Efeu - Die Kulturrundschau

Explosionen hinter Quallen

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31.08.2023. Die Filmkritiker schauen in Venedig entgeistert auf Edoardo De Angelis' italienisches Weltkriegsdrama "Comandante": "Einen solchen Film kann man sich nur aus einem Land vorstellen, in dem Faschismus für die Menschen, die es regieren, kein Schimpfwort mehr ist", meint die FR. Die NZZ bewundert in Lausanne die japanische Kunst von Edouard Vuillard. "Gesellschaftliche Veränderungen können schmerzhaft sein", geben die geschassten Theatermacher Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann dem Schauspielhaus Zürich in der Zeit mit auf den Weg. Und die FAZ rät Joe Chialo, Grundstück und Gebäude der Galeries Lafayette jetzt auch möglichst schnell zu kaufen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.08.2023 finden Sie hier

Film

Weit entfernt von Pazifismus: "Comandante" von Edoardo De Angeli

Die Filmfestspiele Venedig haben mit Edoardo De Angelis' italienischem Weltkriegsdrama "Comandante" begonnen. Im Mittelpunkt der auf einer wahren Begebenheit basierenden Netflix-Produktion steht ein italienischer U-Boot-Kapitän, der ein belgisches U-Boot erst abschießen und dann dessen Mannschaft retten lässt - wofür er zuhause angefeindet wurde. FAZ-Kritiker Dietmar Dath stöhnt im Kinosaal zuweilen heftig auf: "Der Film ist handwerklich hübsch (Explosionen hinter Quallen! Zeug, das vielsagend verschwimmt! Punktgenau zusammengeschweißte Dramaturgie, kein Teil ist unnütz, keine Szene vertan!) und politisch unter aller Kanone (die beiden einzigen Gestalten, die der Erzählgang explizit ethisch verurteilt, sind zwei antifaschistische Saboteure). Das Resultat wirkt auf verwaschene Weise zeitgemäß (De Angelis stellt seinem Drama ein Motto voran, das daran erinnert, dass sowohl Ukrainer wie Russen letztlich Menschen sind, wer hätte das gedacht?)." Gennaro Sangiuliano, dem Kulturminister der "postfaschistischen" Meloni-Regierung, dürfte dieser Film wohl gut gefallen, schreibt Daniel Kothenschulte in der FR. Jedenfalls ist der Film "weit entfernt von pazifistischen Inhalten", sondern entspricht jener "Sorte Film, bei der ein dem Tod geweihter Taucher gerade noch das U-Boot rettet, bevor er sterbend einen inneren Monolog über Meerjungfrauen hält. ... Einen solchen Film kann man sich nur aus einem Land vorstellen, in dem Faschismus für die Menschen, die es regieren, kein Schimpfwort mehr ist." Auch tazler Tim Caspar Boehme findet "das mantraartige Beschwören der italienischen Identität und das Kleinreden des Faschismus zugunsten der Seemannskultur" vor dem Hintergrund der aktuellen italienischen Politik "höchst zweifelhaft."

Die Welt-Kritiker Jan Küveler und Hanns-Georg Rodek führen eine Diskussion über "Comandante": Küveler sieht zwar auch "eine Neigung zur Geschichtsklitterung, aber nur in Spurenelementen". Ist das also ein "Faschisten-Rehabilitations-Movie", fragt sich Susan Vahabzadeh in der SZ. Und schreibt weiter: "Etwas komplexer ist die Sache dann aber doch", denn "eigentlich geht es natürlich um Flüchtlingsboote. Und es fällt auch irgendwann der Satz, dass man, wo man politisch auch steht, als Italiener seine Mitmenschen grundsätzlich nicht ertrinken lässt."

Zeit-Kritikerin Katja Nicodemus empfiehlt in ihrem Vorabartikel zum Festival den preisgekrönten Darsteller am Ende des Festivals, sich zu weigern, "den Preis für die beste männliche und weibliche Hauptrolle entgegenzunehmen: die Coppa Volpi, benannt nach dem faschistischen Politiker, Mussolini-Vertrauten und Unternehmer Giuseppe Volpi, der 1932 die Biennale mitbegründete".

