Efeu - Die Kulturrundschau

Selbst diese Müdigkeit hat was Heroisches

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13.01.2024. Die FAZ erkennt in Rom im Werk von Max Peiffer Watenphul den William Turner des Bauhaus. Die taz lässt sich von Maren Wurster erklären, wie man über die eigene Familie schreibt, ohne sie bloßzustellen. Die SZ blickt am Staatstheater in Wiesbaden in ein "tiefes schwarzes Jammertal". Zum deutschen Liedermacher der Stunde kürt sie Tristan Brusch, den sie irgendwo zwischen Kunstliedkünstler und Pophansel verortet. Und der Tagesspiegel fragt sich mit Thomas Cailleys Fantasyfilm "Animalia", wie Zusammenleben nach dem Rücktritt des Menschen funktioniert.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.01.2024 finden Sie hier

Kunst

Bild: Persische Landschaft, Paesaggio persiano, 1966, Foto: Antonio Idini

Wie ein Wiedergänger von William Turner erscheint dem FAZ-Kritiker Stefan Trinks der deutsche Maler Max Peiffer Watenphul, dem die Casa di Goethe in Rom derzeit eine exzellente Schau widmet. Dabei war der Maler vor allem von seinen Bauhaus-Lehrern Paul Klee, Lionel Feininger, Oskar Schlemmer und Wassily Kandinsky beeinflusst: "Sein Gemälde 'Auf dem Kapitol' (…) ist beredter Ausdruck dafür: Der kapitolinische Rossebändiger blickt vom linken Rand in die Stadt, der Marmor leuchtet in der gewittrigen Stimmung unnatürlich auf, der Himmel birst fast vor rotierenden Sonnen, Sternen und kleehaften Ritzungen der Oberfläche. Und trotzdem möchte man genau in dieser energetisch-knisternden Luft auf Michelangelos Kapitol stehen, man kriecht geradezu in das Bild hinein, um dabei zu sein. Die persischen Landschaften von Goethes West-Östlichem Divan wiederum versetzt er 1966 an den Vesuv, flutet den Golf von Neapel mit Purpur und die Berge und weißen Kubushäuschen mit Konturen in Rosétönen."

Auf den Bilder und Zeiten-Seiten der FAZ unterhält sich Astrid Kaminski mit Kerstin Ehmer, die eine Biografie über die britische Bildhauerin Kathleen Scott verfasst hat.

Besprochen wird die Ausstellung "Frida Kahlo. Ihre Fotografien" in den Opelvillen Rüsselsheim (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Jolinde Hüchtker erkundigt sich für die taz im Literaturbetrieb, wie es gelingen kann, über die eigene Familie zu schreiben, ohne Angehörige bloßzustellen. Einige immerhin können um Erlaubnis fragen, anderen fehlt diese Möglichkeit, sogar wenn etwa die Eltern noch leben: "Die Mutter der Autorin Maren Wurster ist schwer dement, sie versteht nicht mehr, worum es in dem Buch ihrer Tochter geht. 'Papa stirbt, Mama auch' heißt es, ein Porträt der erkrankten Eltern, das die Sorgearbeit in den letzten Wochen und Jahren eines Menschenlebens sichtbar macht - explizit, aber würdevoll, eine Gratwanderung. Die Schriftstellerin lässt bis heute die Frage nicht los, ob sie das alles aufschreiben durfte." Autofiktion "ist oft Literatur, die meint, etwas erzählen zu müssen, das über einen selbst hinausgeht, etwas wie Klasse, Frausein, Migration oder Sterben. Wann es Schonungslosigkeit braucht, um dieser Dringlichkeit gerecht zu werden, welches Detail ein notwendiges Bekenntnis ist und welches vor dem öffentlichen Blick verborgen bleiben soll, damit hadern auch Schriftsteller. Also dichten einige etwas hinzu oder lassen etwas weg, um rücksichtsvoll zu sein, aber gleichzeitig das tun zu können, was Sylvie Schenk nennt: 'Maman aus dem Nichts retten.'"

