Efeu - Die Kulturrundschau

Diese teuflische Achterbahn-Epoche

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25.08.2023. Das Kunstfest Weimar ist eröffnet. Die SZ warnt vor Klassikerbesoffenheit, von der man sich laut nachtkritik mit Robert Wilsons "Ubu"-Inszenierung heilen lassen kann. Die SZ trauert um die Garde der großen Nachkriegsautoren, die bei allen Fehlern immer die Demokratie verteidigt hätten. In der Welt erklärt die französische Regisseurin Maïwenn die Verführung der Macht. Die FAZ bestaunt die Kunst der Rückenbeuge im Salzburger Museum der Moderne. Die taz taucht in die Berliner Italo-Disco-Szene ein.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.08.2023 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Ubu" von Robert Wilson: Foto: Kunstfest Weimar


Das Kunstfest Weimar wurde in diesem Jahr mit Alfred Jarrys "Ubu" eröffnet - oder richtiger: mit einem Robert-Wilson-Theater, das Anleihen bei Jarry macht, meint Thomas Rothschild in der nachtkritik. "Von der Dichtung des Erfinders der Pataphysik hat er nur ein paar Fragmente übernommen. Der Satz 'Ich gebe der Versuchung nach' zum Beispiel wird auf Englisch ohne Kontext mehrfach wiederholt. Konsequenterweise figuriert der Starregisseur auch als Autor. Wobei für den Meister der Kunst-Melange Joan Miró eine wichtigere Inspirationsquelle darstellt als Alfred Jarry. ... Bei Robert Wilson wartet man vergeblich auf die 'Schreiße'. Stattdessen betritt eine undefinierbare Figur im Zivil wie in Zeitlupe einen langen Steg, der zur Bühne führt, auf der die Figuren in schwarz-weißen Kostümen aus zerknüllten Zeitungsschnitzeln mit roten Tupfen an einem langen Tisch sitzen. Sie beginnen sich zu bewegen, stammeln einzelne Wörter, tänzeln als Schattenrisse vor dem hell erleuchteten pastellfarbenen Hintergrund über die Bühne. Zeitweilig sitzen sie starr da, während der aufgezeichnete Dialog oder was davon geblieben ist aus den Boxen dringt. Untermalt wird die ganze Schau mit Musik diverser Genres von der Romantik bis zum Tiger Rag." Also, Jarry war's nicht, meint Rothschild. Aber ein "schönes Spektakel", das ihn noch am ehesten an Kabuki Theater erinnerte.

In der SZ berichtet Till Briegleb über die Eröffnungsveranstaltung auf dem Theaterplatz in Weimar: "Günther Uecker hatte in Weimars Kulturhauptstadtjahr 1999 in der sogenannten Häftlingskantine des nahe gelegenen Konzentrationslagers ohne Auftrag von der Stadt ein 'Steinmal' errichtet, um in der Klassikerbesoffenheit der Festlichkeiten daran zu erinnern, dass Weimar auch für den Holocaust steht. Und für große Hitlerbegeisterung." Die Stadt war "früh in der nach ihr benannten Republik bereits eine Hochburg der Nationalsozialisten. Heute, wo Björn Höcke von Teilen der Bevölkerung hier ähnlich begeistert empfangen wird und seiner Partei in Thüringen für die Landtagswahlen ein vergleichbar hohes Ergebnis prognostiziert wird, wie die NSDAP es 1932 erzielte, schien Uecker die Zeit reif zu sein, das Mahnmal im Zentrum der Stadt zu erneuern." In der FAZ berichtet Simon Strauss von der kämpferischen Eröffnungsrede Bodo Ramelows, der sich gegen die AfD positionierte. Im Tagesspiegel schreibt Rüdiger Schaper zur Eröffnung des Kunstfests.

