeilen: 'I said-a hip, hop, the hippie, the hippie / To the hip hip hop' ... Und das Genre hatte seinen Namen. Und sollte den Unterdrückten, also den Schwarzen, zukünftig eine Stimme geben, und nur, weil das Disney-dusselig-pathetisch klingt, wird es nicht weniger wahr."



Hip-Hop wäre auch ganz gut geeignet, um die politischen Frontstellungen unserer Tage mal ein bisschen aufzulockern, findet Daniel Haas in der NZZ: "Das Alte bewahren und würdigen und es gleichzeitig modernisieren und übersetzen in ein gegenwärtiges Idiom, das alle verstehen können: Das kann kein Genre so gut wie Hip-Hop. Im erbitterten Stellungskrieg zwischen Traditionalisten, die sich auch dann noch an Vergangenes klammern, wenn es sich als politisch obsolet erwiesen hat, und Fortschrittlern, die in blindem Furor ganze Wissens- und Kulturbestände entsorgen wollen, könnte Hip-Hop vermitteln. Als ein im besten Sinne postmodernes Medium, das widersprüchliche Haltungen synthetisiert. Hey, Betonkopf-Linker, hey, Rechtspopulist: Hört mehr Hip-Hop, schüttelt euch den ideologischen Starrsinn mit ein paar Beats aus dem Pelz. Mit Freund-Feind-Ufftata kommt man nicht weiter."

Außerdem: In der FAZ gratuliert Michael Ernst dem Komponisten Krzysztof Meyer zum 80. Geburtstag. Nachrufe auf Robbie Robertson von The Band schreiben Detlef Diederichsen (taz), Edo Reents (FAZ), Harry Nutt (FR), Rüdiger Schaper (Tsp) und Jan Küveler (Welt). Zum Tod von Sixto Rodriguez, den ein breites Publikum durch den Dokumentarfilm "Searching for Sugar Man" kennengelernt hat, schreiben Torsten Groß (ZeitOnline) und Michael Pilz (Welt). In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Jan Wiele über "Nothing Compares 2 U" von Sinead O'Connor.

Besprochen werden Simon Reynolds' Buch "Futuromania" mit gesammelten popjournalistischen Texten (taz), ein gemeinsamer Wiener Auftritt von Gerhard Polt, den Brüdern Well und den Toten Hosen (Standard) sowie das neue Album von John Lydons Band PiL (ZeitOnline).

Archiv: Musik
Stichwörter: Hiphop, Polt, Gerhard