Übermächtige Gewalt: "Motherland"

Zurück zum aktuellen Kinogeschehen in Deutschland: Tief beeindruckt bespricht FAZ-Kritiker Bert Rebhandl (online nachgereicht) Alexander Mihalkovichs und Hanna Badziakas Dokumentarfilm "Motherland", der auf so behutsame wie eindrückliche Weise die Hölle der Gewalt beobachtet, durch die das belarussische Militär seine junge Rekruten schickt. Rebhandl beobachtet Szenen, "die beinahe deckungsgleich sind mit 'Courage' von Aliaksei Paluyan, dem großen Dokumentarfilm über die Demokratiebewegung in Belarus. ... Von der Ukraine aus, wo 'Motherland' entscheidende Phasen seiner Fertigstellung durchlief, kann man nur sagen: Dies ist das System, aus dem sich das Land befreien wollte, in das der Krieg der Russischen Föderation es zwingen will. In einer Situation wie der gegenwärtigen, in der unentwegt über Marschflugkörper, Kampfflugzeuge, Artillerieproduktion zu reden ist, braucht es auch immer wieder Orientierungsmarken, die deutlich machen, worum es eigentlich geht. Belarus hatte seit jeher ein wichtige Rolle in diesem Krieg. 'Motherland' macht nun einerseits deutlich, wie übermächtig die Gewalt ist, gegen die es nach Strategien zu suchen gilt."

Weitere Artikel: Patrick Heidmann spricht für die taz mit Ira Sachs über dessen neuen (im Perlentaucher und in der FR besprochenen) Film "Passages" (mehr dazu bereits hier). Mit dem Hauptdarsteller Franz Rogowski , der sich auch eine Karriere als Zahnarzt vorstellen kann, wenn nur genügend Leute ihm dazu raten, hat Juliane Liebert für die SZ gesprochen. Jörg Taszman schreibt im Filmdienst einen Nachruf auf den Filmproduzenten Claus Boje.

Besprochen werden Barbet Schroeders derzeit nur auf Festival gezeigter "Ricardo et la Peinture" ("ein kleiner, freundlicher Film", schreibt Patrick Holzapfel im Perlentaucher), Sönje Storms "Die toten Vögel sind oben" (Filmdienst), Charly Hübners "Sophia, der Tod und ich" (Filmdienst), Yuji Nakaes "Das Zen-Tagebuch" (Filmdienst) und Matthias Luthardts "Luise" (taz). Außerdem informiert die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
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Architektur

Das französische Seebad Royan, fast komplett im Stil der 1950er Jahre errichtet, erscheint wie ein "einzigartiges Freilicht-Architekturmuseum", schwärmt Thomas Kirchner in der SZ. Nach vier Jahren Bauzeit wurde nun der von Claude Ferret entworfene und jetzt frisch renovierte Kongresspalast wiedereröffnet: "Ferret konstruierte, was er wollte: einen ausgehöhlten Quader (genauer: ein Parallelepiped mit Seiten, die Parallelogramme sind) mit offener Fassade, einem mächtigen Brisesoleil als Sonnenblende und einer Seitenterrasse, formal erinnernd an Niemeyers New Yorker Pavillon und den Yachtclub, den er in Belo Horizonte gebaut hatte. Vorne ruht Ferrets Gebäude auf Pfosten, die sich im Schatten verlieren, es scheint zu schweben. Der Eindruck der Leichtigkeit wird verstärkt durch die Transparenz. In Ost-West-Richtung ist der Palast durchsichtig - eine 'riesige Loggia', wie Ferret sagte. Elf Metallklammern erst ermöglichen diese Transparenz."

In der FAZ begrüßt auch Nikolaus Bernau Joe Chialos Pläne, die Berliner Zentralbibliothek in die ab 2024 geschlossenen Galeries Lafayette einziehen zu lassen. Aber irgendwann muss auch über die Kosten gesprochen werden: "Es wird in jedem Fall um gewaltige Summen gehen. Wichtig ist, dass Berlin Nägel mit Köpfen macht, also das Grundstück an der Friedrichstraße und die Gebäude darauf kauft und nicht nur in Erbpacht oder in Form eines langfristigen, aber teuren Mietkaufs übernimmt. Die Chancen, ein gutes Angebot zu erhalten, stehen nicht schlecht: Der Eigentümer Tishman Speyer wird sich schwertun, nach der Schließung der Galeries Lafayette im Jahr 2024 eine Nachnutzung zu finden - ein Kaufhaus rentiert sich hier offenkundig nicht mehr, ein Umbau zum Bürohaus ist wegen der Tiefe des Hauses nur schwer möglich, genau so einer zu Wohnungen."
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Bühne