Weiteres: Das Deutsche Theater ist Theater des Jahres meldet die Berliner Zeitung mit dpa. Der Heldentenor Stephen Gould beendet aus gesundheitlichen Gründen seine Karriere, berichtet Egbert Tholl in der SZ. Der Choreograf Marco Goecke darf zunächst doch nicht wieder an der Staatsoper Hannover arbeiten, wie das Opernhaus zunächst gemeldet hatte: "Niedersachsens Kulturminister Falko Mohrs (SPD) hatte dies als 'inakzeptabel' kritisiert", berichtet Zeit online, woraufhin die Oper einen Rückzieher machte. Laut taz erklärte Intendantin Laura Berman jedoch, "sie könne sich eine Zusammenarbeit mit Goecke zu einem späteren Zeitpunkt vorstellen". Besprochen werden (La) Hordes Choreografie "Age of Content" beim Berliner Tanz im August (BlZ) und Brechts "Arturo Ui" in der JVA Tegel (Tsp).
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Literatur

Erst Grass, dann Enzensberger, nun Walser: Die Garde der großen Nachkriegsautoren, der Flakhelfer-Generation wird nun endgültig historisch, schreibt Hilmar Klute merklich melancholisch und sorgenvoll in der SZ. Es war eine Generation der Mahner, Meister der "kritischen Dreinrede", deren "Wahrheiten sich zu einem Gutteil aus ihren Lebensirrtümern, aus den Verführungen durch den Nationalsozialismus speisten. ... Kein Autor muss zum Mahner werden, weiß Gott nicht. Die Zeit der Großschriftsteller ist vorbei, die Gründe kennt jeder, der einen Twitteraccount besitzt. Aber Gedanken, Gedichte und Geschichten von vor fünfzig Jahren können für Generationen, die wieder vor der Aufgabe stehen könnten, eine Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen, so hilfreich sein wie die vertrackten Lebensläufe ihrer Autoren."

Außerdem: Gregor Dotzauer resümiert für den Tagesspiegel einen literarischen Abend zum Thema Exil bei Bundespräsident Steinmeier. Matthias Niederberger porträtiert für die NZZ den schwer erkrankten Autor Claude Cueni.

Besprochen werden unter anderem Emmanuel Carreres Gerichtsreportage "V13. Die Terroranschläge in Paris" (FR), Christoph Nix' Kriminalroman "Kongotopia" (FR), Marko Martins Essaysammlung "'Brauchen wir Ketzer?' Stimmen gegen die Macht" (Freitag), Kerstin Ekmans "Wolfslichter" (NZZ) sowie ein neues Bilderbuch und ein neues Hörspiel zu 50 Jahren "Momo" von Michael Ende (SZ).
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Film

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"Die BKM-Jury soll sich gefälligst in Grund und Boden schämen", ruft Dunja Bialas auf Artechock im Zorn darüber, dass das von Idealisten betriebene, aufgrund seines einzigartigen Programms im ganzen Land geschätzte Münchner Werkstattkino zum zweiten Mal in Folge vom BKM bei der Vergabe der Kinoprogrammpreise übergangen wurde. Finanziell steht es damit nun ziemlich angeschlagen da. Die Krise engagierter Münchner Kinos weitet sich aus: "Die Stadt muss sich dieses Jahr drei alarmierenden Entwicklungen stellen. Da sind: 1. Der Rückzug von Kinobetreiberin Anne Harder aus dem Maxim-Kino, die angesichts des auf sie zukommenden Wirtschaftsdrucks die Reißleine gezogen hat. ... 2. Die stattgegebene Räumungsklage für das Filmtheater Sendlinger Tor, weshalb die Betreiberfamilie Preßmar wohl aufgeben muss... 3. Das wiederholte Übergehen des Werkstattkinos".

Wer verführt hier eigentlich wen? "Jeanne du Barry" von Maïwenn

Im Welt-Gespräch mit Ute Cohen erklärt die französische Regisseurin Maïwenn, warum sie mit "Jeanne du Barry" eine Neuverfilmung der Geschichte der Mätresse Madame Dubarry gedreht hat. Sie selbst spielt die Titelrolle, Johnny Depp in einer Nebenrolle Ludwig XIV. "Jeannes Lebensgeschichte ist für mich universell. Auch heute noch schaut man Paare mit einem großen Altersunterschied schief an. Macht aber hat etwas sehr Verführerisches. Sie beruhigt auch. Man sagt immer, mächtige Männer hätten eine Macht über Frauen, aber auch Jeanne hat Macht über den König. Die Macht der Verführung ist nicht geringer als die Macht des Geldes. Es ist ein Duell zwischen Geld und Verführung. Es gibt genug Männer, die ihre Karriere ruiniert haben für eine Frau." Und auch "Viktimisierung bedeutet heutzutage auch Macht. Wenn man behauptet, Opfer zu sein, öffnen sich die Türen." Bei Artechock gibt es eine Doppelbesprechung des Films.

