Efeu - Die Kulturrundschau

Euer Mangel an Traurigkeit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.12.2023. Die FAZ lässt sich von Lydia Steiers wirkmächtiger Inszenierung von Verdis "Aida" überwältigen - die FR muss bei so viel Drastik ein bisschen schlucken. Die NZZ sieht geplatzte Architekturträume in Basel. Die Welt besucht eine erstaunlich nachdenkliche Architekturtriennale im Arabischen Emirat Schardscha. Und der Literaturwissenschaftler Dan Sinykin erklärt ZeitOnline, warum man heutzutage von "Konzern-Autoren" sprechen sollte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.12.2023 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Aida" am Schauspiel Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller.

Düster und wirkmächtig ist Lydia Steiers Inszenierung von Verdis "Aida" an der Oper Frankfurt, lobt Wolfgang Fuhrmann in der FAZ. Viele Referenzen an Hans Neuenfels skandalumwitterte Aufführung hat Steier hier eingebaut, erkennt der Kritiker, wie damals tritt Aida als Putzfrau auf. Manchmal geht Fuhrmann die Drastik der Szenen etwas zu weit - es sind vor allem die ruhigeren Momente, die ihn überzeugen: "In den beiden letzten Akten wird die Inszenierung, wie einst bei Peter Konwitschny, zum radikalen Kammerspiel. Hier vor allem zeigt Steier, dass sie nicht nur virtuos Massenszenen voll böser kleiner Details inszenieren kann (wie das geheuchelte Mitleid der aufgetakelten Siegesparty-Gesellschaftsdamen mit den Kriegsgefangenen), sondern auch die verstörende Flucht der Liebenden in den Tod als abgrundtiefe Verzweiflung bei Siegern wie Besiegten. Die harfenumrauschte Ges-Dur-Verklärung, die Verdi komponiert hat, erscheint nicht mehr glaubhaft." Sehr finster findet auch FR-Kritikerin Judith von Sternburg diese Inszenierung - aber auf der anderen Seite entspricht das ja auch irgendwie den Schrecken unserer Realität, meint sie.

Weiteres: In Krisenzeiten kommt dem Theater eine wichtige gesellschaftliche Rolle zu, meint der Kultursenator von Hamburg und Präsident des Deutschen Bühnenvereins Carsten Brosda in einem Gastbeitrag in der SZ. Besprochen werden Alireza Daryanavard und Mahsa Ghafaris Stück "Chronik der Revolution" am Berliner Ensemble (nachtkritik, taz) und Nuran David Calis Inszenierung von Lessings "Nathan der Weise" am Nationaltheater Mannheim (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

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Der Literaturwissenschaftler Dan Sinykin hatte erst kürzlich schon mit der FAZ über seine (im Buch "Big Fiction" dargelegten) Thesen von der Konzernliteratur gesprochen (unser Resümee), also zum Zusammenhang zwischen Literaturproduktion und Wandel des Verlagswesens hin zum Medienkonzern. Im Interview mit Zeit Online legt er dar, warum es eigentlich angezeigt wäre, von "Konzern-Autorenschaft" zu reden. Die zuletzt sehr populäre Autofiktion ist für ihn vor diesem Hintergrund ein besonders spannendes Feld: "Eigentlich ist doch sogar auffällig, dass genau zu dieser Zeit das Genre der Autofiktion, das den Autor wie auch immer fiktionalisiert, auch ins Zentrum der Erzählung stellt, so beliebt ist. ... Sie ist auf verschiedenen Gründen beliebt. Sie befriedigt auch das Bedürfnis nach Gossip, danach, das Leben des Autors kennenzulernen. Sie zeigt aber auch: Hier wird der Autor wieder romantisiert, als die entscheidende und autarke Figur beschworen, während die Realität in den Konzernen oft in die entgegengesetzte Richtung geht. Also kann man schon sagen: Der Trend zur Autofiktion ist auch eine Reaktion auf die Macht der Verlage."

