Efeu - Die Kulturrundschau

Der nächste Knall kommt bestimmt

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03.11.2023. Die digitalen Plattenteller laufen heiß mit den Beatles: Der mithilfe von KI aufbereitete Song "Now and Then" spaltet die Gemüter und wird von der Welt als "erhabener Abgesang", von der FAZ indes als "Totgeburt" bezeichnet. Vom Zeitgeist überfrachtet fühlt sich die Nachtkritik mit Robert Ickes "Ärztin" am Theater St. Gallen. Die Feuilletons sind sich uneinig, ob der Paradigmenwechsel in der Sammlung Bührle gelungen ist. Ein schmerzliches Zeugnis des Trauerns zeigt sich der FAZ in Ari Folmans Interviewfilm "Bring Them Home". Und die FR irrlichert mit dem philippinischen Punkauteur Kavn und Lilith Stangenberg in aktionistischer Sinnlichkeit durch Manila.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.11.2023 finden Sie hier

Musik



Die Feuilletons kennen heute nur ein großes Thema: Die Beatles haben mit "Now and Then" ein "neues" Stück veröffentlicht. "Es ist ein würdevoller, ein erhabener Abgesang, das letzte Lied der größten Band der Welt und aller Zeiten", schwärmt Michael Pilz in der Welt. Eigentlich handelt es dabei lediglich um ein Demo (von Yoko Ono zur Verfügung gestellt, wie Christian Schachinger im Standard erklärt), das John Lennon kurz vor seinem Tod aufgenommen hat. Bereits in den Neunzigern arbeiteten die verbliebenen Beatles an einer Version des Stücks, dachten sich aber "Let it Be", als sich ein hartnäckiges Brummen auf John Lennons Tonspur nicht rausfiltern ließ. Die Quantensprünge im KI-Bereich haben Paul und Ringo nun die Technologie zur Verfügung gestellt, um John Lennon klar und deutlich von heute und damals singen zu lassen.

"Es wird hier also nichts Neues erschaffen", stellt Jens Balzer auf Zeit Online mit Blick auf die angewendete Technik klar, "sondern vielmehr etwas beseitigt, das beim Blick auf das Alte stört: Die KI arbeitet wie ein Restaurator, der die unteren Schichten eines Gemäldes freilegt oder die verborgenen Botschaften auf einem Palimpsest. ... Hört man die fertige Version, hat man in keinem Moment das Gefühl, dass hier irgendwelches totes Material orchestriert wurde. Dazu ist der Gesang von John Lennon zu schön, zu wehmütig und zu ergreifend - und zu charismatisch in der besonderen Weise, in der er das melancholische Sentiment, mit dem das Lied beginnt, durch Harmonie- und Tempowechsel gleichermaßen aufhebt und verstärkt." Hier ein kleines Making-Of:



Die Instrumente dieser "herbstmelancholischen Ballade" sind zum großen Teil zwar heute aufgenommen, weisen aber "angenehm viel vom Flausch und dem organischen Knarz der früheren Produktionen" auf, freut sich Jakon Biazza in der SZ, das Lied ist "kein Meisterwerk. Aber schon schön." Gregor Dotzauer freut sich im Tagesspiegel über "ein Stück sympathisch altmodischer Popmusik", auch wenn "der Text des eigentlich Sprachbegabtesten aller Beatles von großer Schlichtheit ist". Thomas Kamar findet in der Presse "das Arrangement geschmackvoll, wenn auch nicht wirklich originell".

Christian Schachinger vom Standard winkt entschieden ab: "Die Technik kann die alte Magie nicht ersetzen. Schon gar nicht in einem schwachen, monotonen und über Gebühr produzierten Lied." Eine "Totgeburt" hört ein schwer enttäuschter FAZ-Kritiker Edo Reents: "banaler Text" und "weinerlicher Gesang", lautet sein Fazit. Tazler Daniel Kretschmar sieht gar "eine halbe Zombieapokalypse" in diesem aus Tonspuren verschiedenster Jahrzehnte zusammengesetzten, untoten Song und fürchtet schon nach ABBA-Vorbild eine Zukunft, "in der holografische Beatles-Avatare täglich mehrere Auftritte im nachgebauten Cavern Club in Liverpool absolvieren. ... Wer hätte je gedacht, dass der schlimmste Alptraum der sein würde, in dem John Lennon ewig singt."