Für Aufsehen sorgt derzeit eine Online-Initiative namens "Strike Germany", die deutsche Kulturinstitutionen dafür abstrafen will, wenn sie bei der Palästina-Solidarität nicht eifrig genug waren. Über 600 Künstler haben den Aufruf bereits unterschrieben und sich damit dazu verpflichtet, mit keinen staatlich finanzierten deutschen Kultureinrichtungen mehr zusammenzuarbeiten. "Der prominenteste Name ist Annie Ernaux, französische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin", merkt Claudius Seidl in der FAZ an. "Ihr deutscher Verlag, Suhrkamp, bestätigt, dass sie unterschrieben hat. Ein großer Schock ist es aber nicht. Aus ihrer Sympathie für die Boykottbewegung BDS hat Annie Ernaux nie ein Geheimnis gemacht. ... Ernaux, sagt der Verlag, möchte die Veröffentlichung und Inszenierung ihrer Texte nicht boykottieren."

Außerdem: Reimar Paul spricht für die taz mit Pastor Martin Weskott, der einst zahlreiche Bücher auf ostdeutschen Müllkippen gerettet hat und jetzt eine alternative Literaturgeschichte der DDR schreibt. Dazu passend befasst sich Alexa Hennings im Literatur-Feature für Dlf Kultur mit dem "Archiv unterdrückter Literatur in der DDR" in Berlin. Dirk Knipphals wirft für die taz einen kurzen Blick auf den Shitstorm, der über Andrea Paluch - der Ehefrau von Robert Habeck - für deren Kinderbuch "Die besten Weltuntergänge" ausgekübelt wird. Im FAZ-Gespräch mit Jan Wiele erzählt der Schriftsteller Jan Faktor unter anderem von seiner Zeit als Gebirgsträger in der slowakischen Tatra, wie er sich in der Ostberliner Literaturszene in den Achtzigern tummelte und schließlich Deutsch als eigene Literatursprache für sich entdeckte. Katharina Bracher und Michael Schilliger sprechen für die NZZ mit der britischen SF-Autorin Naomi Alderman über Weltuntergänge, Überlebensfragen und den Zweifel an der romantischen Liebe. Der Schriftsteller Urs Mannhart schwärmt in der NZZ von der Zufriedenheit, die er in sein Leben mitnimmt, wenn er zwei Tage die Woche auf einem Bauernhof als Landwirt arbeitet.

Besprochen werden unter anderem Haruki Murakamis "Die Stadt und ihre ungewissen Mauern" (Zeit, FR, WamS), neue Comicveröffentlichungen zu den 100. Geburtstagen der Comiczeichner Morris und André Franquin (taz), Qiu Miaojins "Letzte Worte vom Montmartre" (taz) und Iris Wolffs "Lichtungen" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Überrascht mit Koexistenz-.Fantasie: "Animalia"

In Thomas Cailleys Fantasyfilm "Animalia" wachsen Menschen plötzlich tierische Gliedmaßen und entmenschlichen zusehends. "Der Film beginnt als Bodyhorror-Fantasie über monströse Mutationen und apokalyptische Bedrohungen, ganz klassisch in der (hier: südwestfranzösischen) Provinz angelegt", schreibt Jan Künemund im Tagesspiegel. "Und mit einer aufregenden Reihung von Schockbildern: ein verwachsenes Gesicht am Bildrand, aus dem eine Eidechsenzunge fährt, eine flüchtende Gestalt im Supermarkt mit Tentakeln, ein vom Blitz erleuchtetes Wesen mit Fischaugen und Kiemen." Aber "was 'Animalia' aus diesem genrespezifischen Unordnungen entwickelt, ist alles andere als schematisch durchgeführt und vorhersehbar." Denn der Film entwerfe "auf berührende Weise eine überraschende Koexistenz-Fantasie mit komplexen Trugbildern und stellt auf sanfte Weise neue, radikale Fragen über das Zusammenleben nach dem Rücktritt des Menschen."

Dietmar Dath und Maria Wiesner legen den Westdeutschen in "Bilder und Zeiten" (FAZ) nahe, sich mal mit dem DDR-Schauspieler Horst Drinda zu beschäftigen, der in den alten Bundesländern so gut wie unbekannt ist. Mitunter war er auf in sich ruhende Figuren spezialisiert, die alles in wenige Worte legen: "Einmal sitzt Drinda, erschöpft vom Büffeln, am Radio, und da wird ein Lied geträllert: 'Schön ist unsere Welt', danach lallte ein Denker einen Vortrag vom modernen Menschen, und Drinda fasst seufzend zusammen, diese schöne Welt, mitsamt dem modernen Menschen, könne ihn 'am Arsch lecken'. Selbst diese Müdigkeit hat was Heroisches, denn sie jammert nicht, sie raunzt höchstens ein bisschen, weil sie bald aufstehen muss und weiterkämpfen. Selten sieht man Drinda in Film und Fernsehen wütend oder aufbrausend; wenn er laut wird, geht's trotzdem noch nuanciert zu."

