Efeu - Die Kulturrundschau

Diskursiv inhalierter Ernst

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.01.2024. Die FAZ braucht gute Ohren und starke Nerven in Claudia Bossards Münchner Adaption von Thomas Manns "Zauberberg". Außerdem bewundert sie die neuen Synagogen in Dessau und Potsdam. SZ und Nachtkritik lassen sich von Stefan Kaegi daran erinnern, Taiwan nicht zu vergessen. Artechock schöpft beim Filmfestival Max Ophüls dank Bastian Gascho wieder Hoffnung für den deutschen Film. taz und Tagesspiegel fürchten mit dem Ende von pitchfork um die Zukunft des Musikjournalismus. Die Zeitungen trauern um den Künstler Carl Andre.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.01.2024 finden Sie hier

Musik

Mit seinem neuen, im Quintett und in nur einem Take aufgenommenen Album "Spiritual Healing: Bwa Kayiman Freedom Suite" setzt sich der kanadische Jazz-Saxofonist Jowee Omicil mit dem Beginn der Haitianischen Revolution um 1800 auseinander, schreibt Sven Beckstette in der taz. Trotz seines historischen Bezugs "vermeidet Omicil jedes heroische Pathos. Das Spiel seiner Blasinstrumente erinnert eher an einen vielstimmigen Dialog. Mal scheinen die Töne hell zu singen und zu tanzen, dann wiederum zu grübeln und zu fragen, in 'Lament 4 Ayiti' wiederum betet Omicil mit seinem Saxofon wie einst John Coltrane auf seinem Meisterwerk 'A Love Supreme' (1964). ... Es ist Musik, die sich nur durch konzentriertes Hören erfahren lässt. Erst dann offenbart sie ihre volle Wirkung. Wie der Glanz der Sterne, deren Leuchtkraft uns Lichtjahre später als leuchtende Punkte am Nachthimmel erreicht, gelingt es Omicil, die Geschichte der Befreiung von einem fernen Ereignis aus der Vergangenheit in ein musikalisches Glimmen und Pulsieren zu transzendieren."



Mit dem Ende von Pitchfork (das lange Zeit maßgebliche Onlinemagazin für Popmusik geht nach dem Willen des Eigentümers Condé Nast ausgerechnet im Männermagazin GQ auf, verbunden mit zahlreichen Kündigungen) "setzt sich der traurige Trend des Dahinschwindens des kritischen Popjournalismus fort", seufzt Nadine Lange im Tagesspiegel. "Da die Fachmedien aussterben, muss sich die Popkritik in Mainstream-Medien einen Platz suchen. Doch dort können sich in der täglichen Flut von Politik,- Sport- und Wirtschaftsmeldungen nur die großen Namen behaupten. Experimentelle Bands und schräge Sängerinnen werden es noch schwerer haben, Gehör zu finden." Johann Voigt findet in der taz allerdings auch: "Obwohl Condé Nast in dieser Geschichte das ultimative Böse darstellt, weil es das immer queerer und weiblicher werdende Biotop in ein Medium eingliedert, das für eine eher konservative Männlichkeit steht, hätte Pitchfork ohne den großen Geldgeber womöglich gar nicht den Journalismus liefern können, für den es in den letzten Jahren auch stand. Einen Journalismus, der sich nicht nur mit der Exegese von Musik selbst, sondern in Essays und Recherchen auch mit den Machtstrukturen drumherum auseinandersetzte. ... Andererseits: Ein launiger Essay über die unsichtbare Arbeit von Müttern im Pop-Betrieb, wie ihn die Autorin Allison Hussey im letzten Jahr für Pitchfork schrieb, ist bei GQ undenkbar."

Außerdem: Leon Holly resümiert in der taz einen Solidaritätsabend im Berliner Club about:blank mit dem israelischen Geiseln in Gaza. Frederik Hanssen erklärt im Tagesspiegel, wie man Orchestermusiker wird. In der SZ gratuliert Alexander Gorkow dem Pink-Floyd-Drummer Nick Mason zum 80. Geburtstag. In der FR gratuliert Stefan Michalzik dem Jazzmusiker Bob Degen zum 80. Geburtstag. Nachrufe auf die Folkmusikerin Melanie Safka schreiben Edo Reents (FAZ) und Willi Winkler (SZ).

Besprochen werden ein neues Album von Thom Yorkes und Jonny Greenwoods Nebenprojekt The Smile (Standard), ein Berliner Konzert des Countertenors Philippe Jaroussky mit dem Gitarristen Thibaut Garcia (Tsp), ein von Philippe Jordan dirigiertes Konzert des Zürcher Tonhalle-Orchesters (NZZ), das Debütalbum der österreichischen Indierockband Endless Wellness (Standard) und das von Thesen der Philosophin Donna J. Haraway inspirierte Album "Chthuluzän" des Wiener Trios Zinn (Standard).

