Efeu - Die Kulturrundschau

Ich fühle einfach zu viel

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.08.2023. Die FAZ ist ergriffen, verstört: Paavo Järvis radikale Luzerner Interpretation der Vierten von Brahms war eine Sensation. Die SZ schmilzt eher dahin: Der wieder edierte Pianist Alfred Cortot bewies auch im Exzess vornehme Leidenschaft. Der Perlentaucher mag den arg ostentativen Gefühlsregungen der jungen Schauspieler schauspielernden Schauspieler in Valeria Bruni Tedeschis "Forever Young" nicht folgen. Die FAZ staunt außerdem über Menzel als Shakespearianer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.08.2023 finden Sie hier

Film

Retro-affine Bilder: "Forever Young"

Junge Schauspieler, die sich Hoffnungen auf eine Karriere im Theater machen - darum geht es in Valeria Bruni Tedeschis "Forever Young", schreibt Tilman Schumacher im Perlentaucher. "Dass es sich um eine gesellschaftlich relevante Kunstform oder so etwas handle, scheint den Zwanzigjährigen herzlich egal. Spielen heißt für sie, die eigenen Gefühlsregungen zu bändigen, auch, sie krass nach außen zu stülpen (entsprechend häufig schlittern Szenen am Klischee hyperexaltierten Theaterschauspiels und -lifestyles entlang). ... 'Forever Young' ist kein Metafilm über das Verhältnis von Theater und Leben oder gar von Theater- und Filmmedium, sondern einer, der in analogen, auch auf dieser Ebene retroaffinen Bildern junge Menschen darstellt, die nicht wissen, wohin mit ihren Emotionen. 'Ich fühle einfach zu viel', sagt Stella einmal verheult. Das könnte das Motto des Films sein."

Im NZZ-Interview bekräftigt Ulrich Seidl noch einmal, dass nichts dran sei an den Vorwürfen des Spiegel, er habe beim Dreh zum (nun in der Schweiz startenden) Pädophilendrama "Sparta" (unsere Kritik) Kinder schutzlosen Situationen und Überforderugen ausgesetzt. "Es gab offenbar ein paar Menschen im Team, die - weil sie mitten im Dreh dazugestossen sind und nur wenige Tage dabei waren - kaum Einblick hatten und Dinge beim Dreh völlig falsch verstanden und missinterpretiert haben. Ihre Aussagen lesen sich jedenfalls so. Demgegenüber steht unsere monatelange Arbeit mit den Eltern und Buben: Wir haben sie über ein Jahr gekannt und im ganzen Drehzeitraum - es gab einen Winter- und einen Sommerdreh - betreut. ... Alle Eltern und auch die Buben haben den Film inzwischen ja auch gesehen, und niemand von ihnen hatte irgendwelche Einwände. Aber grundsätzlich gesagt: Man kann doch nicht, wenn man einen Film macht, nur Szenen drehen, bei denen die Kinder immer nur glücklich lachen."

Außerdem: Tobias Mayer vergleicht für den Tagesspiegel aktuelle Hollywood-Honorare und bemerkt: Margot Robbie ist mit ihren 50 Millionen Dollar für "Barbie" sogar eher im Mittelfeld. Hanns-Georg Rodek spricht für die Welt mit dem Regisseur Robert Rodriguez über dessen neuen Thriller "Hypnotic".

Besprochen werden Celine Songs "Past Lives" (Perlentaucher, SZ), die Wiederaufführung von Sabus japanischer 90s-Komödie "Dangan Runner" (taz) und eine Netflix-Doku über den Prozess zwischen Johnny Depp und Amber Heard (Tsp),
Archiv: Film

Musik

"Ein musikalisches Erdbeben" hat sich beim Lucerne Festival abgespielt, berichtet Jan Brachmann in der FAZ: Paavo Järvi hat unter anderem die vierte Brahms-Sinfonie gegeben: "Die zerstörerische Energie, die Järvi in der Coda des ersten Satzes aufglühen lässt, findet in der Hinrichtungsmusik des Finalsatzes ihre Bekräftigung: Noch ein liebevoller Blick zurück auf die Welt, wie sie war, und dann stracks nach vorn in die Katastrophe. Seit dem letzten Dirigat von Nikolaus Harnoncourt mit der fünften Symphonie von Ludwig van Beethoven, das den Finaltriumph in den Terror der Revolution umkippen ließ, seit diesem blutrünstig schreienden C-Dur hat man bis zu Järvis Aufführung von Brahms' Vierter kein Interpretationsereignis mehr erleben können, bei dem einem ein lieb gewordenes Werk so wohlbegründet grausig in die Knochen fährt. ... Von Mozart bis Mahler hat Paavo Järvi hier in Luzern, einem Epizentrum der Orchesterkunst, neue Maßstäbe des Dirigierens gesetzt." Einen Mitschnitt des Konzertes gibt es bei Arte, der Brahms-Teil kommt ab 47:39.

