Efeu - Die Kulturrundschau

Die Revolution ein Clownstheater

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.12.2023. Die taz findet in der Philip Guston-Retrospektive in der Tate Modern das Eigene im Anderen. Die im Berliner Exil lebende Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch sorgt sich um ihre Wohnung in Minsk, die Lukaschenkos Schergen beschlagnahmen wollen, erzählt sie in der Zeit. Der RIAS Kammerchor erklärt, warum es "Israel in Egypt" aus seinem Neujahrsprogramm gestrichen hat. Einfach nur elfenhafte Freude empfindet VAN bei einem Mendelssohn-Abend in Berlin. Die Filmkritik trauert um den georgischen Autorenfilmer Otar Iosseliani, der zwar Monarchist war, aber dennoch anarchische Filme drehte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.12.2023 finden Sie hier

Bühne

Nicholas Ofczarek und Michael Maertens am Wiener Burgtheater. Foto: Matthias Horn. 

Was ist die Revolution? FAZ-Kritiker Hubert Spiegel erhält in Johan Simons' Inszenierung von Büchners "Dantons Tod" am Wiener Burgtheater eine eindeutige Antwort: "Ein Clownstheater!" Simons zeigt sie als "einen Ort, an dem die Uhren anders gehen, einen abgetakelten Wanderzirkus, der blutig auf der Stelle tritt", so Spiegel. In der Mitte dieser Farce stehen Nicholas Ofczarek und Michael Maertens als Danton und Robespierre: "Beide tragen die Melone des Komikers, für beide hat die Kostümbildnerin Greta Goiris Zirkuskostüme entworfen. Aus den Helden von gestern sind traurige Weißclowns geworden - oder waren sie nie etwas anderes? Gelangweilt, arrogant und überheblich noch in seiner Todessehnsucht: Nicholas Ofczareks Danton, als blasser Tod geschminkt, watschelt immer wieder wie ein angeschlagener Pinguin über die Bühne, ein Kraftkerl, dem es von Mal zu Mal schwerer fällt, in die alten Heroenposen zu verfallen. Ganz anders Michael Maertens, der seinen Robespierre oft ganz weich agieren lässt, ein verhärmter Einzelgänger mit Sendungsbewusstsein, die Händchen reibend, sich noch im Watschelgang pfäffisch heranschleichend, ein Blut trinkender Mörder aus verletzter Seele, zaghaft, einsam, unerbittlich."

Weiteres: Astrid Kaminski stellt in der taz das deutsch-griechische Theaterprojekt "Romaland" vor, mit dem die Regisseure Anestis Azas und Prodromos Tsinikoris auf gesellschaftliche Benachteiligung der Roma aufmerksam machen wollen.

Besprochen werden Selma Selmans Performance "her0" im Gropius Bau Berlin (taz), Claudia Bauers Inszenierung der "dadaistischen Sprechoper" "Ursonate (Wir spielen, bis uns der Tod abholt)" nach Kurt Schwitters Lautgedicht am DT Berlin (taz), David Aldens Inszenierung der Donizetti-Oper "Anna Bolena" an der Deutschen Oper Berlin (taz), Ralf Hockes Inszenierung von Fassbinders "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" am Theater Hof (nachtkritik), Nina Braziers Inszenierung der Mozart-Oper "Ascanio in Alba" an der Oper Frankfurt (FR), Goyo Monteros Ballett "Steppenwolf" nach dem Hesse-Roman am Staatstheater Nürnberg (SZ) und Alexei Ratmanskys Inszenierung des E.T.A. Hoffmann-Balletts "Coppélia" von Léo Delibes an der Mailänder Scala (die Wiebke Hüster in der FAZ "unfassbar schön" findet).
Archiv: Bühne

Literatur

Swetlana Alexijewitsch fürchtet um ihre Wohnung in Minsk, die sie zurücklassen musste, als sie 2020 von Belarus ins Exil nach Berlin gegangen ist, erzählt die Nobelpreisträgerin im Zeit-Interview mit Alice Bota. Es gibt ernstzunehmende Androhungen des Regimes, die Wohnung an sich zu reißen. "Ich möchte zurück, aber es gibt keinen Ort, an den ich zurückkann. ... Meine Manuskripte sind dort. Alles ist dort geblieben. Eine Wohnung ist ja nicht nur ein Ort, an dem man wohnt. Das ist deine Welt. Und diese komplette Welt ist zurückgeblieben. ... Immerhin ist es meinen Freunden vor ein paar Tagen gelungen, die Nobelpreismedaille rauszuholen. Meine Welt ist über viele Jahre zusammengewachsen, und ich spreche von Dingen, die einen symbolischen Wert haben. Und dann marschieren da diese Tiere ein - ich kann sie nicht anders nennen - und zerstören diese Welt. Vor einiger Zeit haben sie in der Wohnung eines Wissenschaftlers alles zerstört und eine Lkw-Ladung Müll in der Wohnung abgeladen, die Fotos davon veröffentlicht. Kaum vorzustellen, was ein Mensch fühlen muss, wenn er das sieht, was seiner Welt angetan wurde."

