Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Hund kann eben nicht lügen

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28.08.2023. Im Tagesspiegel erzählt der Filmmanager Gaga Chkheidze, wie die georgische Regierung die Filmszene des Landes drangsaliert. Umberto Eco hätte das Rätselraten um eine Novelle, die ihm zugeschrieben wird, aber kaum von ihm stammen dürfte, ziemlich gut gefallen, glaubt die FAZ. Außerdem genießt sie beim Saisonauftakt der Berliner Philharmoniker den Wechsel vom Sahnigen zum Metallischen. Die Nachtkritik kniet vor Katharine Mehrlings phänomenaler Brecht-Performance am Berliner Ensemble. Die Feuilletons trauern um den Underground-Dichter Bert Papenfuß.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.08.2023 finden Sie hier

Film

Szene aus Salomé Jashis Film "Taming the Garden"


Christiane Peitz spricht für den Tagesspiegel (leider verpaywallt) mit dem georgischen Filmmanager Gaga Chkheidze, der mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet wird. In seiner Heimat wurde er eben von seinem Posten als Leiter des Nationalen Filmzentrums vertrieben, wie die Kulturministerin Tea Tsulukiani die georgische Filmszene derzeit generell auf Regierungslinie zu drängen versucht. Ihm werde zur Last gelegt, Gelder veruntreut zu haben, erzählt Chkheidze: "Produzenten hätten mit Fördermitteln Festplatten gekauft", doch "eine Festplatte ist ein normales Speichermedium für Filme, man kann eine digitale Datei ja nicht in einer Schublade ablegen." Auch Salomé Jashis Film "Taming the Garden", der zeigt, wie der Oligarch Bidzina Iwanishwili alte Riesenbäume für seinen Privatpark aus dem ganzen Land einkassiert, habe Tsulukiani auf dem Kieker: "Ohne den Film zu kennen, bezichtigte sie ihn der Lüge. Ich versuchte ihr zu erklären, dass es schnell nach Zensur aussieht, wenn eine Politikerin einen mit offizieller Erlaubnis gedrehten Film derart kritisiert - zumal Iwanishwili im Film gar nicht verunglimpft wird. ... Genauso ignorant hat sich die Ministerin gegenüber anderen, ihr unliebsamen Kulturinstitutionen verhalten. Erst vor wenigen Wochen musste Natasha Lomouri gehen, die Gründerin und Leiterin des Schriftstellerhauses, des bedeutendsten Literaturzentrums im Land."

Tilda Swinton in "The Eternal Daughter"


Für den Filmdienst spricht Kira Taszman mit der Regisseurin Joanna Hogg, deren neuer Film "The Eternal Daughter" jetzt auf Paramount+ zu sehen ist. Tilda Swinton spielt in dem autobiografisch grundierten Drama gleichzeitig eine Mutter und deren Tochter. "Das war Tildas Idee. ... Als sie mir vorschlug, beide Rollen zu spielen, ergab das Sinn. Mein erster Gedanke war: Das ist perfekt. Mein zweiter Gedanke aber war: Wie werde ich es hinbekommen, mit meiner gewohnten Arbeitsweise vorzugehen - also mit viel Improvisation und ohne Tricks? Das war die Herausforderung: Es so zu gestalten, dass Tilda Swinton ein Gespräch mit sich selbst führen konnte."

Außerdem: Susanne Gottlieb wirft für den Standard einen Blick auf die Krise des althergebrachten Blockbusters, dessen etablierte Franchises derzeit der Reihe nach floppen. Marc Hairapetian spricht für die FR mit dem Filmemacher Rainer Erler, der am Samstag 90 Jahre alt wurde und vor allem in den Siebzigern für seine fürs deutsche Fernsehen umgesetzten Science-Fiction-Arbeiten bekannt wurde. Für die SZ bespricht Sofia Glasl Elegance Brattons "The Inspection" über seine Zeit als schwarzer, schwuler Marine. Dlf Kultur hat mit dem Regisseur gesprochen. Und wer immer schon mal hören wollte, wie Werner Herzog unflätigste Begriffe in den Mund nimmt, ist mit diesem vom Dlf Kultur wieder zugänglich gemachten Hörstück "The Peyote Dance" nach Antonin Artaud bestens versorgt - und Patti Smith ist auch dabei.
Archiv: Film

