Efeu - Die Kulturrundschau

Mit dem Ethos eines Schwerarbeiters

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12.01.2024. Die Welt fragt, warum die Homosexualität von Künstlern so oft verschwiegen wird. Die Zerrissenheit der Mütter zeigt sich der Berliner Zeitung eindrucksvoll im Haus am Lützowplatz. Artechock kritisiert den "Brandbrief" zur Filmförderung an Claudia Roth und fragt sich, ob eine hohe Gewinnmarge wirklich der geeignete Maßstab ist, um die Qualität eines Filmes zu beurteilen. Mehr junge Dirigentinnen wünscht sich die SZ: Dass in Bayreuth erstmals mehr Frauen als Männer dirigieren, sei ein guter Start. Die FAZ kritisiert die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, die kein Geld mehr für die Internationalen Messiaen-Tage in Görlitz bereitstellt..
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.01.2024 finden Sie hier

Kunst

Michelangelo Buonarotti: Männlicher Rückenakt, um 1504. Bild: Albertina Wien.

Gleich drei Ausstellungen besucht Manuel Brug für die Welt, um der Frage auf den Grund zu gehen, warum die homo- und bisexuellen Prägungen von Künstlern so oft verschwiegen werden: "Michelangelo und die Folgen" in der Wiener Albertina "verliert kein Wort" über dessen männliche Geliebte, "Alte Meister que(e)r gelesen" in der Kasseler Wilhelmshöhe widmet sich dem Thema immerhin, wenn auch etwas in die "Spezialistenecke" geschoben, in "Max Oppenheimer. Expressionist der ersten Stunde" im Wiener Leopoldmuseum finden sich nur Andeutungen auf die "homosexuelle Disposition" des Künstlers. Für Brug ist offensichtlich, dass Lustempfinden hier eine große Rolle spielt: "Denn natürlich ist dieser künstlerisch überhöhte Blick auf den Mann auch und ganz besonders einer des Begehrens. Von oftmals schwulen Künstlern auf ihre Modelle. Nur wirklich explizit ausgesprochen wird das nicht. Weil man Teile der Besucher nicht verschrecken, möglichst neutral an dieser durchaus appetitlichen, virilen Fleischlichkeit vorbeigeleiten will? Als ob nicht jeder mal an Nacktheit sich ergötzen möchte… und sei es nur zum berühmten Schwanzvergleich." Die Gemälde rufen praktisch dazu auf, kein Grund für prüde Scham, findet der Kritiker: "Der neue Mensch der Renaissance, der freie Blick auf den unverhüllten, erstmals seit der Antike wieder nackten Körper, es ist kein nur rationaler, sondern auch ein atmend durchpulster emotionaler Vorgang."

Katarina Janeckova Walshe, Givers, 2022. Courtesy Dittrich & Schlechtriem, Berlin


Von ganz verschiedenen Gefühlen lässt sich Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung beim Betrachten der  Schau "The Bad Mother" im Berliner Haus am Lützowplatz mitreißen. Es geht "nicht um die Apotheose der Mutter im Sinne der sakrosankten Maria, ums ewige Klischee des Beherrschens des alltäglichen Chaos, des Herzzentrums und der Hüterin des Familienglücks. Hier setzt Kunst sich philosophisch und auch herbpoetisch auseinander mit Erwartungshaltungen und dem alltäglichen Balance-Akt zwischen Selbstaufgabe und Selbstbehauptung." Stattdessen lernt sie mit Werken von Louise Bourgeois und Carina Linge "alle schönen und widersprüchlichen Facetten des Mutter-Seins, des Mutter-Jobs kennen, die Freude und der Stress, der Stolz und die Erschöpfung, das Freisein-Wollen und das schlechte Gewissen, der Wunsch, alles perfekt zu schaffen, aber zugleich auch die Unmöglichkeit."

Weitere Artikel: Für monopol führt Laura Ewert ein Interview mit der Schweizer Galeristin Francesca Pia über ihr Leben mit der Kunst.

Besprochen werden die Ausstellungen "Lotte Laserstein. A Divided Life" im Stockholmer Moderna Museet (FAZ), "John Akomfrah. A Space of Empathy" in der Kunsthalle Schirn (SZ) und eine Ausstellung der Fotomontagen von George Grosz im Kleinen Grosz Museum in Berlin (Tsp).
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Film