Die neue CD-Box mit zum großen Teil remasterten Aufnahmen des Pianisten Alfred Cortot ist ein "Geschenk", jubel Helmut Mauró in der SZ: "Cortot ist kein Tastenspieler, kein Virtuosendarsteller, kein Klangblender - sondern ein Klavierpoet. Wie unglaublich musikalisch er 1926 auch die sprödesten Etüden angeht, wie er aus Frédéric Chopins Geläufigkeitsstudien op.10 einen ausformulierten Ideenzyklus zaubert, der mit erzählerischer Kraft jenen weiten Kosmos aufspannt, der vielleicht nicht einmal dem Komponisten selber vorschwebte." Er "bevorzugt - auch in den Virtuosenstücken von Franz Liszt - eine keineswegs gebremste, aber hochkultivierte Musizierlust, eine vornehme Leidenschaft selbst im Exzess".



Weitere Artikel: Linda Tutmann besucht für eine Zeit-Reportage das Sinfonieorchester Kiew, das seit einem Jahr in Gera Zuflucht gefunden hat. Nile Rodgers von Chic wehrt sich dagegen, dass die Schweizer SVP seinen Song "We Are Family" zu Wahlkampfzwecken nutzt, meldet Andreas Tobler im Tages-Anzeiger. Reinhard Kager (FAZ) und Egbert Tholl (SZ) gratulieren dem Komponisten Georg Friedrich Haas zum 70. Geburtstag. In der Jungle World gratuliert Magnus Klaue Madonna zum 65. Geburtstag.

Besprochen werden ein postumes Album von Tony Allen (FR) und eine Arte-Doku über die Mamas & The Papas (Tsp).

Archiv: Musik

Architektur

Wie die FAZ berichtet, hat mit dem Verbund der National Museums Liverpool eine weitere Organisation Distanz zum Architekturstar David Adjaye markiert, gegen den jüngst Missbrauchsvorwürfe erhoben wurden (unser Resumee). Seine Pläne für ein internationales Sklavereimuseum soll nun ein anderer Architekt umsetzen. Auf instagram hat eine der Betroffenen die Vorwürfe inzwischen konkretisiert.
Archiv: Architektur
Stichwörter: Adjaye, David

Bühne

Bohuslav Martinus' "The Greek Passion" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Monika Rittershaus


Anders als seine Kollegen von der FR und Welt (unser Resumee) ist Egbert Tholl in der SZ nicht allzu angetan von Simon Stones Inszenierung von Bohuslav Martinus' Oper "The Greek Passion" bei den Salzburger Festspielen. Das Flüchtlingsthema ist wichtig, konzediert er, und gesangstechnisch ist das natürlich auf "Festivaltopniveau"; die Inszenierung ist für Tolls Geschmack jedoch deutlich zu simpel gestrickt. Gut, Martinu "war nie Avantgarde, aber einer, der unmittelbar verstanden werden wollte. Genau das tritt nun in Salzburg zu Tage: Text, Musik und auch die Umsetzung der Oper tragen keinerlei Rätsel, keine über den Moment hinausweisende Idee in sich. Das Publikum ist begeistert", seufzt der Rezensent und blickt nach oben. Von dort "kommt mal ein Wasserfall, fallen pittoreske Papierschnipsel, von unten fahren Hubpodien Teile des Personals inklusive leuchtendem Kreuz nach oben, einmal ploppt ein riesiger Aufblas-Christus auf, da hat man dann endgültig zu viel von der bildlichen Simplizität. Am Ende verlässt die bunte Schar der Geflüchteten die Bühne, die (nicht mehr völlig einheitlich) graue Dorfgemeinschaft bleibt zurück, so einfach kann die Deutung der Welt manchmal sein."

Dorothea Marcus berichtet in der nachtkritik von der Pressekonferenz, auf der Kay Voges als neuer Intendant des Kölner Schauspiels vorgestellt wurde. Mit der Wahl kann sie leben, aber die Auswahlprozedur lässt doch arg zu wünschen übrig, findet sie: "Denn Voges ist eben doch auch wieder jener genialische männliche Künstlertypus, der am Ende gewinnt, weil er als einfachste und naheliegendste Lösung mit der größten Strahlkraft erscheint. 'Es gebe keine geeigneten Frauen im Bewerberfeld', sagte Kulturdezernent Stefan Charles kürzlich noch auf einer Podiumsdiskussion - was definitiv nicht stimmt, ich weiß von mindestens vier spannenden Bewerberinnen. Am ärgerlichsten an dieser Wahl ist nicht, was am Ende herausgekommen ist - Kay Voges ist eine sehr gute Wahl (übrigens soll er vor vier Jahren auch schon im Schlussrennen um die Intendanz gewesen sein). Doch warum sollte das Verfahren geheim gehalten werden wie eine Papstwahl? Warum war die Findungskommission, die sich auf öffentlichen Druck outete - Topgirls wie Karin Beier vom Hamburger Schauspielhaus und Kathrin Mädler vom Theater Oberhausen sowie erfahrene Strippenzieher wie Ulrich Khuon können nicht irren - so gar nicht divers besetzt?"