Bestellen Sie bei eichendorff21.de
Außerdem: In Intellectures spricht der frühere Karikaturist und heutige Comiczeichner Ersin Karabulut über den desolaten Zustand der Satire in seiner türkischen Heimat und sein ehrgeiziges Comicprojekt, mit "Das Tagebuch der Unruhe" die eigene Lebensgeschichte mit der jüngeren Geschichte der Türkei zu verbinden. In der FR spricht Bernhard Schlink mit Cornelia Geissler über seinen neuen Roman "Das späte Leben". Gina Thomas schaut für die FAZ auf die Pläne, wie Oxford (wo ein beträchtlicher Teil seines Nachlasses lagert) das Kafka-Jahr 2024 feiern wird.

Besprochen werden unter anderem neue Bücher von Jon Fosse (Zeit), Cécile Wajsbrots "Mémorial" (Tell), Sarah Kirschs "Der Sommer fängt doch so an!" mit Tagebucheinträgen von 1990 (FR), Monika Helfers "Die Jungfrau" (online nachgereicht von der FAZ), Ruth Klügers Essaysammlung "anders lesen. Juden und Frauen in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts" (Jungle World), Stefanie Sargnagels "Iowa" (Standard), Yasmin Polats "Im Prinzip ist alles okay" (Standard), Yavuz Ekincis "Das ferne Dorf meiner Kindheit" (SZ) und Wu Mings "Ufo 78" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Otar Iosseliani, 2013. Foto: Valerios Theofanidis unter CC-Lizenz
Der georgische Autorenfilmer Otar Iosseliani ist im Alter von 89 Jahren gestorben. Wegen politischer Repressalien war er in den Achtzigern nach Frankreich ausgewandert. Sein Debütfilm "'April' war Anfang der 1960er-Jahre wegen 'Formalismus' verboten worden", schreibt Christiane Peitz im Tagesspiegel. "Er arbeitete daraufhin eine Zeitlang als Matrose und als Metallarbeiter. Auch nach seiner Emigration machte er keinen Hehl aus seiner Überzeugung als bekennender Monarchist. Seine Kinobilder hingegen kannten kein Klassenbewusstsein, sie hatten oft etwas Anarchisches. So feierten Iosselianis Werke mit einer fliegenden, schwebenden Kamera von William Lubtchansky nicht nur eine im Verschwinden begriffene Welt, sondern zugleich das einfache Leben. ... Immer wieder verteidigten seine poetischen, mit Wehmut grundierten Tragikomödien die Magie der kleinen Dinge gegen den Turbokapitalismus." Und sie zeichneten sich durch eine "epische Ironie" aus, ergänzt Andreas Kilb in der FAZ: Hier "ist das Leben keine Story. Es ist ein Panorama, ein Uhrwerk des Zufalls, ein historisch-mechanisches Figurenballett, in dem dieselben Charaktermasken immer wiederkehren. ... Dabei war dem Geschichtspessimisten Iosseliani nichts fremder als Larmoyanz. Statt vom Überdruss am Leben erzählt jeder seiner Filme von der Lust daran, in Afrika ('Und es ward Licht') wie in der französischen Provinz ('Jagd auf Schmetterlinge'). Sein Kino brauchte kaum Dialoge, es ließ die Dinge sprechen, die Blicke, die Gesten."

Außerdem: Rochus Wolff beleuchtet im Filmdienst die Schwierigkeiten beim Auffinden von Kinderfilmen in Streamingportalen. Besprochen werden die zweite, auf Lee Childs Thriller "Bad Luck and Trouble" (unsere Kritik) basierende Staffel der Amazon-Serie "Reacher" (NZZ), Zack Snyders für Netflix gedrehtes Science-Fiction-Epos "Rebel Moon, Teil 1" (critic.de), die letzten Folgen der Netflix-Serie "The Crown" (FAZ) und Simon Verhoevens "Girl You Know It's True" über Frank Farians Milli-Vanilli-Skandal (FD, Tsp).
Archiv: Film

Kunst

Philip Guston: Legend 1977. Museum of Fine Arts, Houston. Houston, USA. ©The Estate of Philip Guston, Courtesy Hauser und Wirth.