Musik

Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker haben ihre Saison 23/24 eröffnet. Den Auftakt gaben Max Regers Mozart-Variationen, die das Orchester erstmals seit 28 Jahren wieder spielte, informiert ein rundum begeisterter Gerald Felber in der FAZ. Zu erleben war, "wie hier ein Orchesterchef und sein Ensemble nicht nur üppigste Wohlfühl-Klangpracht entfalten, sondern sich auch akribisch in Eigen- und Einzelheiten vertiefen. Sei es die genussvoll ausgekostete, geradezu als goldleuchtende Aura im Raum stehende Abschlussfermate der ersten Variation, sei es - von Details zur Gesamtdisposition gehend - das Fortschreiten von einem anfangs fast sahnigen Klang zur metallischen Härtung der jagdlichen Vivace-Variation und dann wieder retour bis zur schwelgerischen 'Tristan'-Süße vor Einsetzen der Fuge: Immer neu bestätigte sich, wie durch akribisch genaue rationale Grundierung ein nicht nur intellektueller, sondern auch genussästhetischer Mehrwert generiert werden kann." Frederik Hanssen rezensiert im Tagesspiegel vor allem Petrenkos Verbeugung vor dem Publikum.

Außerdem: Juliane Reil sprach im Dlf Kultur mit Simon Reynolds über dessen neues Buch "Futuromania", das von der einstigen Zukunftseuphorie des Pop handelt. Die Kompaktkassette wird 60 Jahre alt, meldet Thomas Wochnik im Tagesspiegel. Juliane Leibert sprach für die SZ mit der Post-Punk-Synthpop-Band Cumgirl8: Zu erleben gibt es mit diesen "vier Reiterinnen der Apokalypse" mitunter "Lebenslust im Angesicht des Weltuntergangs".



Besprochen werden die Compilation "Klar!80" mit Düsseldorfer Undergroundmusik aus den frühen Achtzigern (taz) und Bebel Gilbertos neues Album, auf dem sie Bossanova-Stücke ihres legendären Vaters João Gilberto singt (Welt).

Archiv: Musik

Kunst

Durch ein Wechselbad der Gefühle geht FAZ-Kritiker Cornelius Pollmer in der Ausstellung "Kapital/Famed" im Museum Gunzenhauser in Chemnitz. "Kapitalismuskritik in snackbaren Häppchen", wie sie die Kuratoren Sebastian M. Kretzschmar und Jan Thomaneck hier auftischen, findet er ja schon etwas befremdlich. Bevor er aber zu schlechte Laune bekommt, "weil die global allgemeine Geldschneiderei auch nach Beendigung dieser Schau weitergehen wird", tobt er sich lieber in dem, für ihn unbestrittenen, Highlight der Ausstellung, aus: "Die Hüpfburg im großen Oberlichtsaal des Museums, tituliert mit der schönen Wendung 'Seele und Dekor', ist das unbestritten zentrale Objekt von 'Kapital', und als Idee ein Ereignis für sich. Denn PVC und Polyester wachsen hier getrieben von einem ohne Unterlass ballernden Gebläse zu einer hybriden Edition von Marx' 'Das Kapital' empor, aufgeklappt und umgedreht steht es da wie ein vielleicht sogar schützendes Dach und lädt jedenfalls offensiv ein, darin zu springen oder sich mit ein paar vergeblichen Fausthieben kurz emotional zu erleichtern."

Besprochen werden die Jubiläumsausstellung der Salzburger Residenzgalerie "Von 0 auf 100. 100 Jahre Residenzgalerie, 100 Gründe zum Feiern"(FAZ) und Lucy Beechs Ausstellung "Working with no waste" im Edith Russ Haus in Oldenburg (taz)
Archiv: Kunst

Bühne

Katharine Mehrling und Paul Herwig in "Fremder als der Mond". Foto: Berliner Ensemble.


