Efeu - Die Kulturrundschau

Nicht-Verstehen zulassen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.02.2024. Die Filmkritiker applaudieren Andrew Haigh, der sie in "All of Us Strangers" erleben lässt, wie sich ein Coming-out in den Achtzigern anfühlte. Der Tagesspiegel fragt sich, warum Politiker überhaupt Berlinale-Freikarten von Steuergeldern erhalten müssen. In Kuba wurde Tania Bruguera wegen ihrer öffentlichen Hannah-Arendt-Lesung vor zehn Jahren inhaftiert - nun liest sie im Hamburger Bahnhof und warnt vor kubanischen Verhältnissen in Deutschland, berichtet die Berliner Zeitung. Die FAZ wüsste von Hermann Parzinger gerne, weshalb der SPK-Präsident Bilder aus der Sammlung Marx zurückgibt und es verschweigt. Und in der Zeit hat Fabian Hinrichs die Nase voll von Funktionärskultur.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.02.2024 finden Sie hier

Film

Gefühle bestimmen jede Szene: "All of Us Strangers"

Die Filmkritik ist begeistert von Andrew Haighs "All of Us Strangers", in dem ein schwuler Mann mittels eines Zeit-Limbos in die Achtziger gerät, sodass er nicht nur alten Lieben, sondern auch seinen Eltern begegnet, denen er sich nie offenbaren konnte. Der Regisseur "ist klug genug, auf jede Erklärung zu verzichten", schreibt Stefanie Diekmann im Perlentaucher. "Was geschieht, geschieht, und dass es geschehen darf, ist ein Glück, so groß und unwahrscheinlich, dass nicht viel mehr übrigbleibt, als es anzunehmen. Der Score ist laut und ziemlich drüber. Der Cast auf beiläufige Weise sehr gut. Die Zeit, die irgendwann zu Beginn aus den Fugen gerät, wird sich bis zum Ende nicht geordnet haben, und es erzählt viel über diesen wunderbaren Film, dass das nicht einmal besonders auffällt." Für FR-Kritiker Daniel Kothenschulte ist dies "vielleicht einfach einer der schönsten und traurigsten Filme über Liebe und Verlust. ... Für die heterosexuelle Welt sind die Achtzigerjahre die ikonische Zeit des Teenagerfilms. Was Andrew Haigh hier mit den Mitteln des Kammerspiels, ohne Ausstattungstricks und an nur zwei Schauplätzen erreicht, ist ein bezwingender Gegenentwurf: Wie musste sich ein Zwölfjähriger fühlen, der in dieser von HIV geprägten Zeit seine Homosexualität entdeckt? Es wird nicht viel darüber gesprochen in diesem wunderbaren Minimalismus, aber Gefühle bestimmen jede Szene." Weitere Besprechungen in taz und SZ (online gestellt vom Tagesanzeiger).

Es ist eben keine Farce, wenn sich Kritik daran regt, wenn AfD-Politiker bei der Berlinale-Eröffnung über den Roten Teppich laufen, kommentiert Andreas Busche im Tagesspiegel als Antwort auf Peter Laudenbach in der SZ (unser Resümee). Es gebe überhaupt keinen Grund dafür, die Politik nach Gießkannenprinzip mit Freikarten zu hofieren, findet er: "Klar, Bund und Land unterstützen die Berlinale finanziell; finanziert wird das aber mit Steuergeldern, nicht mit Parteispenden. Dass Politikern (aller Parteien!) Karten für die Berlinale zustehen, hat mit der, so Roth, 'demokratischen Praxis' erst mal sehr wenig zu tun. Der ehemalige Festivalchef Dieter Kosslick reagierte auf die Zumutung der AfD schon 2019 auf seine ganz eigene Weise: Er bot Vertretern der Partei Freikarten für den Dokumentarfilm 'Das Geheimarchiv im Warschauer Ghetto', gewissermaßen als Akt der politischen Bildung." Auch Rüdiger Suchsland auf Artechock meint: "Es geht darum, ob und wie wir uns einer existentiellen Herausforderung stellen. Ob die Rede von der 'wehrhaften Demokratie' eine blöde Phrase ist, oder Substanz hat. ... Meine Position gegenüber dieser Partei ist: Tabus errichten, rote Linien ziehen, ausgrenzen."

