Efeu - Die Kulturrundschau

Ein großes Stück aus der Welt beißen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.01.2024. Die taz beobachtet begeistert, wie Nikolaus Habjan und Neville Tranter ihre Puppen am Deutschen Theater Berlin zum Leben erwecken. Einen Golden Globe hat Sandra Hüller zwar doch nicht gewonnen, aber umso inbrünstiger geht die Zeit vor der Schauspielerin auf die Knie: In ihrem Spiel zeigt sich die Verzweiflung dieser Tage. Die FAZ ist gespannt, ob die "Film Philharmonie" nach einem großen Deal mit den Morricone-Erben auch die avantgardistischen Arbeiten des Komponisten würdigen wird. Die NZZ bewundert in einer Retrospektive in Zürich, wie Margrit Linck die Keramik neu erfand. Und Errol Morris plaudert mit der Zeit über John le Carré, über den er einen Dokumentarfilm gedreht hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.01.2024 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "The hills are alive" am Deutschen Theater Berlin. Foto: Thomas Aurin. 

Tazlerin Katrin Bettina Müller staunt, wie sehr sie bei Nikolaus Habjans und Neville Tranters Inszenierung von "The hills are alive" lachen muss. Denn eigentlich ist das von Tranter geschriebene Stück eher tragisch: Ein jüdisches Ehepaar möchte Jahre nach ihrer Flucht von den Nazis wieder nach Österreich zurück - doch hinter dem Schreibtisch bei der Ausländerbehörde sitzt der Sohn eines Nazis, der das verhindern will, erzählt Müller. Der Witz entsteht durch die Sprache - aber vor allem durch meisterhaftes Puppenspiel: "Die Klappe ganz weit aufzureißen, sperrangelweit, als ob sie mit dem nächsten Happs ein großes Stück aus der Welt beißen könnten - dazu sind die Klappmaulpuppen, mit denen Nikolaus Habjan und Neville Trenter ins Deutsche Theater gekommen sind, geradezu prädestiniert. Die schuhgroßen Unterkiefer sind ihr ausdrucksvollstes Instrument. Dass sich ihre Mimik sonst nicht verändern kann, man glaubt es kaum. Meint vielmehr zu sehen, wie Glück und Triumph, Sorgen und Angst, Hinterlist und Rachegefühle ihre Gedanken dominieren."

Weiteres: Frederik Hansen macht sich im Tagesspiegel Sorgen um die Deutsche Oper in Berlin: Die Nachfolge für Intendant Dietmar Schwarz wird der Aviel Cahn antreten, im Moment Chef des Genfer Opernhauses, allerdings erst ein Jahr nach Schwarz' Ausscheiden zum Sommer 2025. Wenig überzeugt war der Kritiker von Cahns etwas uninspirierten Äußerungen beim offiziellen Vorstellungstermin, Hoffnung macht ihm aber sein "exzellenter Ruf" in der Branche.

Besprochen werden Elmar Goerdens Inszenierung von Simon Stephens "Ein dunkles, dunkles, dunkles Blau" am Schauspiel Stuttgart (nachtkritik), Sapir Hellers Inszenierung von Maya Arad Yasurs "Humanistisch bleiben in 17 Schritten" am Schauspiel Frankfurt (FR), Barrie Koskys Inszenierung der Strauss-Oper "Salome" an der Oper Frankfurt (FR), Niklas Ritters Adaption von Sybille Bergs Dystopie "GRM Brainfuck" am Deutschen Theater Göttingen (taz) sowie Miriam Götz' Inszenierung von Andys Skordis' und Jelena Vuksanovics Oper "Zusammen Fallen" an der Oper Neukölln in Berlin (tsp).
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Film

Sandra Hüller in "Anatomie eines Falls", für den sie für einen Golden Globe nominiert war

