Efeu - Die Kulturrundschau

Willst du mit mir ein Anarchist sein?

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15.08.2023. Die FAZ staunt über den Wagemut der libanesischen Film-Satire "Hardabasht", die ihren Finger auf so ziemlich alle Wunden des Landes legt - nur ein rauchender Polizist ging den Zensurbehörden zu weit. Die Kritiker sind schwer beeindruckt: Simon Stones "The Greek Passion" bei den Salzburger Festspielen ist die Oper der Stunde. Die taz legt sich mit der Subkultur der Sad Girls im Auto schlafen und träumt von der Anarchie. Die NZZ lässt sich von Chiharu Shiotas blutroten Spinnfäden umgarnen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.08.2023 finden Sie hier

Film

"Hardabasht" von Mohammad Dayekh und Hussein Kaouk Ali Lamaa

Lena Bopp staunt in der FAZ über den Mut der beiden libanesischen Komiker Mohammad Dayekh und Hussein Kaouk Ali Lamaa, die mit ihrer beißenden Satire auf TikTok groß geworden sind und mit der Komödie "Hardabasht" nun ihr Spielfilmdebüt vorlegen. Die erheblichen Turbulenzen des Films erschweren dem Publikum zwar die Übersicht, doch "das ist verzeihlich, weil sich der Wagemut des Films vielmehr in seinen Details offenbart: in der Frau, die den Scheich tötet und mit ihm die religiöse Autorität; in den Slogans der Revolution von 2019, die in den Straßen von Ouzai erklingen; in dem Alltag, der in dem von der Hizbullah und ihren Verbündeten beherrschten Viertel schrecklich ist; in dem christlichen Polizisten, der seinen Kollegen tötet und die Tat genauso verschleiert, wie die schiitischen Kleinganoven es tun. Aus Sicht der einzelnen Mikrokosmen, aus denen sich die Gesellschaft in Libanon zusammensetzt, gäbe es viel Skandalöses zu kritisieren an diesem Film. Die Zensurbehörde des Landes aber beanstandete nur Szenen mit dem Polizisten, weil der raucht."

Sehr gespannt und mit großer Freude (wenn auch nicht über das Layout) liest Fabian Tietke für den Filmdienst den Gesprächsband "Kino, Festival, Archiv - die Kunst für gute Filme zu kämpfen", in dem die Berliner Filmhistorikerlegenden Ulrich und Erika Gregor aus ihrem Leben und ihren Abenteuern als Arsenal- und Forums-Mitbegründer erzählen - und dies angereichert mit "eine Fülle von Material". Insbesondere die Anfänge der Gregors in den Fünfzigern wirken heute fast außerirdisch und improvisiert: "Als Ulrich Gregor für einen Vortrag über die französische Filmkunst jener Zeit zum Filmclub in Bad Ems reiste, übernachtete er auf einer Parkbank, weil die Hotels schon geschlossen hatten. Was in dem Band besonders deutlich wird, ist der Wendepunkt, den das eigene Kino und die Gründung des Internationalen Forums des Jungen Films nach einer jahrelangen Krise der Berlinale bedeuteten. In wenigen Jahren wurde aus der umtriebigen Initiative mit Gastspielen in der Akademie ein Motor des deutschen und europäischen Kinos mit den Gregors im Zentrum dieser Entwicklung. Möglich wurde dies nicht zuletzt durch die persönliche Nähe zu einer Reihe von Filmemacher.innen, die durch eine bereitwillige Öffnung der Gästezimmer im Haus Gregor vor allem in der Anfangszeit entstand. So wurde István Szabó vom Gast zum temporären Kinderbetreuer, damit die Gregors auch nach der Geburt ihrer Kinder gemeinsam auf Festivals fahren konnten."