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Literatur

Die Welt hat Marc Reichweins Bericht von seinem Besuch in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig online nachgereicht. In seiner Reihe über Prousts "Recherche" für den Tagesspiegel schreibt Gerrit Bartels diesmal über das Verhältnis des Erzählers zu den Kompositionen von Vinteuil. Besprochen werden unter anderem Heinz Budes Essay "Abschied von den Boomern" (SZ) und eine Briefauswahl von Roland Barthes (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur
Stichwörter: Bude, Heinz

Film

Die Zukunft des deutschen Film liegt in der Lust am Intellektuellen: "Wo keine Götter sind, walten Gespenster" von Bastian Gascho (dffb)

"Hier ist sie noch, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft des deutschen Films", freut sich Rüdiger Suchsland auf Artechock nach dem Besuch des Filmfestivals Max Ophüls Preis in Saarbrücken. "Wo keine Götter sind, walten Gespenster" des dffb-Absolventen Bastian Gascho etwa entpuppte sich als echte Entdeckung, bis oben hin vollgepackt mit Referenzen für Filmkenner: "Man muss es sehen, denn alles Erzählen kratzt hier nur an der Oberfläche", der Film "ist erkennbar von Godard, Lemke und Thome, aber auch von der Berliner Volksbühne und von Max Linz und Julian Radlmaier beeinflusst. ... Allerdings ist dieser Film besser als Radlmaiers letzte Filme, und auch wenn hier kaum je eine Figur lacht (oder genau darum?), humorvoller. Kamera und Schnitt sind fehlerlos, Kostüme, Ausstattung, Musik sind in Auswahl und Einsatz exzellent, am meisten bewundern muss man aber das Buch und die Regie des Ensembles, bei dem keiner abfällt. ... Ein großartiger Film, genau das, was das deutsche Kino so dringend braucht: Leichtigkeit, Lust und Spielfreude, auch Lust am Intellektuellen, ohne dass es in deutsche Schwere und Schwerblütigkeit mündet." In der ARD-Mediathek gibt es ein viertelstündiges Filmgespräch.

Außerdem: Die deutsche Produzentenallianz fordert laut Verdi empfindliche Honorarsenkungen und die Möglichkeit, zusätzlich kostensenkend KI einsetzen zu können, berichtet Rüdiger Suchsland auf Artechock. Für Artechock sprach Thomas Willmann mit dem Schauspieler Paul Giamatti, der aktuell in Alexander Paynes "The Holdovers" (besprochen in Tagesspiegel und bei uns) zu sehen ist. Andreas Scheiner resümiert in der NZZ das Schweizer Filmangebot der Solothurner Filmtage.

Besprochen werden Isa Willingers Dokumentarfilm "Plastic Fiction" (FAZ), die von Steven Spielberg und Tom Hanks mitproduzierte Apple-Serie "Masters of the Air" (Tsp), Hirokazu Kore-edas "Die Unschuld", der bei uns erst Ende März anläuft (TA, NZZ), die Paramount-Serie "Sexy Beast" (FAZ) und eine Musicalneufilmung von "Mean Girls" (Tsp, Standard). Und hier der Überblick mit den aktuellen Kritiken von Artechock.
Archiv: Film

Bühne

Das ist keine Botschaft (Made in Taiwan). Bild: Claudia Ndebele.

"Die Bühne wird zum Politikum", konstatiert SZ-Kritiker Peter Laudenbach angesichts des Theaterabends "Das ist keine Botschaft (Made in Taiwan)" im Haus der Berliner Festspiele: "Der Regisseur Stefan Kaegi hat das Stück mit seinen Protagonisten entwickelt, die sich auf der Bühne selbst spielen. Geprobt wurde die internationale Koproduktion vor Ort in Taiwan, im Nationaltheater Taipeh. Der Titel der Inszenierung ist natürlich eine ironische Falle und mindestens doppelbödig: 'Das ist keine Botschaft (Made in Taiwan)'. Denn natürlich soll die Inszenierung genau das sein, eine Botschaft an den Rest der Welt, den kleinen Inselstaat vor der chinesischen Küste nicht zu vergessen. Aber die Aufführung ist gleichzeitig auch die temporäre Simulation einer staatlichen Institution, die Theatervariante einer diplomatischen Vertretung, wenn Taiwan zum Beispiel in Berlin schon keine Botschaft, sondern nur eine Ständige Repräsentanz unterhalten darf."

Eine Interpretation, der sich auch nachtkritiker Michael Wolf anschließt, allerdings weniger überzeugt: Der Abend kompensiere "die offizielle diplomatischen Vertretung mit der unmittelbaren Begegnung. Persönlich und politisch ist das folgerichtig, ästhetisch aber enttäuscht es. Ausgerechnet Stefan Kaegi lässt seine Protagonisten jene Eigenheit des Theaters beschwören, die auch Bühnenvereins-Funktionären regelmäßig das Herz erwärmt: das Hier und Jetzt, die Kopräsenz aller Beteiligten. Schade! Arbeiten der Rimini-Protokoll-Mitglieder sind meist auch kleine Fluchten aus der Konvention, sind Entwürfe dessen, was Theater noch sein könnte. Hier jedoch fällt diese Neuentdeckung aus, hier begnügt sich die Kunst damit, das zu sein, was sie angeblich schon immer war."