Den von der FAZ als "Brandbrief" an Claudia Roth bezeichneten Aufruf von Vertretern aus der Filmbranche (unser Resümee), doch endlich die seit geraumer Zeit angekündigten Reformen der Filmförderung (natürlich im eigenen Sinne) auf den Weg zu bringen, findet Rüdiger Suchsland auf Artechock "erstaunlich unambitioniert und übertrieben bescheiden formuliert", auch fehlen ihm unter den Aufrufern Vertreter der Filmkunst. Vor allem aber stößt er sich an der Forderung, dass es in Deutschland weniger Filme geben soll. Diese alte Forderung habe "noch nie wirklich eingeleuchtet. Denn wieso soll der deutsche Film besser werden, weil es weniger deutsche Filme gibt? Da muss ja jeder Schuss erst recht sitzen. Wir fahren in allen möglichen Bereichen - und ich glaube sehr zu Recht - Diversität. Warum wollen wir auf einmal keine Diversität bei den Filmen? Es hat wahrscheinlich niemand etwas dagegen, dass es ein paar weniger schlechte deutsche Filme gibt. Vielmehr geht es darum: Wer entscheidet denn darüber, was ein guter und was ein schlechter Film ist? Und darüber, welche Filme es in Zukunft nicht mehr geben darf? Wenn es nur um die Frage geht, womit Kinobetreiber Geld verdienen können, dann handelt es sich ganz bestimmt nicht um Filme, die bei einem Festival wie Cannes oder Venedig irgendwelche Preise gewinnen."

Weitere Artikel: Der als Soldat im Einsatz befindliche "Fauda"-Star Idan Amedi wurde bei einem Militäreinsatz in Gaza schwer verletzt, meldet Philippe Zweifel im Tages-Anzeiger. Besprochen werden Catherine Breillats "Im letzten Sommer" (critic.de, unsere Kritik), Thomas Cailleys Science-Fiction-Film "Animalia" (ZeitOnline), die Netflix-Serie "Berlin", die ein Spin-Off von "Haus des Geldes" ist (TA), der Actionfilm "The Beekeeper" mit Jason Statham (FR) und Sophie Barthes' Science-Fiction-Film "Baby to Go" über eine Zukunft, in der Männer Kinder austragen (Welt).
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Bühne

Es geht voran mit der Gleichberechtigung in der Klassikszene, versichert Reinhard J. Brembeck in der SZ, allerdings ziemlich langsam, wie ihm die von der Klassikplattform bachtrack.com beauftragte Studie "Klassik-Statistik 2023" zeigt. Komponistinnen und Dirigentinnen sind immer noch in deutlicher Unterzahl, aber es tut sich was: "Das muss man wissen, um zu sehen, wie ungewöhnlich die Meldung ist, dass bei den Bayreuther Festspielen, einem der wenigen von einer Intendantin geführten Opernhäusern, dieses Jahr mit Oksana Lyniv, Nathalie Stutzmann und Simone Young mehr Frauen dirigieren als Männer. Erstmals, natürlich. Simone Young wird als erste Frau in Bayreuth den Vierteiler 'Der Ring des Nibelungen' aufführen, sie ist eine Nachbesetzung für den ursprünglich vorgesehenen Philippe Jordan. Und wie steht es um das, worauf es eigentlich ankommt - die Qualität? In der Frage kann man recht konkret werden. Nächstes Jahr wird wieder wie bisher üblich ein Mann das legendäre Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker dirigieren, der dann 83-jährige Riccardo Muti, zum siebten Mal. (…) In derselben musikalischen Liga spielt Mirga Gražinytė-Tyla. Dass sie nicht besetzt wurde, kann auch damit zu tun haben, dass sie eine 37 Jahre alte Frau ist. Sie wäre ohne Frage das Wagnis wert gewesen."

Weiteres: Florian Balke interviewt Devid Striesow zu der Konzertlesung der "Blechtrommel", die er gemeinsam mit dem Schlagzeuger Stefan Weinzierl im Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt veranstaltet (FAZ).

Besprochen wird: Das Stück "Planet sucht Prinz" des inklusiven Kollektivs Theaterlabor Inc. im Theater Moller Haus in Darmstadt (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Erstmals seit 33 Jahren wird es im Januar in der spanischen Zeitungen El País keine Kolumne mehr von Mario Vargas Llosa geben, schreibt Paul Ingendaay online bei der FAZ: Der Literaturnobelpreisträger zieht sich aus dem Tagesgeschäft zurück, was Ingendaay zum Anlass für einen künstlerischen Nachruf zu Lebzeiten nimmt, zumal der Schriftsteller wohl auch keinen Roman mehr schreiben werde. Hier geht "nicht nur ein furioser Schriftsteller mit dem Ethos eines Schwerarbeiters" aus der Öffentlichkeit, sondern "auch einer der ganz wenigen kosmopolitischen Intellektuellen der Gegenwart." Was ihm als in Peru, dem Land der unzähligen Kartoffelsorten, Geborenen nicht direkt in die Wege gelegt war: "Vargas Llosa musste sich also befreien, und diesen Prozess hat er mehrmals in seinem Leben mit Ehrgeiz und Entschlossenheit wiederholt." Doch "kann man wirklich aufhören, wurde er kürzlich gefragt, Schriftsteller zu sein? 'Nein', lautete seine Antwort, 'man träumt weiterhin Romane, auch wenn man aufhört, sie zu schreiben.' Einen wie ihn, der alles aus seinen Möglichkeiten gemacht hat, der nie ängstlich, opportunistisch oder bequem war und immer den besten Anzug trug, wird es schwerlich wieder geben."