In der Zeit erinnert Moritz von Uslar an den letzte Woche verstorbenen Schauspieler Carl Weathers, oder besser gesagt: an seine berühmteste Rolle, den charismatischen Boxer Apollo Creed in Sylvester Stallones "Rocky"-Filmen, oder noch besser gesagt: an "Rocky IV", in dem Creed unter den wuchtigen Schlägen des Russen Ivan Drago zu Tode kam. "Es waren die Achtzigerjahre, die Zeiten, in denen ein Film von brutal schlichter Handlung - Osten fordert Westen zum finalen Kampf auf, Westen gewinnt und verzeiht, alle jubeln - gleichzeitig ein Drecksfilm und riesengroßes Kino sein konnte. ... Es ist, auch nach 39 Jahren, nicht möglich, Rocky IV ohne schweißnasse Hände anzugucken. Carl Weathers' Tanz mit Stars-and-Stripes-Zylinder zu James Browns 'Living in America' ist eine ewige Botschaft von Pop, Glanz und Gayness - und die ultimative freudige Verhöhnung jedes hässlichen Aggressors. Noch einmal wird uns ein wunderbar schlechter Film nicht retten." Wie James Brown und Carl Weathers den russischen Hünen umtanzen, muss man wirklich gesehen haben:



Außerdem: Elon Musk unterstützt die Schauspielerin Gina Carano bei ihrer Klage gegen Disney, die aus der Serie "The Mandalorian" geflogen ist, nachdem sie auf Twitter die Lage der Republikaner in den USA mit der Lage der Juden in Nazi-Deutschland gleichgesetzt hat, meldet David Steinitz in der SZ. Besprochen werden Trân Anh Hùngs "Geliebte Köchin" (Perlentaucher, Freitag), Blitz Bazawules Neuverfilmung von Alice Walkers Roman "Die Farbe Lila" als Musical (FR, Welt), Tina Satters Whistleblower-Drama "Reality" (taz, critic.de, Tsp), Will Glucks RomCom "Wo die Lüge hinfällt" (Presse), und Bryce McGuires Horrorfilm "Night Swim" mit einem Swimming Pool als Killer (FD, SZ). Hier außerdem der Überblick mit allen Kritiken des Filmdiensts zur aktuellen Kinowoche, sowie hier die aktuellen Kritiken von Artechock.
Archiv: Film

Kunst

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Seit gestern Abend liest die kubanische Aktivistin und Künstlerin Tania Bruguera abwechselnd mit anderen Lesenden im Hamburger Bahnhof hundert Stunden lang aus Hannah Arendts "Element und Ursprünge totalitärer Herrschaft", berichtet Birgit Rieger im Tagesspiegel: "Ihr Ziel ist es, einen politischen Raum mittels Kunst herzustellen. Vielleicht jene Polis, die Hannah Arendt in ihren Schriften so leidenschaftlich verteidigte, ein öffentlicher Raum, in dem es weder Herrscher noch Beherrschte gibt und ein freies Spiel der Meinungen möglich ist." Vor zehn Jahren wurde sie wegen der Performance in Kuba inhaftiert, erinnert Peter Neumann, der sich für die Zeit mit Bruguera getroffen hat: "'Für einige Linke mag Kuba immer noch ein sozialistisches Paradies sein. Aber dem ist nicht so.' Tania Bruguera wird unter Hausarrest gestellt und von der Biennale in Havanna 2015 ausgeschlossen. Sie ist jetzt ganz offiziell ins Visier der kubanischen Staatsgewalt geraten. Anonyme Kräfte, die sich vorher unsichtbar im Hintergrund hielten, laden sie vor. Sie wird verhört. ... Inzwischen könne sie fast darüber lachen, sagt sie. Aber nur fast. Was sieht man, wenn man der Repression, dem Vernehmer ins Gesicht schaut? 'Angst', sagt Tania Bruguera. 'In den Augen der Regierung sind Menschen wie ich gefährlich, man nennt uns kulturelle Terroristen.'"

Auch die Meinungsfreiheit in Deutschland sieht Bruguera bedroht, bemerkt Sören Kittel, der für die Berliner Zeitung den ersten Stunden der Lesung beiwohnte. Kurz nach Beginn liest die Künstlerin Namen von Menschen vor, "die in den vergangenen Tagen gecancelt wurden. Sie liest die Namen von Candice Breitz vor, die ebenfalls im Publikum ist, aber auch Deborah Feldmann und Nura Habib Omer, hinter der sich die Sängerin Nura verbirgt. Sie postete nach dem Attentat der Hamas auf Israel: Free Palestine. Die Sängerin wurde anschließend von Pro Sieben gecancelt. Candice Breitz wiederum lässt gerade ihre Mitgliedschaft in der Akademie der Künste ruhen, nachdem ein Statement der Akademie ihr nicht weit genug ging. (...) Bruguera nimmt kurz darauf in ihrer Lesung das Thema Meinungsfreiheit auf. Sie sagt, dass sie in Kuba immer wieder Zensur erfahren habe. 'Der Staat will uns Künstler immer dazu bringen, dass wir uns selbst zensieren.' Es könne auch dazu führen, dass man es gar nicht merke, dass es passiere. Genau das erlebe sie derzeit in Deutschland."