Besprochen werden unter anderem Klara Blums "Der Hirte und die Weberin" (Tsp), Jasmin Schreibers Climate-Fiction-Roman "Endling" (Standard), die Memoiren von Ethel Smyth (SZ), Joanna Bators "Bitternis" (NZZ) und Karl Alfred Loesers "Requiem" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Kunst

Die Fotografin Eva Häberle hat für die taz den Bildgenerator "Midjourney" geprüft, das "derzeit führende Programm für Kreative" und staunt über die fantastischen Ergebnisse. Vor allem beim Suchbegriff "Frau": Angezeigt werden schöne junge Frauen mit ausdruckslosen Gesichtern, aber langen Haaren, die im luftleeren Raum schweben. Und: "Ist unsere Realität bereits männlich und weiß dominiert, so ist die der KI noch weißer, noch männlicher. Eine Studie von Bloomberg zum Generator 'Stable Diffusion' vom Juni 2023 zeigt Folgendes: Frauen haben kaum lukrative Jobs oder bekleiden Machtpositionen. Im Test wurden beim Begriff 'judge' 3 Prozent Frauen generiert, während in der echten Welt 34 Prozent der US-Richter Frauen sind. 'Doctors' in den USA sind zu 40 Prozent weiblich, in der Welt von 'Stable Diffusion' sind es aber nur 7 Prozent. Hier waren Frauen insgesamt nicht nur in gut bezahlten Berufen unterrepräsentiert, sondern auch in schlecht bezahlten Berufen überrepräsentiert. Ergebnis: Als schwarze Frau brät man Burger oder macht sauber. Praktisch keine Rolle spielen Frauen ab Mitte 40. Während Männer bis zum Greisenalter dargestellt werden, ist die Frau so gut wie immer unter 35. 'Fuckable' nennt man das."

Weiteres: Der Tagesspiegel meldet mit dpa, das am 9. Februar 2024 der Bau des neuen Museums "berlin modern" neben der Neuen Nationalgalerie beginnen soll. Britische Museen reagieren auf den Thronwechsel und ändern ihre Namen von "Queens-" in "Kings Gallery", kann man ebenfalls dort lesen.

Besprochen werden die Ausstellung "Nicht müde werden. Felix Nussbaum und künstlerischer Widerstand heute" im Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück (FAZ), Edite Grinbergas Soloschau "Am weißen Steg" in der Galerie Friedmann-Hahn in Berlin (tsp).
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Architektur

7132 Hotel & Arrival Morphosis, Vals, 2014-2017
© Morphosis

Bauprojekte, die niemals realisierte wurden, bestaunt NZZ-Kritiker Andres Herzog in der Ausstellung "Was wäre wenn?" im Schweizerischen Architekturmuseum in Basel. Herzog sieht Entwürfe, die nicht die Gunst einer Wettbewerbsjury gewinnen konnten oder aus organisatorischen Gründen vor der Realisierung gestoppt wurden - jedenfalls viele geplatze Architekturträume. Manche hätte der Kritiker gerne verwirklicht gesehen, andere fallen deutlich "in die Kategorie Größenwahn": Hierzu "zählt das Projekt von Mario Botta für die Erweiterung des Bundeshauses in Bern. 1991 zeichnete der Architekt am Aarehang einen siebenflügeligen Monumentalbau, der das historische Gebäude darüber wie eine Trutzburg beschützte. Doch die Freude über das starke Bild verflog nach wenigen Monaten. Umweltverbände meldeten Bedenken an. Und der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA) pochte auf die Wettbewerbsordnung, deren Vorgaben beim Verfahren nicht eingehalten worden waren."

Ungewöhnlich differenzierte Töne hört Welt-Kritiker Alexander Gutzmer bei der Architekturtriennale im arabischen Emirat Schardscha. Das hätte er gar nicht erwartet, schließlich sei die Veranstaltung im konservativen Emirat eigentlich dazu prädestiniert, den "westlichen Ex-Kolonisatoren" mal "so richtig den Spiegel vorzuhalten". Die Nuancen kann Gutzmer auch in den ausgestellten Projekten erkennen: "Das Scheitern modernistischer Planungsideale ist auch in der vielleicht faszinierendsten, aber auch ambivalentesten aller Installationen zu besichtigen: dem 'Betonzelt', welches das Künstlerduo Sandi Hilal und Allessandro Petti im Ort Al Madam errichtete, gut eine Autostunde von Downtown Schardscha entfernt. Dieses Al Madam ist an sich schon an Absurdität nicht zu überbieten: Ursprünglich als modernes Musterdorf in der Wüste geplant, musste das ambitioniert geplante Projekt schließlich aufgegeben werden - der ständig in die modern gestalteten Häuser wehende Sand war einfach zu enervierend. Jetzt hat der Sand die Komplettkontrolle über die Gebäuderuinen übernommen. Nomadische Lebensstile und abstrakt moderne Gesellschaftsentwürfe kontrastieren hier."
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Film

In den Schwarzweiß-Passagen lebendiger Screwball: "Maestro"