"Zum Niederknien gut" findet Nachtkritiker Georg Kasch an Oliver Reeses Brecht-Abend am Berliner Ensemble vor allem die Hauptdarstellerin Katharine Mehrling: "Sie hat die Härte von Helene Weigel und Gisela May, kann aber auch jederzeit in Jazz-Taumel oder Musical-Jubel umschalten. Toll, wie sie 'Das Lied vom Weib des Nazisoldaten' gestaltet, als wilde Cabaret-Nummer im Hochzeitskleid - und dann die letzte Strophe a cappella erklingt...Oder wie sie in 'Mutter Beimlein' als unheimlicher Harlekin die Treppe heruntersteigt und dabei wie ein Maschinchen singt, völlig unsentimental." FAZ-Kritiker Simon Strauß verlässt pfeifend den Theatersaal. Zu Beginn hat er zwar mit seinen Antipathien gegenüber dem "Augsburger Bürgersohn" zu kämpfen, das Spiel von Mehrling und Paul Herwig, aber vor allem die Musik, lassen ihn diese aber rasch vergessen: "Unter der umsichtigen Regie von Oliver Reese spielt und singt sich das Duo schnell in die Herzen des Berliner Premierenpublikums." Für Christine Wahl fehlt es dem Abend hingegen ein wenig an Schwung, wie sie im Tagesspiegel schreibt. Die Idee, die Darsteller "eins zu eins" nachspielen zu lassen, was sie gerade singen, findet sie ein bisschen einfallslos. Irene Bazinger bespricht das Stück in der Berliner Zeitung.

Weitere Artikel: In der NZZ stellt Marianne Zelger-Vogt den italienischen Opernsänger Andrè Schuen vor. Taz-Kritikerin Sabine Seifert hat die Proben für Brechts Stück "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" verfolgt, die das Gefängnistheater aufBruch mit Insassen der JVA Tegel erarbeitete. In der SZ resümiert Dorion Weickmann das Festival "Tanz im August", das ihn bis auf wenige Ausnahmen überzeugt hat. In der taz berichtet Dorothea Markus vom Start des Weimarer Kunstfests.

Besprochen werden Michael Webers Inszenierung von "Prinz Friedrich von Homburg" im Theater Willy Praml in Frankfurt am Main (FR), Stefan Puchers Inszenierung von Shakespears "Der Kaufmann von Venedig" beim Lausitz-Festival (nachtkritik) und Katja Langebachs Inszenierung von Raoul Schrotts Euripides-Version "Orestie" am Theater Luzern (nachtkritik).

Archiv: Bühne

Literatur

Der Berliner Dichter Bert Papenfuß ist tot. Er gehörte zur DDR-Renitenz, zum Underground von Prenzlauer Berg und blieb auch nach der Wende ein anarchischer Nonkonformist. "Es ist der Abschied von einer Ära", stellt Cornelia Geißler in der Berliner Zeitung erschüttert fest. "Zu sagen, Bert Papenfuß benutzte die Sprache, verkennt die Hingabe, mit der dieser Dichter sich Buchstaben und Zeilen, Sätzen und Absätzen näherte", schreibt Robert Mießner in der taz. "Was er nicht ausstehen konnte, war Sprache im Dienst politischer Kosmetik und Korrektheit, diensthabende und dienstbeflissene Sprache generell." Papenfuß war "ein Vorsänger für eine Gemeinde urbaner Spezialisten, die sich in untergründigen und widerständigen Aktionen vereinten", sowie "Punkdichter und Seeräuber im Geiste von Klaus Störtebeker", schreibt der Schriftsteller Tom Schulz in der FAZ, Wer in den Siebzigern "seine Gedichte in einem der Jugendclubs hörte, wusste sofort, dass hier ein Großer, früh Genialischer seine Kreise zog." Sie "waren düster, politisch, kühl und sprachspielerisch; sie erschienen vor allem im Samisdat, in Zeitschriften, die Namen wie "Schaden" oder "Ariadnefabrik" trugen und in oppositionellen Kreisen zirkulierten." In diesem Videoporträt spricht er über die "Prenzlauer Berg Connection":