Anfang des Jahres wurde bekannt, dass die Intendanten-Verträge der beiden deutschen Theatermacher Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann am Zürcher Schauspielhaus überraschend nicht verlängert werden. Auch ein offener Brief änderte daran nichts (unsere Resümees). Im Zeit-Gespräch mit Matthias Daum halten sich die beiden mit Kritik an der Entscheidung zurück und verteidigen eher ihre Pläne, die Institution für ein jüngeres, diverseres Publikum zu öffen. Stemann: "Polarisierung und Spaltung zeigen sich ja auch außerhalb unseres Theaters. Gesellschaftliche Veränderungen können schmerzhaft sein. Zudem gibt es immer auch politische Interessen, diese Themen zu eskalieren. Im Kern geht es dabei um eine Gerechtigkeitsdebatte. Unsere Hoffnung mit diesem Projekt war, mit den Mitteln der Kunst eine Debatte zu führen, die weniger verhärtet ist, spielerischer, konstruktiver als in anderen Medien."

Außerdem: Die Frage: "Was ist eine Diva?" sieht Jan Feddersen (taz) beim Flanieren zwischen Roben von Maria Callas über Marlene Dietrich bis Rihanna in der Ausstellung "Diva" im Londoner Victoria & Albert Museum fast hinreichend beantwortet: "Diven sind Künstlerinnen, die in ihrer Zeit und in ihrer Disziplin mehr als andere von sich abforderten und mehr wollten, als man ihnen zugestehen mochte". In der Zeit resümiert Peter Kümmel die Eröffnung des Kunstfestes Weimar.
Archiv: Bühne

Design

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Mit seiner Ausstellung "Critical Consumption" beleuchtet das Wiener Museum für angewandte Kunst die dunklen Seiten der Modebranche. Damit liegt das Haus durchaus im Zeitgeist, schreibt Anne Feldkamp im Standard. Insbesondere "junge Menschen, zerrissen zwischen der Faszination für Luxusmode, Fast Fashion und dem Willen, nachhaltiger zu konsumieren, hinterfragen die Mechanismen der Modeindustrie." Entsprechend rege diese Ausstellungen zum Diskutieren an, "so wie zwei sprechende, prominente Arbeiten aus den Zehnerjahren: Sylvie Fleurys Sammlung an Einkaufstüten von Acne und Wang Bings Dokumentarfilm '15 Hours' - so lange dauert der Arbeitstag der Näher und Näherinnen in der chinesischen Bekleidungsfabrik Huzhou. Wo sieht man sich zwischen Shoppingwahn und Konsumverzicht? Inmitten des Raumes werden hinter Glas historische Querverbindungen zur heutigen Modeproduktion hergestellt. Dort erfährt man beispielsweise, dass angesagte alternative Pflanzenfasern so neu nicht sind. Hingewiesen wird auf Aloe- und Kokosnussfasern aus dem 19. Jahrhundert in der Mak-Sammlung."
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Musik

Karl Fluch (Standard) und Elena Witzeck (FAZ) umkreisen in Kommentaren weiter das seitens der Staatsanwaltschaft Berlin eingestellte Ermittlungsverfahren gegen Till Lindemann (mehr dazu hier). Manuel Brug resümiert für die Welt seine Tage beim Lucerne Festival. Für die taz porträtiert Carolina Schwarz die Berliner Rapperin Wa22ermann , die für "Lokalkolorit mit Berliner Schnauze" steht.

Besprochen werden ein Berliner Mahler-Abend mit Sir Simon Rattle und dem London Symphony Orchestra (taz), ein Auftritt von Feist in Berlin (BLZ), Alexander Melnikovs Konzert beim Musikfest Berlin (Tsp), ein Auftritt der Yeah Yeah Yeahs in Berlin (Tsp) und das neue Album von John Lydons Public Image Ltd, das laut Standard-Kritiker Christian Schachinger "zwischen kabarettistischem Quatsch, Postpunk-, Funk- und Disco-Deutungen pendelt".