In den USA wurden die Golden Globes verliehen. Als bester Film wurde Christopher Nolans "Oppenheimer" ausgezeichnet. Sandra Hüller konnte ihren sagenhaften Run in den letzten zwölf Monaten leider nicht mit einer Auszeichnung krönen: Der Golden Globe in der Kategorie "beste Schauspielerin / Drama" ging an Lily Gladstone aus "Killers of the Flower Moon" (hier alle Nominierten und Gewinner). Tags zuvor hatte der US-Verband der Filmkritik Hüller als beste Schauspielerin des Jahres ausgezeichnet. Auf Zeit Online verneigt sich Georg Seeßlen mit einem Essay vor der deutschen Schauspielerin: Sie "besitzt ein Gespür für Timing, Aktion - Verzögerung - Reaktion, ihre Bewegungsmelodie erzeugt Räumlichkeit, wo weniger begabte Schauspielerinnen nur vor der Kamera Texte aufsagen würden. Sie beherrscht die Kunst der Ambivalenz und die Balance zwischen dem Erklärten und dem Rätselhaften, die physiognomischen Skizzen von Bruch und Widersprüchlichkeit; bei Sandra Hüller können in einer Mimik Begehren und Abscheu, Zärtlichkeit und Bosheit, soziale Maske und menschlicher Abgrund sichtbar werden, schließlich der natürliche Flow, mit dem auch Grenzüberschreitungen möglich sind: Nacktheit, Gewalt, Schmerz, Verzweiflung, Demütigung, Zorn. All diese Empfindungen, für die man ins Kino geht. ... Mit Sandra Hüller gibt es Exkursionen ins Innere wie ins Äußere der Frauen in der post-feministischen, post-demokratischen und post-progressistischen Zeit nach Wiedervereinigung, Millennium und Krise. Es ist die Frau, die als Opfer wie als Täterin, und oft genug als beides zugleich, die Lieblosigkeit, die Ernüchterung, die Verzweiflung dieser Tage ausdrückt."

Außerdem: Im Dlf-Feature erinnert Daniel Guthmann an den vor 30 Jahren verstorbenen Filmemacher Sergei Paradschanow. Besprochen werden die Netflix-Serie "The Brothers Sun" mit Oscarpreisträgerin Michelle Yeoh (Zeit Online), Taika Waititis Sportkomödie "Next Goal Wins" (Jungle World) und neue, auf Netflix gezeigte Comedy-Specials von Ricky Gervais und Dave Chappelle (taz).
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Literatur

Ermittler in eigener Sache: John le Carré in Errol Morris' "Der Taubentunnel"

Dirk Peitz unterhält sich für Zeit Online mit dem Filmemacher Errol Morris über John le Carré. Den Anlass dafür bietet Morris' auf Apple gezeigter Dokumentarfilm über den Thrillermeister, den er dafür vor dessen Tod noch interviewen konnte. Er unterscheidet dabei strikt zwischen der öffentlichen Person le Carré und dessen Erfinder, die Privatperson David Cornwell: "Seine Kunst war eine immersive, er begab sich zunächst in die Welten, die er hinterher beschrieb. Das galt bereits für seinen Roman 'Der Spion, der aus der Kälte kam' und was damals Anfang der Sechzigerjahre in Westdeutschland politisch passierte. David war 1958 dem britischen Auslandsnachrichtendienst MI6 beigetreten und spionierte anschließend in Bonn. ...  Erst durch David habe ich von Figuren wie Hans Globke erfahren, einem der Kommentatoren der Nürnberger Rassegesetze. Wie konnte es geschehen, dass Leute wie Globke wenige Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur hohe Ämter in der bundesrepublikanischen Regierung innehatten (Globke war Kanzleramtsminister unter Konrad Adenauer, Anm. d. A.)? Auch David schien darüber überrascht. Und davon angewidert. Sein Erzählen als Schriftsteller und er selbst waren geprägt von tiefen moralischen Vorstellungen. Man könnte das kantianisch nennen: die Idee, dass es ein eindeutiges Richtig und ein eindeutiges Falsch gibt."
 
Weitere Artikel: Der Wiener Schriftsteller Robert Prosser erzählt in einer Reportage für den Standard von seiner Reise in die Ukraine und seinen Begegnungen mit dem Schriftsteller Serhji Zhadan. Barbara Machui erinnert im Standard an den Erfolg von Françoise Sagans vor 70 Jahren erschienenem Roman "Bonjour tristesse". Jürgen Kaube schreibt in der FAZ einen kurzen Nachruf auf die Bremer Buchhändlerin Bettina Wassmann. Björn Hayer schreibt in der FR einen Nachruf auf die Schriftstellerin Helena Adler.

Besprochen werden unter anderem Emma Braslavskys "Erdling" (Dlf), Viktor Jerofejews "Der Große Gopnik" (TA), Felix Heidenreichs Kant-Roman "Der Diener des Philosophen" (online nachgereicht aus der LitWelt), Nikola Huppertz' "Fürs Leben zu lang" (online nachgereicht von der FAZ) und Miroslav Krležas "Eine Reise nach Russland. Essays aus dem Jahre 1926" (NZZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Kunst

Ausstellungbild "Margrit Linck: Pionierin der Keramik". Foto: Museum für Gestaltung Zürich. 