Mit gemischten Gefühlen kommt FAZ-Kritikerin Teresa Grenzmann aus Claudia Bossards Inszenierung von Thomas Manns "Zauberberg" am Münchner Volkstheater: "Ein Bildungsroman? Ein Anti-Bildungsroman? Darüber scheiden sich nicht nur die Geister - auch Claudia Bossard und ihr Dramaturg Leon Frisch vermögen sich nicht zu entscheiden zwischen einem tief diskursiv inhalierten Ernst aus Geist und Materie, Menschsein und Kranksein, Intellekt und Affekt, Leben, Lieben oder Tod und einem eher flach geatmeten, pointenreichen Spaß". Das geht nicht immer ganz reibungslos auf, erfahren wir: "Gleichzeitigkeit ist Programm in dieser Inszenierung. (…) Wahlweise gute Ohren oder starke Nerven braucht das Publikum etwa in der 'Walpurgisnacht': Während auf der Hinterbühne der Faschingsrave tobt, kann Liv Stapelfeldts Madame Chauchat, die hier völlig unbeeindruckt von der Männerwelt ihr Ding durchzieht, vorn mit dem spröden Hamburger Gast anbandeln."

Besprochen werden außerdem die szenische Lesung "Schreiben über die Situation" über das Danach des Hamas-Massakers an den Münchner Kammerspielen (taz), die von Milo Rau inszenierte Oper "Justice" im Grand Théâtre de Genève (Welt) und die sehr freie Neuinterpretation von Goethes "Torquato Tasso" im Wiener Theater Bronski & Grünberg (Standard).
Archiv: Bühne

Architektur

Computerentwurf der neuen Synagoge in Potsdam. Bild: Haberland Architekten.

In Dessau und Potsdam sind zwei neue Synagogen gebaut worden. Das Ergebnis ist "gediegen", meint Ulf Meyer in der FAZ. Potsdam hatte seit 1938 keine Synagoge mehr, erfahren wir: "Aus intimer Kenntnis der jüdischen Liturgie konnte der Architekt Jost Haberland aus Berlin nicht schöpfen. Stattdessen bezieht sich sein Entwurf auf die Backstein-Tradition der ehemaligen preußischen Kapitale. ... Ein perforiertes 'Strickmauerwerk' lässt Blicke von der Straße in den Andachtsraum zu: Eine ungewöhnliche visuelle Offenheit für eine Gemeinde, die sich stets und derzeit wieder ganz besonders bedroht sieht." In Dessau hat Alfred Jacoby seinen Bau hingegen aus der Liturgie abgeleitet, mit einer Bima "als Mittelpunkt des Baus".
Archiv: Architektur
Stichwörter: Synagoge, Synagogenbauten

Kunst

Der Minimal Art-Künstler Carl Andre ist im Alter von 88 Jahren in New York gestorben. Seine Kunst "hatte sich auf radikale Art dem Minimalismus verschrieben: Er arbeitete meist mit einer limitierten Anzahl von Materialien wie Metallen, Ziegeln, Granit oder Holz und ordnete sein Material so schlicht an, dass es an Steinhaufen erinnerte", erinnert der Spiegel. Seine Karriere war allerdings auch von schwerwiegenden Vorwürfen überschattet: Es hieß, "er sei am Tod seiner damaligen Frau, der kubanisch-amerikanischen Künstlerin Ana Mendieta, beteiligt gewesen. Sie war im Alter von 36 Jahren aus dem Fenster der gemeinsamen New Yorker Wohnung im 34. Stock gestürzt. 1985 wurde Andre verhaftet und wegen des Todes von Mendieta angeklagt." Die Vorwürfe blieben allerdings unbewiesen.

Ingeborg Ruthe setzt sich in ihrem Nachruf in der Berliner Zeitung mit den Gefühlen auseinander, die Andres Kunst bei ihr ausgelöste: "Andre beschäftigte der 'Schnitt im Raum' und die raumgreifende Anordnung von Linien, Reliefs und Flächen. Bis ins hohe Alter ging es ihm um sinnliche Wahrnehmung von verschiedenen Standorten aus. Wer so ein Platten-Feld betritt, die Materialien unter den Füßen spürt, die Klänge und Töne beim Betreten hört und die Veränderungen des Lichts auf den Materialien durch seinen eigenen Schatten sehen kann, weiß, wie sehr Kunst auch herausfordert." In der Welt schreibt Gesine Borchert: "Mit den einzelnen Elementen, die er zu geometrischen Formen kombinierte, orientierte sich Andre stets am menschlichen Maß. Das macht seine Skulpturen nahbar und regelrecht sinnlich."
Archiv: Kunst
Stichwörter: Andre, Carl