Solange Bradley Coopers Biopic "Maestro" über Leonard Bernstein (mit Cooper selbst in der Hauptrolle) eine anarchische Screwball-Comedy in Schwarzweiß ist, hat Perlentaucher Karsten Munt noch viel Freude an diesem Film. Doch irgendwann kommt eine streberhafte Anstrengung in den Film, die ihm den Spaß verleidet: "So richtig gelebt fühlt sich das nicht an. Am Piano leuchten die Augen, später fließen Tränen und in der Kathedrale von Ely, der großen Klimax der Dirigierkunst, kanalisiert Cooper die Jahre der Method-Rollenvorbereitung in eine überexpressive Zappelei, die das Innere des Maestros nach außen stülpt. Alles ist Performance. Vom rauchigen Aroma in der Stimme, dem die Zeit allmählich etwas Nasales unterhebt, bis zur immer im Mundwinkel hängenden Zigarette: Cooper hat Bernstein drauf, hat keine Angst davor, immer noch lauter zu drehen, bis alles derart exaltiert wirkt, dass es eigentlich Spaß machen müsste, aber dann doch immer so angestrengt ist, sich so krampfhaft auf Technik stützt, dass es mir schwer fällt, etwas anderes zu sehen als die Anstrengung, die Bradley Cooper empfindet, wenn er die Last die Genialität schultert oder vom Narzissmus des alten Bernstein durch den Film gejagt wird."

Grandios hingegen findet FR-Kritiker Daniel Kothenschulte, wie Cooper hier Bernstein gibt: "Er wird sofort lebendig, und nichts ist ansteckender als die Ansteckung". Doch vor allem ist dies "ein sinnlicher Musikfilm. In einer radikalen Entscheidung sind Bernsteins eigene Kompositionen zu hören, die eine eigens komponierte Filmmusik ersetzen. Sie sind so in ihrer immensen stilistischen Bandbreite und vor allem ihrer hemmungslosen Emotionalität zu erleben. Wer etwas gegen das Filetieren klassischer Musikaufnahmen in Spielfilm-Soundtracks hat, wird diesem Film eher skeptisch begegnen. Die kunstvolle Tonmontage allerdings ist oscar-würdig."

Archiv: Film

Musik

Judith von Sternburg hört für die FR das neue Album "Kapitalismus Blues Band" der Berliner Diskurspop-Band Die Türen, auf dem die Band "aufs Neue in sublimer Dissidenz eine Kritik der Widersprüche" betreibt. "In einem kompakteren Zuschnitt als zuvor auf 'Exoterik' (2019) beziehen sie sich wiederum auf den Krautrock, diesmal mitsamt Anleihen etwa bei Devo und Primal Scream. Es herrscht ein improvisatorischer Geist, die Texturen sind äußerst dicht, nicht selten mit einem psychedelischen Einschlag. Musikalisch definiert die inzwischen fünfköpfige Gruppe sich immer wieder neu. ... 'Euer Mangel an Traurigkeit deprimiert mich' geht eine Zeile in 'Alte Sorte'. Angesichts der Paradoxien des Lebens in der kapitalistischen Welt hilft einzig ein dialektisches Denken."



Weitere Artikel: Adrian Lobe sorgt sich im Tagesspiegel angesichts der neuesten Generation von KI-gestützten Noise-Cancelling-Kopfhörern, die es gestatten, akustisch genau zu selektieren, was an Geräuschen noch ans Ohr zum Musikhörer im öffentlichen Raum durchdringt, um die "akustische Identität" der Stadt: Wenn "jeder seine Umgebung mit Kopfhörern cancelt, geht diese akustische Identität verloren". Stefan Hochgesand wirft für die Berliner Zeitung einen Blick auf die angekündigten Massenentlassungen bei Spotify. Peter Praschl erzählt in der Welt von seinem Alltag als Vater eines Taylor-Swift-Fans.

Besprochen werden ein gemeinsamer Auftritt von Martha Argerich, Janine Jansen und Mischa Maisky in Wien ("im Finalsatz pflügten die drei kraftvoll durch Felder der Verzweiflung", notiert Stefan Ender im Standard), ein Konzert von Hozier (Presse), Peter Kempers Buch "The Sound of Rebellion" über die politische Ästhetik des Jazz (FAZ) und die mit Kunstwerken angereicherte Compilation "Glitzerbox 2" ("Gründe zum Staunen liefert sie gleich einige", verspricht Stephanie Grimm in der taz).

Archiv: Musik