"Wie viel Eigenes steckt im anderen, auch und gerade im ultimativ Bösen?" Diese Frage zieht sich durch das Werk des Künstlers Philip Guston, wie Katharina J. Cichosch in der taz festhält. Die Londoner Tate Modern hat dem amerikanischen Maler eine umfassende Retrospektive gewidmet. Mit seiner Auslotung des Bösen eckte Guston immer wieder an, erinnert Cichosch - mehrmals musste die Ausstellung verschoben werden, weil New Yorker Galeristen ihrem Publikum seine Ku-Klux-Clan-Figuren nicht zumuten wollten. Er habe sich "schwarzes Trauma angeeignet", lautete der Vorwurf, wie Cichosch wiedergibt, dabei wurde übersehen, dass Guston als Jude selbst zum Feinbild der "White Supremacists" gehörte. Anfang der fünfziger Jahre wendet sich Guston der Abstraktion zu, kann die Kritikerin in der Ausstellung beobachten, aber "wenige Jahre später sind die Kapuzenmänner wieder da. Die Hoods, die schon Jahrzehnte zuvor immer wieder schemenhaft gespenstisch sich ins Bild geschlichen hatten, erscheinen nun so brachial-banal, wie Guston fortan seine kompletten Motive ausarbeitet. Oft in der Lieblingsfarbe Pastramirot bis Fleischrosa."

Besprochen werden außerdem die Fotografie-Ausstellung "Carrie Mae Weems - The Evidence of Things Not Seen" im Kunstmuseum Basel (NZZ) und die Ausstellung "Venezia 500. Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei" in der Alten Pinakothek München (Welt).
Archiv: Kunst

Musik

Albrecht Selge resümiert für VAN zwei Mendelssohn-Abende im Berliner Pierre-Boulez-Saal. Dort gab es einige Schönheiten zu erleben, etwa wie Sunwook Kim das 2. Klaviertrio c-Moll Opus 66 spielt: "Wenn man im Scherzo (...) ganz fest die sommernachtsträumenden Feen im Raum spürt, weiß man sicher, dass auch der Pianist sie nicht erschrecken wird. Denn die sonst so häufige Gefahr, dass das Klavier seine Mitstreicher übertönt, besteht bei Kims höchst kultiviertem, kommunizierendem Spiel zu keiner Zeit. Bis zum dynamischen Höhepunkt im Finale ist das alles so umsichtig und wirkungsvoll disponiert, dass man sich einfach nur elfenhaft freut. Ähnlich froh wird man mit Mendelssohns 2. Streichquintett B-Dur Opus 87 (wie das Trio 1845 entstanden, zwei Jahre vor dem Tod beider Geschwister) und Fanny Hensels Es-Dur-Quartett von 1834, das so singulär frei atmet, dass einem beim Hören das Herz übergeht. Ideale, intensive Kammermusiker sind das: die Cellistin Xenia Jankovic, der Bratschist Michael Barenboim und die beiden Geigerinnen Madeleine Carruzzo (vor 40 Jahren die erste Berliner Philharmonikerin) sowie Clara-Jumi Kang (die damals noch nicht geboren war und deren Namen man sich merken sollte, wenn man es nicht schon längst getan hat), dazu die junge Sindy Mohamed als zweite Bratschistin im B-Dur-Quintett, das einen bis ins Mark rührt."

Der Tagesspiegel dokumentiert eine Stellungnahme des RIAS Kammerchors zur Kritik an seiner Entscheidung, Händels "Israel in Egypt" am Neujahrstag doch nicht aufzuführen (hier und dort unsere Resümees). Das Ensemble empfindet es demnach "als nicht angemessen, im Neujahrskonzert ein Werk darzubieten, das sich durch eine kriegerische und kämpferische Atmosphäre auszeichnet und in dem zu Hunderten gestorben wird. Der Neujahrstag symbolisiert für uns einen Neuanfang und die Hoffnung auf ein besseres, friedvolleres Jahr."

Außerdem: Nachdem der 80s-Schmachtsong "You're my Heart" von Dieter Bohlens Modern Talking auf TikTok zuletzt wieder steil ging, gibt Peter Praschl in der Welt Tipps, wie man aus staubigen Oldies virale Kracher macht. Besprochen werden ein Konzert von Andrè Schuen (Standard), Paul McCartneys Auftritt in Rio de Janeiro (NZZ), Ibadet Ramadanis Solodebütalbum ("Alles ist äußerst schön", schreibt Stefan Michalzik in der FR) und neue Popveröffentlichungen, darunter V V Browns "Am I British Yet?" ("mit Sicherheit eines der stärksten Alben eines musikalisch elenden Jahres", schreibt Karl Fluch im Standard).

Archiv: Musik