Weitere Artikel: Rüdiger Schaper freut sich im Tagesspiegel über den Erfolg des Berliner Festivals "Tanz im August". Bernd Noack resümiert in der NZZ leicht deprimiert die Salzburger Festspiele. Elena Philipp schreibt anlässlich des Berlin Circus Festivals in der nachtkritik zum Status quo des zeitgenössischen Zirkus. Besprochen wird der Debütroman der Schauspielerin Valery Tscheplanowa, "Das Pferd im Brunnen" (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Kunst

Adolph Menzel, "Rabbi von Bagdad", ca. 1851


Begeistert berichtet Stefan Trinks in der FAZ von einer Adolph-Menzel-Ausstellung im Museum Georg Schäfer in Schweinfurt, die sich dem Shakespeare-Enthusiasmus des Künsters verschrieben hat. Zeitlebens hatte Menzel seine Theaterbesuche in Bildern reflektiert, führt Trinks aus, die entstandenen Bilder seien weitgehend unbekannt und jetzt quasi komplett in Schweinfurt zu besichtigen. Eine obskure Fußnote der Kunst- und Theatergeschichte? Keineswegs, denn die Ausstellung ermöglicht einmalige Begegnungen: "Einer der größten Schätze der Schweinfurter Sammlung, der 'Rabbi von Bagdad', das en face gegebene Brustbild eines jüdischen Priesters im Festornat von 1856/80, kommt dem Betrachter mit nach vorne geneigtem Kopf derart nahe, dass dieser die geröteten Liddeckel, das Gelb im Weiß der Augen und die winzigen Schweißpartikel auf der Halbglatze wahrnehmen und das Gefühl haben muss, dieser Nathan der Weise stehe ihm in einem Theatermonolog am Bühnenrand direkt gegenüber und fordere eine Positionierung im großen Ringen um Toleranz von ihm."

In der FR amüsiert sich Judith von Sternburg über das Verschwinden von gleich 100 Richard-Wagner-Statuen (siehe unter anderem hier), die bis vor Kurzem vor dem Bayreuther Festspielhaus aufgestellt waren: "Nun ist es so, dass Ottmar Hörls Richard-Wagner-Figuren einem auf die Nerven gehen können. Andererseits sind sie possierlich. Andererseits geht es immerhin um Richard Wagner. Andererseits muss ein bisschen Spaß schon sein. Andererseits ist es wegen des ganzen Personenkults ernsthaft gut, dass sie possierlich sind. Andererseits hat es eine beleidigende Seite, wenn man bedenkt, dass Wagner selbst 1,66 Meter groß war. Andererseits war Beethoven 1,62, Schubert 1,56."

Weitere Artikel: Gunda Bartels besucht für den Tagesspiegel das Berliner Atelier der Künstlerin Heike Kati Barath, deren Arbeiten gerade in der Gruppenausstellung "Ernsthaft?! Albernheit und Enthusiasmus in der Kunst" in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen sind. Nadia von Maltzahn berichtet im Tagesspiegel vom Wiederaufbau des bei der Explosion im Hafen von Beirut schwer beschädigten Sursock-Museums in Beirut.

Besprochen werden die Ausstellungen "Magdalena Abakanowicz. Textile Territorien" im Musée cantonal des Beaux-Arts in Lausanne (Tsp), Wandmalereien von Bridget Riley in der Berliner Galerie Hetzler (Tsp), "Von Rendsburg in die weite Welt. Die Koloniale Frauenschule" im Kulturzentrum Rendsburg (taz) und die der Transzendenz gewidmete Ausstellung "Calling" im Düsseldorfer Kunstverein (taz).
Archiv: Kunst

Literatur

Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Wolfgang Liemberger und Sophie Reyer plaudern für den Standard mit Fantasy-Bestsellerautor Wolfgang Hohlbein. Gregor Dotzauer (Tsp), Stefan Stirnemann (NZZ) und Lothar Müller (SZ) gratulieren dem Dichter Reinzer Kunze zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Maxim Billers "Mama Odessa" (NZZ), neue Anthologien zu den afrikanischen Literaturen (taz), Emmanuel Carrères Gerichtsreportage "V13. Die Terroranschläge in Paris" (TA), Valery Tscheplanowas "Das Pferd im Brunnen" (FR), Iwan Schmeljows "Der Toten Sonne" (online nachgereicht von der Zeit), Ronja von Rönnes Essay "Trotz" (SZ) und Susanne Stephans Studie "'Der Held und seine Heizung'. Brennstoffe der Literatur" (FAZ).
Archiv: Literatur