Besprochen werden unter anderem Haruki Murakamis "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" (FR, SZ), Iris Wolffs "Lichtungen" (Tsp), Jörg Herrmanns im Kino gezeigter Porträtfilm "Sonntagskind" über die Schriftstellerin Helga Schubert (taz), Virginia Woolfs Biografie von Roger Fry (Tsp). die deutsche Erstausgabe von Charles Willefords frühem Krimi "Filmriss" aus dem Jahr 1960 (Standard), Michael Maars "Leoparden im Tempel. Portraits großer Schriftsteller" (Standard) und Stefanie Sargnagels "Iowa" (taz)..
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Musik

Michael Ernst ärgert sich in der FAZ, dass die verdienstvollen, auf dem Terrain des früheren Stammlagers VIII A stattfindenden Internationalen Messiaen-Tage in Görlitz ziemlich kurzfristig ins Wasser fallen müssen, weil die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit keine Fördermittel bereit stellt. "Es ist der vehementen Initiative einiger weniger Menschen zu verdanken, dass aus dem einstigen Lager, in dem rund 120.000 Häftlinge festgehalten worden sind, ein Erinnerungsort wurde." Die Entscheidung ist für die "Veranstalter angesichts der aktuellen Situation geradezu fatal, zumal sich Polens Politik gerade wieder Europa öffnet. 'Unser Festival kreist ja nicht nur um Messiaens Quartett und dessen Uraufführung, sondern konzentriert sich auf die Aufarbeitung der Geschichte dieses Gefangenenlagers und somit auf wichtige Aspekte von Nationalsozialismus und Krieg', sagt die Geschäftsführerin Alexandra Grochowski." Die Veranstaltung wird fehlen, "besonders in einer kulturell ohnehin ausgedünnten Region, die freilich mit dem 2020 gegründeten Lausitz-Festival eine teuer subventionierte Arroganz erhielt, die vorhandene Strukturen weitgehend außer Acht lässt."

Sarah Fritz spricht für das VAN-Magazin mit Sheila Haymann über deren Dokumentarfilm "Fanny: The Other Mendelssohn" über die Komponistin Fanny Hensel. Diese "war unglaublich selbstkritisch", ist Haymann bei der Arbeit aufgefallen. "Sie hat sehr hohe Ansprüche an sich selbst gestellt" und "stürzte sich regelrecht auf all das Negative, das Felix über ihre Musik zu sagen hatte. Das ist eine der großen Tragödien ihres Lebens und einer der Gründe, warum sie in so vielen Gattungen jeweils nur ein Stück schrieb. Sie hat ein Streichquartett geschrieben, sie hat ein Klaviertrio geschrieben. Sie hatte diese ziemlich beunruhigende Tendenz: Sobald jemand etwas sagt, was einen doof dastehen lässt und nahelegt, man hätte irgendwas gar nicht erst versuchen sollen, ist es ziemlich schwierig, sich davon nicht abschrecken zu lassen. ...  Wenn man sich ein kreatives Genie vorstellt als jemand Gequältes, eine unsoziale, widerliche Person ohne Manieren und voller Aggression, wie der große Beethoven - dann hat das wenig mit ihr zu tun. Künstler sind dann nicht die, die sich um andere sorgen oder das Abendessen auf den Tisch stellen oder nett zum Partner sind. Und so denkt man: 'Ich habe nicht das Zeug dazu', Frauen haben grundsätzlich nicht das Zeug dazu. Das wurde ihnen immer und immer wieder gesagt."

Außerdem: In der taz erklärt Johann Voigt, wie vielschichtig Deutschrap ist. Lion Grote glaubt im Tagesspiegel nicht, dass Israel vom Eurovision Song Contest ausgeschlossen wird, auch wenn derzeit einige Kampagnen genau dies zu erzwingen versuchen. Esthy Baumann-Rüdiger ärgert sich in der NZZ darüber, wie die New York Times versucht, Taylor Swift als queer zwangszuouten. Egbert Tholl gratuliert in der SZ dem Ensemble Modern zum zwanzigjährigen Bestehen. Besprochen wird außerdem eine neue Aufnahme von Bruckners dritter Sinfonie des Kölner Gürzenich Orchesters unter Francois-Xaver Roth (in dieser "Version dieses gewaltigen Raumkunststücks hängt kein bisschen Weihrauch rum", freut sich Elmar Krekeler in der Welt).
Archiv: Musik