Efeu - Die Kulturrundschau

Das Gift arbeitet im Verborgenen

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29.08.2023. Die Filmkritiker begeistern sich für Ira Sachs' "Passages", in dem Franz Rogowski einen schwulen Regisseur in Paris spielt. Die NZZ sieht die Ära der Patriarchen am Taktstock zwar noch nicht am Ende, aber die Orchester lassen sich auch nicht mehr alles gefallen. Für den naiven Umgang der Berliner Staatsoper mit Anna Netrebko hagelt es Kritik im Internet. Die FAZ bestaunt extravagante Särge in Ghana.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.08.2023 finden Sie hier

Film

Die Kamera als Mitspielerin einer Dreiecksgeschichte: "Passages" von Ira Sachs

In Ira Sachs' "Passages" spielt Franz Rogowski den schwulen deutschen Filmregisseur Tomas, der in Paris einen Film dreht. Fassbinder-Anleihen sind unübersehbar, schreibt Philipp Stadelmaier in der SZ, auch weil der eigentlich liierte Regisseur schließlich mit seiner Hauptdarstellerin im Bett landet. Die Kamera entpuppt sich im Verlauf dieser Dreiecksgeschichte als "weitere Mitspielerin", so etwa "in den beiden fantastischen Sexszenen des Films. In der ersten schläft Tomas mit Agathe, in der zweiten mit Martin. Bei aller Lebendigkeit, Sinnlichkeit und Natürlichkeit sind die Szenen so gefilmt, dass stets eine Person eine andere verdeckt. .. Inmitten der Intimität scheint sich den Personen etwas Fremdes auf den Rücken zu setzen, ein Blick, eine Chimäre, die sich an ihnen festgesaugt hat und sie verfolgt. Genau in diesen Momenten wird klar, dass 'Passages' mehr ist als eine moralisierende Studie über Machtmissbrauch durch männliche Künstler, die auf der richtigen Seite der Geschichte stehen will. Das Gift arbeitet im Verborgenen. Es versteckt sich in der Intimität, in den Sexszenen, im Vorsingen eines Chansons vor der Geliebten, in der Badewanne."

A star is born, jubelt FAZ-Kritiker Bert Rebhandl und ist sich sicher, dass dieser Film Rogowski endgültig international bekannt machen wird. "Rogowski ist, nicht zuletzt mit seiner markanten Stimme (er lispelt leicht und wird selten laut), ein sanfter Mann. In 'Passages' sieht man ihn nun in einer Rolle, in der er eine große Spannweite vorfindet, was natürlich auch mit der zentralen Idee von Sachs zu tun hat: dass ein schwuler Mann nicht einfach ein heterosexuelles Abenteuer erlebt, sondern dass für einen Moment eine ganz andere Identität im Raum steht. ... Es macht Freude, sich auszumalen, wo ihn seine Karriere noch hinführen könnte - in eine weltbürgerliche Freiheit, die sich nicht um Identitäten kümmern muss, weil er immer schon weiß, dass Festlegung nicht das Metier von Schauspielern ist."
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Architektur

Die philosophische Tradition der "poetisch-architektonischen" Idee verteidigt der Architekt Jörn Köppler in der FAZ. Klimaneutrales Bauen darf nicht nur von technischer Seite aus gedacht werden, sondern muss die Natur miteinbeziehen, fordert er und wünscht sich "eine Architektur, die aus dem Geist eines Gartens gedacht wäre: Als Inswerksetzung der Schönheit des Wirklichen. Häuser zu entwerfen, welche den Zauber schattig-stiller Baumkronen zu rahmen vermögen in Form lichter Wandelgänge; Terrassenanlagen, hängende Gärten, in welchen die Obstspaliere den um die Mittsommernacht aufsteigenden Glühwürmchen eine Bühne geben; Peristyle, über denen der Sternhimmel sichtbar wird, im Dunkel, nachts - das wäre es."
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Musik