Philipp Meier bewundert in der NZZ das Werk der Schweizer Keramikkünstlerin Margrit Linck, der das Museum für Gestaltung in Zürich eine große Retrospektive widmet. Linck "dachte Keramik anders und schuf sie von Grund auf neu", staunt der Kritiker. Als erste Frau der Schweiz eröffnete sie in den dreißiger Jahren ein Töpferatelier in Bern, erzählt Meier, da waren ihre Gefäße noch ganz herkömmlich: "Bald aber brach Linck aus dem traditionellen Kanon aus und begann, surrealistisch anmutende Tier- und Menschenfiguren zu entwickeln, die sie gekonnt mit der zweckmäßigen Gefässform zu verbinden verstand. Die sogenannten Metamorphosen wurden zu einem Leitmotiv in ihrem Schaffen. Margrit Linck balancierte virtuos zwischen angewandter und freier Kunst. Wobei die funktionsbefreite Auseinandersetzung mit Ton ihre Kreationen im Bereich der Gebrauchskeramik beflügelte. Dieser schöpferische Elan, gepaart mit viel Innovationskraft, machte sie in einem damals von Männern dominierten Feld zu einer Pionierin der Schweizer Keramik."

Weitere Artikel: Harry Nutt präsentiert in der Berliner Zeitung einen spannenden Netzfund: Rob Stoner, ein Begleitmusiker von Bob Dylan, hat per Facebook auf das Werk seines Vaters verwiesen, des amerikanischen Fotografen Arthur Rothstein: Dessen Fotos aus dem New York, der dreißiger und vierziger Jahre findet Nutt höchst faszinierend. Bernhard Schulz empfiehlt im Tagesspiegel, sich die Bodenreliefs des Bildhauers Ulrich Rückriem in der Neuen Nationalgalerie anzusehen, die anlässlich seines 85. Geburtstags vorübergehend neu installiert wurden.

Besprochen werden die Ausstellung "Zoom auf Van Eyck. Meisterwerke im Detail" in der Gemäldegalerie am Berliner Kulturforum (FAZ), die Gruppenausstellung "Hope" im Museion Bozen in Südtirol (taz) und die Ausstellung "16 Hintergleisflächen", mit Werken von Stefan Marx, die unter anderem hinter den Gleisen im U-Bahnhof Hansaplatz stattfindet (BlZ).
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Musik

In der FAZ ist Clemens Haustein sehr gespannt, was aus dem Deal zwischen der "Film Philharmonie" und den Morricone-Erben entstehen wird: Die Berliner Firma soll künftig aus den Handschriften des italienischen Komponisten Aufführungsmaterial erstellen und Programme kuratieren. Dabei soll es auch darum gehen, Morricones unabhängig von Filmarbeiten entstandene Werke zu präsentieren, die eher dem Bereich der Neuen Musik und der Avantgarde zuzurechnen sind. "In seiner 'Musica per 11 Violini' etwa, von 1954, zeigt sich Morricone als begeisterter Neutöner, der die Instrumente effektreich zupfen und tremolieren lässt, der griffige Geräuschepisoden baut, aber auch Schwierigkeiten hat, eine übergreifende Form zu finden. Vielleicht half ihm später der Film bei diesem Problem: Im Gegensatz zur Konzertmusik müssen große, abgeschlossene Formen hier kaum einmal gebildet werden. Ennio Morricones Ambitionen, was eine 'absolute', nicht an filmische Bilder gebundene Musik angeht, ließen nie nach. Mit zunehmendem Alter wurden sie sogar stärker." Dazu passend hat der WDR Sven Ahnerts Radioporträt über Morricone wieder online gestellt.

Weitere Artikel: Der Tages-Anzeiger hat Jakob Biazzas SZ-Gespräch mit Joan Baez anlässlich des Dokumentarfilms "Joan Baez - I am Noise" online nachgereicht. Elena Witzeck erklärt in der FAZ, warum manche Menschen ein sagenhaftes Musikgedächtnis haben. Besprochen werden Silvia Costas und Alain Francos in Berlin gezeigte, experimentelle Konzertperformance "The Timeless Moment" (tazlerin Katharina Granzin "fliegen die Obertöne nur so um die Ohren. Musik kann schön sein. Muss aber nicht.") und neue Musikveröffentlichungen, darunter Steven Wilsons "The Harmony Codex" (FAZ).

Archiv: Musik
Stichwörter: Morricone, Ennio, WDR