Weitere Artikel: "Barenboims Idee von diesem Orchester und seiner Akademie war nie wichtiger als jetzt", schreibt Egbert Tholl in der SZ nach einem Konzert des aus israelischen und palästinensischen Musikern zusammengesetztem West-Eastern Divan Ensemble in Leipzig. Klaus Walter versucht in der FR den sagenhaften Erfolg von Taylor Swift zu ergründen. Für die taz porträtiert Maxi Broecking den polnischen Jazzschlagzeuger Macio Moretti. Für die SZ spricht Helmut Mauró mit Herbert Grönemeyer über dessen Musik für die am Theater Basel gezeigte Komödie "Pferd frisst Hut".

Besprochen werden die Compilation "Gespensterland" mit laut taz-Kritiker Lars Fleischmann "Haunted Postpunk" aus Deutschland. Terri Lyne Carringtons in Mannheim präsentierte Jazz-Orchesterkomposition "Seen/Unseen" (FAZ), Sofia Kourtesis' Album "Madres" (Zeit Online) und der Auftakt des Zürcher Festivals Jazznojazz (NZZ).
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Kunst

Zum Rücktritt des wissenschaftlichen Beirats der Bührle-Sammlung im Kunsthaus Zürich, die aus den Schlagzeilen nicht rauskommt (unsere Resümees hier und hier), und der Neustrukturierung der Sammlung hält Brita Sachs in der FAZ fest: "Immerhin, Bührle wird jetzt weit kritischer beurteilt als zuvor. Wandtexte schildern einzelne Biographien von Sammlern, Opfern des NS-Regimes." Die Forderungen des Beirats sieht sie aber nicht umgesetzt: "Er hatte mehr Raum gewünscht für die Darlegung der engen Verflechtung vom Schicksal der verfolgten, enteigneten, ermordeten Menschen mit ihren Kunstwerken, die noch bedenkenlos gehandelt wurden, als ihre Herkunft längst kein Geheimnis mehr war." Auch die SZ ist mit einer gespannten Isabel Pfaff bei der Neupräsentation der Sammlung zugegen: "Sie eliminiert jegliche Zweifel über die schwere Belastung dieser Sammlung - und erzeugt vielleicht gerade damit den Wunsch nach einem radikaleren Ansatz. Einer Ausstellung etwa, in der es in mehr als nur einem Raum um die jüdischen Vorbesitzerinnen und -besitzer geht." Vorbei ist die Auseinandersetzung sicher nicht: "Der nächste Knall: Er kommt bestimmt."

Um die Kunst selbst geht es dabei höchstens peripher, ärgert sich Thomas Ribi in der NZZ über die Konturlosigkeit des Ganzen: "Die neue Ausstellung nimmt die Kritik auf, die an der alten zu Recht geübt wurde, wirkt dabei allerdings mehr beflissen als souverän. Und ein wenig hilflos. Immer schön kritisch sein und nur ja keine Fehler machen, scheint das oberste Gebot gewesen zu sein. Es wimmelt von Texttafeln und Videos, der Name Bührle wird kein einziges Mal genannt, ohne dass betont wird, was für eine problematische Persönlichkeit er gewesen sei. Wer sich für Kunst interessiert, findet nur ganz vereinzelt Hinweise auf Besonderheiten einzelner Bilder. Dass es bei dem Ganzen auch um Kunst gehen könnte, will man offensichtlich nicht zu stark betonen." Sein Kollege Philipp Meier kann die Kritik des Beirats nicht so recht nachvollziehen: "Die Neupräsentation gibt den jüdischen Vorbesitzern der zahlreichen Werke in der Sammlung Bührle ein Gesicht. Den Gemälden mit den umstrittenen Provenienzen gilt besondere Aufmerksamkeit. Damit ist vieles anders als zuvor. Das Kunsthaus hat einen Paradigmenwechsel vollzogen. Die neue Schau feiert nicht den Sammler, sondern erzählt die zum Teil tragischen Geschichten hinter den Gemälden."