"Die Zeiten der Autokraten mit dem Taktstock, der strengen und eitlen 'Maestri', sind vorbei", heißt es zwar überall, doch NZZ-Kritiker Marco Frei ist davon nicht völlig überzeugt: Eher befinden wir uns in einer Übergangsphase, in der verschiedene Weisen der künstlerischen Zusammenarbeit miteinander konkurrieren - und auch früher sei der strenge Patriarch am Pult keineswegs Konsens gewesen, wie Frei unter Verweis auf Abbado darlegt. "Gewandelt haben sich indes die Rahmenbedingungen: Die Orchester sind insgesamt selbstbewusster geworden, lassen sich weniger gefallen. Das gilt inzwischen auch für die großen institutionalisierten Klangkörper." Und "es fällt auf, dass heute manche junge Frauen am Pult strenger wirken als ihre männlichen Kollegen. Dabei spielt teilweise Erwartungsdruck von außen eine Rolle. Sie habe das Gefühl gehabt, als Frau besonders hart und insistierend auftreten zu müssen, räumt Zofia Kiniorska aus Polen ein."

Jacob Queißner besucht für die taz das Kyiv Symphony Orchestra, das in Gera ein Exil gefunden hat. Dass in der AfD-Hochburg seit einiger Zeit rechtsextreme Tölpel in wöchentlichen Demonstrationen im wesentlichen ohne Gegenwind ihre Putin-Begeisterung zur Schau stellen, verstört die Musiker: "'Ich war irritiert, als ich es zum ersten Mal sah', erzählt die Cellistin Daria Dziadevych, die die Russlandbegeisterung im Ort wie andere Orchestermitglieder nicht nachvollziehen kann. Generell spüre sie in Gera einige 'Post-Sowjetunion-Vibes'. 'Es schmerzt einfach so sehr', offenbart die Violinistin Tetiana Bahrii. 'Eine Demokratie sollte meiner Meinung nach nicht die Unterstützung von Morden, der Zerstörung von Städten, von Vergewaltigungen und Folter und all den schrecklichen Dingen, die die Russen tun, dulden. Im Kontext des Kriegs gegen die Ukraine wird das zur Propaganda für die Unterstützung ihrer Verbrechen.'"

Weitere Artikel: Christiane Peitz resümiert im Tagesspiegel das Berliner Festival Young Euro Classic, bei dem Oksana Lyniv und das Youth Symphony Orchestra of the Ukraine gewonnen haben. Beim Festival Laus Polyphoniae in Antwerpen sieht FAZ-Kritiker Wolfgang Fuhrmann die "Blütezeit der Renaissancemusik ... Jahr für Jahr mit fantasievollen Themensetzungen und in exquisiten Darbietungen neu zum Leben erweckt". Lars Fleischmann berichtet in der taz vom Elektro-Festival Meakusma in Belgien. In der NZZ gibt Christian Wildhagen Wasserstandsmeldungen vom Lucerne Festival.

Besprochen werden der Auftakt des Lausitz-Festivals (Freitag, SZ), das Disco-Album "Prestige" von Girl Ray (FR), Jörg Steinmetz' Fotoband über die 22er-Tour der Ärzte (FAZ) und David Helbocks Jazzrock-Weltmusik-Album "Austrian Syndicate" (Standard).

Archiv: Musik

Literatur

Florian Balke berichtet auf FAZ.net von Barbara Honigmanns Auszeichnung mit dem Goethepreis, bei der Wolf Biermann die Laudatio hielt. Ronald Pohl erinnert im Standard an Peter Hacks, der vor 20 Jahren gestorben ist. Zum Schuljahresbeginn holt Welt-Kritiker Matthias Heine Hermann Hesses "Unterm Rad" aus dem Bücherschrank hervor.

Besprochen werden unter anderem Eva Reisingers Debütroman "Männer töten" (taz), der Band "Der Bauch des Wals" mit zwei Essay von George Orwell und Ian McEwan (FR), Amir Gudarzis Romandebüt "Das Ende ist nah" (SZ), Tobias Rüthers Biografie über Wolfgang Herrndorf (NZZ), Helgard Haugs "All right. Good night" (SZ) und Charlotte Gneuß' Debütroman "Gittersee" (FAZ). Mehr in unserer aktuellen Bücherschau um 14 Uhr.
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Bühne

Die Berliner Staatsoper annonciert für September einige Auftritte Anna Netrebkos als Lady Macbeth. Das Künstlerporträt auf der Seite der Oper kling bemerkenswert naiv: "2014 sang sie bei der Eröffnung der Olympischen Winterspiele und ist als Botschafterin ihrer Kunst bekannt... Sie erhielt den Titel 'Volkskünstlerin Russlands'... Sozial engagiert, unterstützt sie unter anderem die 'SOS-Kinderdörfer' und die 'Russian Children's Welfare Society'."