Besprochen werden Dominik Grafs Essayfilm "Jeder schreibt für sich allein" (Artechock, Welt, Tsp, mehr dazu bereits hier und dort), Elegance Brattons "The Inspection" (ZeitOnline, unsere Kritk), Adele Lims "Joy Ride" (Artechock), Jenna Hasses "L'Amour du Monde" (Artechock) und die Paramount-Serie "Waco" (taz).
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Kunst

André Brouillet, Une leçon clinique à la Salpêtrière, 1887. Foto aus einem Flur der Universität Paris V, Domaine public


Seltsame Idee. Das Museum der Moderne in Salzburg widmet der Rückenbeuge eine Ausstellung: Als Kunstmotiv stand die Rückenbeuge ursprünglich für die "hysterisch verkrampften Frau", wie laut FAZ-Kritiker Hannes Hintermeier das Gemälde "Une leçon clinique à la Salpêtrière" (1887) von André Brouillet deutlich macht, "das bei Freud als Lithographie im Arbeitszimmer hing. Es ist in Salzburg in stattlicher Originalgröße als Kopie zu sehen. In seiner Mitte der Nervenarzt Jean-Martin Charcot, der den 'Arc de cercle' wissenschaftlich untersuchte. In einem Hörsaal lauschen gut zwei Dutzend schwarz gekleidete Männer und zwei Krankenschwestern dem Professor, ihre Blicke richten sich auf eine hypnotisierte, nach hinten gebogene Patientin mit weißem Dekolleté, die Charcots Kollege Joseph Babinski stützt." Doch es geht nicht nur um Klinisches: Laut Kuratorin Kerstin Stremmel soll die Ausstellung vielmehr eine "Wundertüte mit heiteren Momenten" bieten: "Alexandra Bircken hat sich einer Männerdomäne angenommen und ein schweres Motorrad in eine tänzerische Pose gezwungen, das Vorderrad himmelwärts gereckt."

In der FAZ ist Andreas Kilb froh, dass wenigstens der Bundespräsident sich mit einer Veranstaltung zum geplanten, aber bei der Realisierung stockenden Exilmuseum in Berlin bekannt hat: "Ob Claudia Roth die Botschaft verstanden hat? Oder grübelt sie immer noch darüber nach, wie sie die Schlosskuppel auf dem Humboldt-Forum dekolonialisiert?"

Weiteres: Die Berliner konnten sich mit einer Lesung im Pergamonmuseum vom Ischtar-Tor verabschieden, dass wegen Renovierung des Museums bis 2037 nicht mehr zu sehen sein wird, meldet der Tagesspiegel. Imke Staats stellt in der taz das Künstlerhaus Sootbörn in Hamburg vor. Besprochen werden die Ausstellungen "Ocular Witness: Schweinebewusstsein" im Sprengel Museum Hannover (taz) und "Shift. KI und eine zukünftige Gesellschaft" im Marta Herford (FAZ).
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Architektur

Andres Herzog sah für die NZZ einen Dokumentarfilm über Le Corbusiers gescheitertes Stadtexperiment im indischen Chandigarh. Die Filmemacher Karin Bucher und Thomas Karrer "spüren seiner Vision ... nach und fördern überraschende Erkenntnisse zutage", so Herzog. "Die Realität kann die 'Kraft der Utopie', so der Titel des Films, nicht schmälern. Chandigarh wirkt als Wahrzeichen eines aufstrebenden Indiens und hält wichtige Lehren bereit, die heute oft infrage gestellt werden."
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Stichwörter: Le Corbusier, Chandigarh