Die taz druckt einen Aufruf der Freien Akademie der Künste Hamburg gegen jeden Antisemitismus, verfasst von Wolfgang Hegewald: "Wer sich, wie wir, nicht vorstellen mag, dass abermals Jüdinnen und Juden aus Sorge um ihr Leben unser Land verlassen, muss dies jetzt laut bekennen, mit allen Mitteln, über die er verfügt - mit Aufmerksamkeit und Zivilcourage, Takt und Empathie, öffentliche Rede und Begegnungen, um das Repertoire anzudeuten. 'Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen', das Diktum von Dietrich Bonhoeffer klingt bestürzend aktuell. Jetzt ist nicht die Zeit für künstlerische Selbstgenügsamkeit."

Der "Bitterfelder Weg" hatte in der bildenden Kunst durchschlagenderen Erfolg als in der Literatur, lässt sich im Tagesspiegel bei einem rundum zufriedenen Bernhard Schulz lesen, der die Ausstellung "Aufbau. Arbeit. Sehnsucht. - Bitterfelder Wege" in der Bitterfelder Musik-Galerie an der Goitzsche besucht hat. "Zu sehen ist ein Querschnitt durch die im Umfeld des hiesigen Kombinats entstandene Kunst von den Aufbaujahren bis zum Ende der DDR", erfahren wir, "es lässt sich verfolgen, wie die theoretischen Vorgaben der Partei in konkrete Szenen übersetzt wurden. Am eindrücklichsten gelingt dies dem Bitterfelder Maler Walter Dötsch in dem Triptychon von 1971/72, 'Ein Tag aus dem Leben der Martha Gellert'. Sie ist die idealtypische Werktätige der DDR, die neben ihrem Arbeitsalltag - auf der breiten Mitteltafel gefeiert - in der Kindererziehung sowie als Amateurkünstlerin tätig ist. Die vermeintliche Emanzipation der Frau erweist sich als Dreifachbelastung, die eine stets gut gelaunte Heldin ganz selbstverständlich meistert." Dem Kritiker wird klar: "Das Widerständige der Bilder besteht darin, dass sie bei aller ideologischen Folgsamkeit eben doch verraten, wie es um die Wirklichkeit beschaffen war. Für die Feierabendkünstler der 'Zirkel' waren es jedoch Hoffnungszeichen eines besseren Lebens, einerlei, was der 'Bitterfelder Weg' vorgab."

Besprochen werden: Die Kyiv-Biennale (mnp), Katharina Grosses Ausstellung "Warum Drei Töne Kein Dreieck Bilden" in der Albertina (Standard), "Bruno Pélassy and the Order of the Starfish" im Haus am Wannsee (FR) und William Turners "Three Horizons" im Münchner Lenbachhaus (ZEIT).
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Film

Der Filmemacher Ari Folman hat mit "Bring them Home" ein minimalistisch gestaltetes Interviewprojekt mit den Angehörigen der von der Hamas entführten Geiseln gedreht. Keine "Opfershow" ist so entstanden, schreibt Sandra Kegel in der FAZ, sondern es gelinge Folman, "vor den Augen der Zuschauer einen Raum nur aus Worten entstehen zu lassen, dessen schmerzliche Intensität die kurzen Sequenzen zusammenbinden zu einem großen Dokument der Trauer." Zu sehen ist etwa "wie die junge Lior Katz Natanzon mit ihren Worten die Präsenz ihrer abwesenden Familie geradezu herbeizubeschwören sucht, wenn sie über ihre Mutter spricht, die sich ebenso in der Hamas-Gewalt befindet wie deren Freund und wie Liors Schwester, der Bruder, die beiden Nichten. Es erfordert Liors ganze Kraft und Konzentration, den Faden nicht abreißen zu lassen, den sie selbst dann noch fortspinnt, als sie berichtet, wie sie von der Hamas eine Aufnahme zugeschickt bekommt, die die Mutter mit den Nichten zeigt. 'Ein Horrorfilm', sagt die junge Frau und wiederholt es noch einmal, dann bricht sie ab."