Die Autorin und Ukraine-Spezialistin Franziska Davies hat auf Twitter einen Screenshot mit ein paar Ergänzungen publiziert, hier der Screenshot.

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Zu Netrebkos Engagement für die SOS Kinderdörfer merkt Davies an: "Tatsächlich ist Netrebko seit 2007 Patin des Dorfs Tomilino bei Moskau. Hierhin wurden ukrainische Kinder verschleppt" und verlinkt auf einen Artikel der Salzburger Nachrichten. Gegen Netrebkos Berliner Auftritt wird es wohl Proteste geben. Auf "change.org" veröffentlichte Carsten Grötzinger eine Petition. "Kein Auftritt von Anna Netrebko an der Berliner Staatsoper! (...) Frau Netrebko hat nur sehr indifferent erklärt, sie sei gegen den aktuellen Krieg und sie hoffe, er möge enden. Sie hat jedoch mit keinem Wort die Verantwortung Russlands und Wladimir Putins für den Angriffskrieg anerkannt und dessen Handeln verurteilt."

Weitere Artikel: NZZ-Kritiker Christian Wildhagen teilt Eindrücke vom Luzern-Festival und freut sich über eine "Rheingold"-Aufführung des Dresdner Festspielorchesters auf historischen Instrumenten.

Besprochen werden Stefan Puchers Inszenierung von Shakespears "Der Kaufmann von Venedig" beim Lausitz-Festival (SZ, tsp, Welt), Mariella Sterras Inszenierung von Alban Bergs "Wozzek" beim Glanz und Krawall-Festival Berlin (taz), Oliver Reeses Brecht-Liederabend "Fremder als der Mond" am Berliner Ensemble (SZ) und Tom Rysers Inszenierung von Leonard Bernsteins Musiktheater "Mass" am Theater Münster (nmz).
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Kunst

Der Sargkünstler Paa Joe mit Sandalettensarg. Foto: Regula Tschumi.

Extravagante Särge bestaunt FAZ-Kritiker Florian Siebeck in der ghanaischen Haupstadt Accra. Die Angehörigen der Volksgruppe Gha, die im Süden Ghanas, in Togo und Benin lebt, hält nichts davon, ihre Toten in einfachen Holzkisten unter die Erde zu bringen. Stattdessen geben die Angehörigen bei Spezialisten Särge in Auftrag, die das Familienemblem oder den sozialen Stand des Verstorbenen verkörpern, zum Beispiel in Form einer Kobra oder eines Löwen, erfährt der Kritiker. Oft sollen die Motive aber auch einen Bezug zum Leben oder zu bestimmten Vorlieben haben: "Bis zu einem Monat dauert die Arbeit an so einer kunstvollen Hülle. Die Sargkünstler lassen sich einiges einfallen, damit die Verstorbenen ihren Weg so fortsetzen können, wie sie gelebt haben oder gern gelebt hätten. Ein Viehhändler kann in einem Rind bestattet werden, eine kinderreiche Frau in einer Henne, ein Fischer in einer Languste. Aber auch Linienbusse, Ölfässer, Bulldozer, Tomaten, Zahnpastatuben und Schnapsflaschen wurden schon gefertigt." Die ghanaische Sargkunst hat schon länger die Aufmerksamkeit der internationalen Kunstwelt erregt, so der Kritiker, Künstler wie Daniel Mensah oder Joseph Ashong alias Paa Joe zeigen ihre Särge in Museen und Ausstellung weltweit. Weitere ungewöhnliche Sargmodelle kann man hier bewundern.

Besprochen werden die Ausstellung "Caspar David Friedrich und die Vorboten der Romantik" im Kunstmuseum Winterthur (SZ) und die Ausstellung "Der große Schwof. Feste feiern im Osten" der Kunstsammlungen Städtische Museen in Jena (taz).
Archiv: Kunst