Außerdem: Im Filmdienst widmet sich Sebastian Seidler den Filmen des griechischen Autorenfilmers Yorgos Lanthimos, dessen "Frankenstein"-Variante "Poor Things" kommende Woche anläuft. Caroline Schluge wirft für den Standard einen Blick darauf, warum gerade die junge TikTok-Generation auf die Ekelszenen in Emerald Fennells viralem Streaminghit "Saltburn" anspringt. Valerie Dirk unternimmt für den Standard einen Streifzug durchs Thema "künstliche Reproduktion im Film". Hanns-Georg Rodek erzählt in der WamS von seiner Begegnung mit Hannah Herzsprung, deren neuer (in der FAZ besprochener) Film "15 Jahre" gerade in den Kinos angelaufen ist.

Besprochen werden Catherine Breillats Erotikdrama "Im letzten Sommer" (Tsp, Welt, online nachgereicht von der FAZ, mehr dazu hier), J. A. Bayonas "Die Schneegesellschaft" (Presse) und der Actionfilm "The Beekeeper" mit Jason Statham (Standard).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus "Diderot in Petersburg". Foto: Philip Frowein

Das Theaterkollektiv 'bruch' hat Leopold von Sacher-Masochs Novelle "Diderot in Petersburg" auf die Bühne des Zürcher Theaters am Neumarkt gebracht, verpackt als Operette, garniert mit Erotik, Satire und Kolonialismus-Kritik. Ein bisschen "zu viel des Guten", stöhnt Nachtkritiker Leonard Haverkamp, nicht nur, wenn die russische Zarin Katharina II mit Dreadlocks auftritt: "Trotz einiger kluger Lacher über die Einfalt der Ideologen gerät man beim Zuschauen ins Schlingern. Die Auseinandersetzung mit den aufgebrachten Themen verliert sich in den Kuriositäten der Lust-Operette, aus der Operette haben 'bruch'- vor allem die Dramaturgie importiert. Musikalisch geht die Bandbreite von Barry White und Synthiepop über französische Klassik bis zu russischem Hardstyle (Komposition: Stanislav Iordanov), mal singen die Darstellenden (mit), mal strippen sie dazu. Zu schnell wechseln Deutlichkeit und Ironie, die jede*n belächelt, der oder die auch nur einen der vorgetragenen Gedanken ernst nimmt." Ein bisschen langweilig, aber alles in allem doch unterhaltsam, urteilt Ueli Bernays in der NZZ.

Hinter den Kulissen des Staatstheaters Wiesbaden blickt Nils Minkmar in ein "tiefes schwarzes Jammertal", wie er in der SZ schreibt: "Der Geschäftsführer Holger von Berg und der Intendant Uwe Eric Laufenberg sind einander in herzlicher Feindschaft zugetan. Nun aber eskaliert die Situation: Intendant Laufenberg hat angekündigt, Proben und Aufführungen ausfallen zu lassen, weil sein Theater aufgrund der Erkrankung des Geschäftsführers von Berg 'handlungsunfähig' sei." Eine scharfe Antwort der für das öffentliche Haus zuständigen Personen in Stadt und Land, der grünen Staatssekretärin Ayse Asar und des Wiesbadener Kulturdezernenten Hendrik Schmehl von der SPD, ließ nicht lange auf sich warten, sie drohten mit "arbeitsrechtliche Konsequenzen und Regressforderungen", sollte dem Theater Schaden entstehen, so Minkmar weiter. Laufenberg warf der Politik in Folge "Rechtsbruch" vor. In Wiesbaden wartet man derweil sehnsüchtig auf das Ende seiner Intendanz im Sommer, weiß Minkmar.