"Umberto Eco hätte sicherlich große Freude an dieser Geschichte gehabt", schreibt Karen Krüger in der FAZ mit Blick auf das seit Wochen anhaltende Rätselraten darum, was es wohl mit der Novelle "Carmen Nova" auf sich hat, die vor kurzem antiquarisch in Form einer angeblichen deutschen Übersetzung aufgetaucht ist. Ausweislich des Buchdeckels wird diese dem italienischen Semiologen und Schriftsteller zwar zugeschrieben, doch tatsächlich von ihm stammen dürfte sie wohl kaum (mehr dazu bereits hier). In Ecos engstem Umfeld hat niemand von dem Buch gehört, es "findet sich auch nicht im Katalog von Ecos 30.000 Bände umfassender moderner Bibliothek. Wahrscheinlich hatte der Universalgelehrte keine Kenntnis davon. Andernfalls hätte er sich sicherlich ein Exemplar des Buches besorgt, schließlich war Eco fasziniert von Fälschungen, Phantastereien, menschlichen Irrtümern und Lügen - unverrückbare Wahrheiten langweilten ihn eher. Die Lüge betrachtete er als fundamentalen Aspekt der Kommunikation, als "ein Sprechen über nicht existierende Welten". In einem Interview sagte er einmal: 'Über reale Welten kommunizieren kann auch ein Hund. Aber ein Hund kann eben nicht lügen.'" Die Universität Bremen hat das mutmaßlich von einem Prankster in den frühen Achtzigern in die Welt gesetzte Werk digital zugänglich gemacht.

Weitere Artikel: Jakob Hayner besucht für die Welt den früheren Landsitz von Peter Hacks in Brandenburg: Es "liegt ein Hauch von italienischer Grandezza über dem Hof, die Mauern mit Rosenspalier halten die Außenwelt auf Abstand."  Maxim Biller erzählt in der Zeit von einer Begegnung mit Daniel Kehlmann, von dem er sich nichts sehnlicher wünscht als endlich einen Roman mit jüdischen Figuren: "Die Deutschen würden es hassen." Joachim Sartorius erzählt in der FAZ von seiner Reise nach Sri Lanka mit Nicolas Bouviers "Der Skorpionsfisch" im Gepäck. Gustav Seibt liest für die SZ die mitunter heißblütige Korrespondenz zwischen Goethe und Auguste "Gustchen" Gräfin Stolberg.

Besprochen werden unter anderem Cécile Wajsbrots "Mémorial" (Tsp), eine Neuauflage von Maria Lazars "Viermal ICH" aus den 1920ern (Standard), Toni Morrisons "Rezitativ"  (Standard), Maxim Billers "Mama Odessa" (FR), Tobias Rüthers Biografie über Wolfgang Herrndorf (online nachgereicht von der Zeit), Ulrike Sterblichs "Drifter" (Tsp), Kerstin Ekmans "Wolfslichter" (online nachgereicht von der FAZ), Peter Henischs "Nichts als Himmel" (Standard), Elif Batumans "Entweder/Oder" (FAS), Leonhard Hieronymis "Der gute König" (Standard), Michael Vogts und Olaf Brills Comicausgabe von "Perry Rhodan" (Tsp), Martin Musers Jugendroman "WEIL" (SZ) sowie Anna Desnitskayas und Maria Bakharevas Bilderbuch "Märkte in aller Welt" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Gisela Trahms über Dieter Leisegangs "Vergangenheiten":

"Eben, beim Ausziehen, zufällig aus dem Fenster blickend -
Seh' ich das Treppenhaus gegenüber erleuchtet, einen
jungen Mann ..."
Archiv: Literatur