Außerdem: Irene Genhart resümiert im Filmdienst das Filmfestival Locarno (mehr dazu hier). Fabian Tietke empfiehlt in der taz die Reihe "Glück auf" des Berliner Zeughauskinos über den Bergbau im deutschen Film. Besprochen werden Celine Songs "Past Lives" (Tsp, SZ), die Serie "The Lost Flowers of Alice Hart" mit Sigourney Weaver (TA) und die Serie "Love Me" (FAZ).
Archiv: Film

Musik

Jean Dumler beschäftigt sich für die taz mit der Sad-Girls-Szene, deren prominentester Star Phoebe Bridgers gerade die Konzerthallen füllt. Viele der Leute in dieser Szene kamen über Taylor Swift zum melancholischen, vom Punk herkommenden Indiepop. "Gemeinsam mit Julien Baker und Lucy Dacus bildet Phoebe Bridgers als boygenius die Superheld:innen-Allianz der Sad-Girl-Szene. ... Während Floridas Gouverneur Ron DeSantis mit dem 'Don't say gay'-Gesetz versucht, Unterricht über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität in Schulen zu verbieten, thematisieren boygenius im diesjährig erschienenen Debüt-Studioalbum 'The Record' Freundschaften und queere Beziehungen. Im Gegensatz zu anderen Mainstream-Künstler:innen, die sich nicht trauen, rotzige Texte zu schreiben, sondern nur mit kryptischen Zeilen und performativen Regenbogen-Musikvideos die queere Community anflirten, provozieren boygenius. ... Live rufen sie zu dritt "Abortion rocks, and fuck Ron DeSantis'. So singen sie in ihrem Song 'Satanist': 'Willst du mit mir ein Anarchist sein, in Autos schlafen und die Bourgeoisie töten?'. Live rufen sie zu dritt 'Abortion rocks, and fuck Ron DeSantis'."



Außerdem: Standard-Kritiker Ljubisa Tosic ist gespannt auf das Monteverdi-Konzert des Chors Ad Libitum unter Heinz Ferlesch heute im Stift Hezogenburg. Corina Kolbe wirft für den Tagesspiegel einen Blick aufs Jubiläumsprogramm zu 75 Jahren Rias Kammerchor. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus online nachgereicht Ulla Meinecke zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden ein Konzert des Nationalen Jugendorchesters Rumäniens beim Berliner Festival Young Euro Classic (Tsp), das Debüt des Trios Gabriels (FR) und eine Box mit Aufnahmen aus den Londoner Jahren der US-amerikanischen Sängerin Blossom Dearie (Presse). Benannt ist die Compilation nach diesem tollen Song:

Archiv: Musik

Bühne

Szene aus "The Greek Passion" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Monika Rittershaus


Simon Stones Inszenierung von Bohuslav Martinus' Oper "The Greek Passion" ist die "Oper der Stunde" und der Höhepunkt der Salzburger Festspiele, jubelt FR-Kritikerin Judith von Sternburg. Martinu verfasste das Libretto zusammen mit dem griechischen Romanautor Nikos Kazantzakis in den fünfziger Jahren: Gerade hat der Priester Gregoris in einem verschlafenen Dorf die Rollen für das Passionsspiel vergeben, da taucht ein Flüchtlingstrek auf, der um Hilfe bittet. Ursprünglich ging es hier um Migrationswellen während des Griechisch-Türkischen Krieges, so die Kritikerin, aber der Konflikt, den die Ankunft der Geflüchteten auslöst, ist natürlich brandaktuell und wie dem Salzburger Publikum hier "das Unrecht unterlassener Hilfeleistung entgegengedonnert wurde" beeindruckt Sternburg sehr: "Diese Oper ist durch die erforderlichen Chormassen, durch die Landschaften, die man sich dabei vorstellt, aber auch durch die Musik eine echte Breitwandoper. An Korngold und gar an Hollywood zu denken, ist nicht abwegig. Eine ideale Bühne dafür bietet die Felsenreitschule, für die der Regisseur Simon Stone einfache, große Bilder findet...Sich abgrundtief zu schämen und begeistert zu applaudieren, bietet sich sehr selten so unpeinlich zur selben Zeit an." Dieser Abend wirkt lange nach, findet auch Welt-kritiker Manuel Brug, und ist musikalisch höchst interessant: "Eine moderne Passion; manchmal eher als folkloristisches Getümmel zwischen der kantigen Tragödie, die die Partitur harsch meißelt. Da gibt es Fetzen von Strawinsky, Anklänge an Orff, auch Messiaen, gregorianische Mystik, Impressionismus, Einfachheit und Komplexität. Scheinbar Leichtes, Klares kippt in sanften Übergängen immer wieder in harmonisch Überraschendes." Anja-Rosa Thöming beklagt in der FAZ hingegen das sterile Bühnenbild und die "Erwartbarkeit vieler Bilder". Regine Müller bespricht das Stück in der taz.

FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster hat mit Trajal Harrells Performance "The Romeo" beim Festival Tanz im August eine "herrlich intellektuelle" Choreografie erlebt: "Sie ist wie eine Illustration, ein Tanz kluger Thesen, meditativ, zurückhaltend, insistent in der ritualhaften Wiederholung einiger Motive."

Archiv: Bühne

Literatur

Der Schriftsteller Thomas Brussig ärgert sich im Tagesspiegel darüber, dass er kein Honorar erhält, wenn er im Radio über sein neues Buch spricht. Der Schriftsteller David Wagner genießt die "Müllidylle" der Berliner Parks, in die er sich im Sommer gerne zum Arbeiten zurückzieht, wie er im Tagesspiegel erzählt.

Besprochen werden unter anderem Hilary Mantels "Sprechen lernen" (FR), Philipp Oehmkes "Schönwald" (taz), Heinz Strunks Bilderbuch "Die Käsis" (SZ) und Jasmin Ramadans "Auf Wiedersehen" (FAZ).
Archiv: Literatur
Stichwörter: Strunk, Heinz, Ramadan

Kunst

Installationsansicht von "Eye to Eye", Chiharu Shiota. Foto: Haus Konstruktiv, Zürich.

Unheimlich schweben Chiharu Shiotas spinnennetzartige Kunstwerke im Raum, sodass NZZ-Kritiker Philipp Meier in der Ausstellung "Eye to Eye" im Haus Konstruktiv in Zürich kaum die Augen abwenden kann. Die "Fadeninstallationen" der japanischen Künstlerin sind weltberühmt, in ihrer Mitte "halten sie die verschiedensten Objets trouvées gefangen", so der Kritiker, meistens Alltagsgegenstände: "Dass bei Chiharu Shiota dem Auge eine besondere Bedeutung zukommt, zeigt sich gerade an dieser faszinierenden Rauminstallation mit dem Titel 'Eye to Eye' von 2023. An der überwältigenden Menge von blutroten Fäden, eigentlich sind es dünnere Seile, hängen Tausende von Brillen. Es sind getragene Sonnen- und Korrekturbrillen, welche die Künstlerin über die Jahre gesammelt hat. Einige von ihnen weisen zerbrochene Gläser auf, andere Beispiele wirken durch die stumpf gewordene Tönung der Sonnenbrillengläser wie erblindet. Wir aber blicken gebannt auf dieses Augenmeer von unzähligen Sinnfäden und Assoziationen, die uns mit einem grösseren Geflecht von Bedeutungen verknüpfen."

Weitere Artikel: Sophie Jung spricht für die taz mit dem Juristen Michael Mai, der die Kuratorinnen Elke Gruhn und Yama Rahimi bei der Konzipierung der virtuellen Ausstellung "Hidden Statement" des Kunstvereins Wiesbaden unterstützt, die afghanische Künstlerinnen zu Wort kommen lässt, die im Land festsitzen. Die Künstlerinnen auszustellen und sie gleichzeitig vor dem Regime zu schützen, ist nicht einfach, so Mai: "Der einzige gangbare Weg für die Ausstellung war also die komplette Anonymisierung der Künstler:innen. Bei 'Hidden Statement' werden nur Pseudonyme verwendet und die biografischen Angaben sind so reduziert, dass eine Rückverfolgung ins Leere führen würde."

Besprochen werden die Ausstellung "Fake, Figuren und Fiktion - Die bewegte Welt des Franz Winzentsen" im Kunsthaus Stade (taz) und die Ausstellung "Anna Boch. Eine impressionistische Reise" im Mu.ZEE in Ostende (FAZ).
Archiv: Kunst