Weitere Artikel: Für die Welt hat Jakob Hayner einen Neuköllner Deutsch-LK mit Schülern, "alle mit Migrations-, aber ohne Bildungsbürgerhintergrund", in Ersan Mondtags "Woyzeck"-Inszenierung am Berliner Ensemble begleitet, um zu erfahren, was Büchner der heutigen Einwanderungsgesellschaft noch zu sagen hat.

Besprochen wird das Stück "The Top Five Letters of Liaisons Dangereuses" von Showcase Beat Le Mot im Berliner Hebbel am Ufer (nachtkritik, Tsp), Bernadette Sonnenbichlers Inszenierung von Henrik Ibsens "Peer Gynt" am Düsseldorfer Schauspielhaus (nachtkritik), David Böschs Inszenierung "Schwabgasse 94" am Schauspielhaus Graz (nachtkritik), Alexander Müller-Elmaus Inszenierung von Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" am am WLB in Esslingen (nachtkritik) und Ebru Tartıcı Borchers' Inszenierung von Zülfü Livanelis "Serenade für Nadja" am Theater Oberhausen (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Architektur

In der SZ möchte Gerhard Matzig beim Anblick der neuen Fassade des früheren Hotel Königshof am Stachus in München in Tränen ausbrechen. Denn diese von dem Büro von Nieto Sobejano Arquitectos geschaffene "Ausrufezeichen-Architekur" hat ein Problem: "Dass sie nämlich lieber ein Ausrufezeichen als ein einladendes Hotel sein will. Und was sie schon gar nicht sein will: ein Teil der Stadt. (…) Die Fassade wirkt wie ein zerklüftetes Kletterparadies. Ob die Loggien, Balkone, Terrassen oder wie immer man den Restraum geschachtelter Architektur nennen will, innen Qualitäten jenseits des visuellen Spektakels außen bieten, darf bezweifelt werden. Außen aber wird die Fuge, die mit der Kunst der Fuge kaum etwas zu tun hat, zur Aggro-Geste. Zur Pose, eigentlich aber zur Posse. Der Rest dieser eigenständigen Architektur ist so banal und uneigenständig wie überall sonst auf der Welt des Immobilienzeitalters, das vom Marketing der Sprachhülsen statt von architektonischen, gar stadträumlichen Ideen, Fassaden- und Raumqualitäten gekennzeichnet ist: bodentiefe, ebenengleiche Verglasungen, die auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Lochfassade eine simple Lochfassade ist."
Archiv: Architektur

Musik

Joachim Hentschel staunt im SZ-Porträt über den Erfolg von Tristan Brusch, "neuerdings der deutscher Singer-Songwriter der Stunde", der so gar nicht "aus dem sagenumwobenen Popstarmaterial gemacht ist", sondern "eher mit der Haltung des Liedermachers auftritt, mit Theaterhauptdarsteller-Frisur, mit lyrisch hohem Ton." Denn "keiner schafft es derzeit so wie er, die Gegensätze Kunstliedkünstler und Pophansel zusammenzubringen. ... Er singt mit dem Timbre, der Geste und Verbindlichkeit des Chansonniers. Nimmt dabei abwechselnd Schweinkram und lyrischen Katzenflausch in den Mund, schreibt große Melodien und lässt die Arrangements teilweise wie Soundtracks schimmern und teils rumpeln, als würde Tom Waits samstagsmittags den Keller putzen."



Weitere Artikel: Völlig bodenlos finden es Jakob Biazza und Laura Hertreiter in der SZ, wie die New York Times mit Spekulationen Taylor Swift zu einem Coming-Out als lesbisch oder wenigstens bi-sexuell zwingen will: "Es sind Zeilen, die sich gnadenlos hineinschrauben ins Intimleben" des Popstars. Die Berliner Zeitung bringt als Vorabdruck Harry Nutts Beitrag zu einem Sammelband zum Thema kulturelle Aneignung, in dem dieser auf die Geschichte von Blue Note Records schaut. Martin Scholz spricht für die WamS mit dem klassischen Gitarristen Miloš Karadaglić.

Besprochen werden ein Dutilleux- und Bartók-Abend mit den Berliner Philharmonikern unter Kirill Petrenko (Tsp), ein Konzert der Sopranistin Fatma Said in Wien (Standard) und neue Alben von Ghost Woman und The Vaccines (FR).
Archiv: Musik