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Literatur

Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Alexander Cammen schreibt in der Zeit zum Tod des Lyrikers Bert Papenfuß (weitere Nachrufe bereits hier).

Besprochen werden unter anderem Dana Vowinckels Romandebüt "Gewässer im Ziplock" (Tsp), Michael Kleebergs "Dämmerung" (online nachgereicht von der FAZ), Jenifer Beckers "Zeiten der Langeweile" (FR), Goran Vojnovics "18 Kilometer bis Ljubljana" (FR) und Ilija Trojanows "Tausend und ein Morgen" (FAZ). Außerdem kürt die Welt die besten Sachbücher des Monats - auf Platz 1 Helmut Böttigers "Czernowitz". Die Zeit setzt auf ihrer eigenen Sachbuchbestenliste Susan Neimans "Links ist nicht woke" ganz nach vorne.
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Kunst

Bild: Édouard Vuillard: "Frau im Profil mit grünem Hut", um 1891. Foto: Jean-Marc Anglès / RMN-Grand Palais (Musée d'Orsay)

Die Sujets schienen meist gewöhnlich, formal waren Edouard Vuillards Bilder umso "kühner", erkennt Angelika Affentranger-Kirchrath (NZZ), die in der Ausstellung "Vuillard et l'art du Japon" in der Fondation de l'Hermitage in Lausanne auch erfährt, dass Vuillard seine Inspiration vor allem in der japanischen Kunst fand: "In der Lausanner Schau hängen ausgewählte grafische Blätter japanischer Künstler neben Vuillards Arbeiten. In einigen Fällen kommen sie einander in Ausdruck und Intensität so nahe, dass man sie verwechseln könnte. Ganz absichtslos und selbstverständlich - wie ein Pianist, der ohne Notenblatt spielt - verfügte Vuillard über die Stilmittel der japanischen Kunst. Er fand über das Studium der fernöstlichen Ausdrucksweise zu Lösungen, die es ihm erlaubten, sich von den herkömmlichen europäischen Bildregeln zu lösen. Der rigide konstruierte, illusionistische Perspektivraum verwandelt sich in seinen Werken zum bewegten, mehransichtigen Raum, in dem alle Bildstellen gleich wichtig sind. Fläche und Tiefe oszillieren und gehen ineinander auf."

Bild: Alice Springs, Helmut as a nun, Advertisement for Jean-Louis David, Paris 1970s, © Helmut Newton Foundation

Fast "klassisch", die Zeit überdauernd und in jedem Fall den Fotografien ihres Mannes Helmut ebenbürtig erscheinen Freddy Langer (FAZ) die Aufnahmen von June Newton alias Alice Springs, die derzeit in der Berliner Helmut Newton Stiftung ausgestellt werden. Insbesondere die Porträts beeindrucken Langer: Die Liste der Namen "gleicht einem Who's Who der Kultur im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert. Lauter Stars sind hier versammelt. Aber June Newton alias Alice Springs zeigt sie jenseits von Glamour, eher im Moment der Verletzlichkeit. 'Bloß keine Mätzchen', scheint sie ihnen zugeflüstert zu haben und stellte sie fern jeglicher einstudierter Pose und ohne Requisiten ganz konventionell im Freien vor Mauern, in Häusern vor Wänden weniger hin als ab."

Weitere Artikel: Nachdem sich Horst H. Baumann seit Ende der 1960er Jahre dem Design und der Lichtkunst zuwandte, geriet sein fotografisches Werk zunehmend in Vergessenheit. Zu Unrecht, ruft Damian Zimmermann im Monopol Magazin, nachdem er Baumann im Museum für Angewandte Kunst in Köln als fotografischen Visionär, allerdings ohne eigene Handschrift kennenlernt. Die beiden Vertreterinnen der "Letzten Generation", die versuchten, in der Hamburger Kunsthalle Caspar David Friedrichs "Wanderer über dem Nebelmeer" zu überkleben, sind freigesprochen worden, meldet Friederike Gräff in der taz.
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