Aktionistische Sinnlichkeit: "Love is a Dog from Hell"

Wenn Lilith Stangenberg erneut vor der Kamera des philippinischen Punk-Auteurs Khavn als Orphea durch die Straßen Manilas irrlichtert (was sie mit "Orphea" 2020 schon einmal getan hat), dann geht FR-Kritiker Daniel Kothenschulte bei dieser Reise gerne mit: "Love Is a Dog From Hell" heißt dieser Film und "ist eine Ode an die Finsternis. Und eine One-Woman-Opera für eine der seltenen deutschen Doppelbegabungen in Gesang und Schauspiel seit Hildegard Knef. Und wenn man schon mit Vergleichen anfängt, dann ist der Filmemacher und Komponist Khavn ein philippinischer Christoph Schlingensief." Gedreht wurde auf zahlreichen Kameras und Formaten, "dazu gibt es Animationsszenen des Künstlers Rox Lee, die manchmal die Szenen selbst durch malerische Eingriffe in Bewegung setzen oder Found-Footage-Material aus einem medizinischen Lehrfilm über russische Operationstechniken. All das führt in aktionistischer Sinnlichkeit an die Grenzen von Leben und Tod - und weckt Erinnerungen an Experimentalfilmklassiker von Kenneth Angers 'Lucifer Rising' bis Kurt Krens Filmdokumenten von Hermann Nitsch."

Besprochen werden Justine Triets "Anatomie eines Falls" mit Sandra Hüller (Welt, FR, Perlentaucher), Hannes Hirschs Spielfilmdebüt "Drifter" (Tsp), die auf Paramount gezeigte Serie "Fellow Travellers" (Freitag) und die Netflix-Serie "Alles Licht, das wir nicht sehen" nach dem gleichnamigen Roman von Anthony Doerr (FAZ).
Archiv: Film

Literatur

Besprochen werden unter anderem Paul Austers "Baumgartner" (online nachgereicht von der Zeit), Peter Handkes "Die Ballade des letzten Gastes" (Standard), Bov Bjergs "Der Vorweiner" (FR), Klaus Merz' Gedichtband "Noch Licht im Haus" (NZZ), Moritz Julius Bonns Memoiren "So macht man Geschichte?" (FAZ) sowie Elisa Hovens und Juli Zehs Kinderbuch "Der war's" (SZ).
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Stichwörter: Zeh, Juli, Auster, Paul

Bühne

Wiebke Hüster freut sich in der FAZ über Sebastian Webers berührendes Solo "The Long Run" im Leipziger LOFFT: "Der tänzerische Marathon, den Weber mit 'The Long Run' souverän und berührend präsentiert, erinnert an seine Lehrjahre in der überwiegend schwarzen New Yorker Tap-Community der Neunzigerjahre. Es ist eine Hommage an Künstler wie James 'Buster' Brown oder Steve Condos, eine Erinnerung an die Zeit mit ihnen, an ihr Vermächtnis, sich die Dinge anzuverwandeln, Schritte zu 'stehlen', aber niemals zu 'kopieren' - und es ist eine Demonstration dessen, was Weber ausmacht, woran er glaubt und was er kann: phantastisch, virtuos, reflektiert tanzen und dabei laut nachdenken."

"Die Ärztin" am Theater St. Gallen. Foto: Jos Schmid.

In der Geschichte um die titelgebende "Ärztin" am Theater St. Gallen, das Robert Icke sehr lose auf Schnitzlers "Professor Bernhardi" aufbaut, "verdichten die St. Galler so gut wie jedes als 'woke' apostrophierte Gegenwartsthema und treiben damit ein derartiges Verwirrspiel, dass nach der Pause ein relevanter Teil des Publikums darauf verzichtet, sich in Fragen von Geschlechter-Identität, Rassismus, Diversität, Sterbehilfe, Katholizismus, Medizinethik und Antisemitismus weiter belehren zu lassen", hält ein doch ziemlich genervter Nachtkritiker Erich Nyffenegger fest. "Der Abend krankt insgesamt an einer Überfrachtung, die beim Zuschauen zur Überforderung wird und Einsichten erschwert: Als ob man von jemandem im freien Fall verlangte, er solle während des Absturzes ein kompliziertes Kreuzworträtsel lösen. Was bleibt, ist eine Ratlosigkeit, die dem Willen zum Opfer fällt, in gut zwei Stunden eine Gegenwart erklären zu wollen, die selbst in zwei Wochen nur ungenügend umrissen werden könnte."

Weiteres: Die FAZ freut sich über vierzig Jahre Theater neben dem Turm in Marburg - und über das Geburtstagsfestival anlässlich dieses Jubiläums. Die WELT streamt Richard Strauss' "Salome" in der Inszenierung von Dmitry Tcherniakov an der Oper Hamburg bei Arte.
Archiv: Bühne