Musik

Morgen beginnt das Musikfest Berlin, der Schwerpunkt liegt auf Rachmaninow. Bemerkenswert, findet Tagesspiegel-Kritiker Frederik Hanssen, denn Festivalleiter Winrich Hopp ist eher bekannt dafür, die nach vorne strebenden Komponisten des 20. Jahrhunderts zu vermitteln - und weniger Traditionalisten wie Rachmaninow. "In den Künstlerkreisen, in denen sich Winrich Hopp bewegt, galt er darum lange als Kitsch-Komponist. Inzwischen aber bewunderten selbst Komponisten wie Wolfgang Rihm dessen Fähigkeit, mit langem Atem große Formen zu gestalten, erzählt der Musikfest-Leiter im Gespräch." Auch der Pianist Alexander Melnikov, der beim Musikfest Berlin zwei Recitals gestaltet, verteidigt Rachmaninow in der FAZ gegen seine Kritiker. Ist er bloß ein Rückwärtsgewandter? "Die Entscheidung des Komponisten, seinem musikalischen Selbst treu zu bleiben und niemals irgendwelchen Trends oder Moden zu folgen, ist eher ein Zeichen von Nonkonformismus. ... Rachmaninows Musik mag zurückschauen, doch nicht im Sinn kompositorischer Technik. Sie trauert ständig um Dinge, die vergangen sind: die Liebe, die wir verloren haben, das Glück, das wir nie wieder erfahren werden. Glück existiert seiner Natur nach im Fluss der Zeit, es dauert nie."

Gloria Reményi taucht für die taz tief ein in die Berliner Italo-Disco-Szene, die das Erbe dieses musikalischen Zusammenhangs der frühen Achtziger anders als das Ursprungsland hochhält und weiterentwickelt. Die italienische Musikerin DJ Andrea Noce etwa hat Italo Disco erst hier wirklich kennengelernt: "'Ich bekam das Gefühl, dass man sich vom harten Technodiktat der Stadt abgrenzt. Als Zeichen, dass es mehr gibt als nur das Berghain. Diese Musik ist fluider.' Noce kommt mit einer Spielart von Italo Disco in Kontakt, in der statt Strandurlaub und 'la dolce vita'-Klischees Weltraum-Motive überwiegen: psychedelisch und halluzinatorisch anmutende Klänge, per Vocoder verfremdete Stimmen und Songtexte, die von Robotern und Aliens handeln. 'Diese Space-Ecke bricht meist mit dem Machismo, der in Italo Disco sonst zur Schau gestellt wird', merkt Noce an. Die Klangwelt inspiriert die Künstlerin dazu, ihr Alias Eva Geist zu kreieren. ... Inzwischen hat sich daraus ein Projekt entwickelt, das experimentelle Elektronik, obskure Italo Disco- und Krautrock-Einflüsse vermischt."

Weitere Artikel: Manuel Brug staunt in der Welt über die kommende Saison der Berliner Philharmoniker: Wenig von den "vier großen Bs", dafür aber "Reger und Szymanowski, Hartman, Xenakis, Kurtág, Mussorsky, den Composer in Residence Jörg Widmann". Gerald Felber berichtet online nachgereicht in der FAZ von seinen Fundstücken und Entdeckungen bei den Raritäten der Klaviermusik in Husum. Im Standard spricht Amira Ben Saoud mit dem Filmemacher Philipp Jedicke, der in seiner Dokumentataion "Vienna Calling" die Wiener Musikszene porträtiert. Jakob Biazza lässt sich im SZ-Gespräch mit Alice Cooper vom Schock-Rocker unter anderem Beziehungstipps geben. In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner dem Schlagzeuger Günter "Baby" Sommer zum 80. Geburtstag

Besprochen werden Jaimie Branchs postumes Album "Fly or Die Fly or Die Fly or Die ((world war))" (SZ, mehr dazu bereits hier), das von Jakob Hrůša dirigierte Konzert des Gustav Mahler Jugendorchesters beim Berliner Festival Young Euro Classic (Tsp) und der Berliner Auftritt von Peter Fox (ZeitOnline).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Stefan Trinks' über "I Inside the Old Year Dying" von PJ Harvey:

Archiv: Musik