Schon im Frühjahr 2022 wurden insgesamt drei Bilder von Andy Warhol und Cy Twombly an die Erben von Erich Marx zurückgegeben, der Sammler selbst hatte verfügt, dass seine Sammlung als Einheit im Hamburger Bahnhof zusammengehalten werden sollte. SPK-Präsident Hermann Parzinger hatte die Rückgabe genehmigt, aber anderthalb Jahre verheimlicht, resümiert Hubertus Butin, der in der FAZ bei den Verantwortlichen auf eine "Mauer des Schweigens" trifft und Rechenschaft der SPK fordert: "Die SPK spielt den Verlust herunter, indem sie darauf verweist, dass es immer noch einen 'sehr umfangreichen Kernbestand' gebe. Das ist in etwa so, als würde der Louvre dem Verkauf der Mona Lisa zustimmen und dies dann mit folgenden Worten kommentieren: Stellt euch nicht so an, wir haben ja noch viele andere schöne Bilder. Des Weiteren wird in der Presseerklärung behauptet, bei dem im Bau befindlichen Museum der Moderne 'Berlin modern' am Berliner Kulturforum handele es sich 'nicht um ein Sammlermuseum'. Das ist Augenwischerei, denn das neue Museum, in das die Sammlung Marx einziehen soll, wird nicht nur für Bestände der Nationalgalerie und des Kupferstichkabinetts errichtet… Speziell für die Werke von Erich Marx sind vertraglich mindestens 2000 Quadratmeter reserviert."

In der taz schreibt Annett Gröschner einen Nachruf auf die im Alter von 85 Jahren verstorbene Fotografien Helga Paris. In der SZ erinnert Peter Richter, in der FR Ingeborg Ruthe. (Mehr in unserem gestrigen Efeu) Freddy Langner gratuliert dem Fotografen Sebastiao Salgado in der FAZ zum Achtzigsten. Besprochen wird die große Valie-Export-Retrospektive im C/O Berlin (taz).
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Literatur

Thomas Hummitzsch arbeitet sich in Intellectures durch diverse Neuveröffentlichungen zum Kafka-Jahr. Passend dazu bespricht Nadine A. Brügger in der NZZ die Kafka-Austellung im Zürcher Literaturmuseum Strauhof. Besprochen werden unter anderem Tom Schulz' Lyrikband "Die Erde hebt uns auf" (FR), Bücher von Eva Schörkhuber und Birgit Fuß über den Tod und das Sterben (taz), Michael Köhlmeiers "Das Philosophenschiff" (NZZ), Hans Jürgen von der Wenses "Routen I" (FAZ), Han Kangs "Griechischstunden" (Zeit) und "Content" von Elias Hirschl (SZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Bühne

Am Wochenende ist der Schauspieler Fabian Hinrichs in Rene Polleschs Stück "ja nichts ist ok" zu sehen. Im Zeit-Gespräch mit Peter Kümmel geht er hart mit dem deutschen Theater ins Gericht: "Ich spüre oft nur die Absichten, die moralischen Botschaften hinter einem Bühnenkunstwerk, aber nicht viel, was mich woanders hinführt - ins Offene, zu mir selbst, in künstlerische Atmosphären auch, die riskant sind. Das ist eher ein wackeres Ablatschen von Programmpunkten. Aber hat es alltagserschütternde Kraft, und sei es auch nur für zehn Minuten? Zu oft begegnet mir eine Funktionärskultur, gemacht von Funktionären für Funktionäre. Auch ein Teil der Theaterkritik könnte sich ja mal fragen, welches Geschäft sie betreibt, wenn sie all jene Stimmungen und Atmosphären kaum aufnimmt, für welche der Verstand keinen Begriff und die Sprache keinen Namen hat. Vielleicht ist aber auch kein Auge, Ohr und kein Herz dafür vorhanden?"

In der nachtkritik begrüßt der Autor Hannes Becker die zunehmende Mehrsprachigkeit in der zeitgenössischen Dramatik als Ausdruck sozialer Diversität, denn: "Mehrsprachigkeit im Theater zuzulassen bedeutet: Nicht-Verstehen zuzulassen, mehrere Publika statt eines Publikums anzusprechen und die real Anwesenden bei einer Theateraufführung heterogen zu adressieren. Außerdem: sich Probleme einzuhandeln, die ohnehin da sind. Wer Sprachen wie Türkisch und Kurdisch, Hebräisch und Arabisch, Russisch und Ukrainisch, vor allem aber: Deutsch und jede andere Sprache zusammen auf die Bühne bringt, ruft beinahe zwangsläufig vorhandene politische Konflikte in den Theaterraum hinein. Andererseits wird so eben auch klar: Momente des Nicht-Verstehens sind häufig das, wovon mehrsprachige Inszenierungen leben - Nicht-Verstehen, Missverstehen, Verstummen und Zum-Schweigen-Bringen, Machtverhältnisse und Gewaltakte, die direkt die Sprechfähigkeit der Spieler*innen betreffen."

Weitere Artikel: Viele Musicals fallen im Ruhrgebiet durch, nicht aber Carsten Kirchmeiers Inszenierung des Broadway-Klassikers "Hello, Dolly!" am Musiktheater in Gelsenkirchen. Das Stück über die Sehnsüchte von Arbeitern aus Yonkers, einer an New York City angrenzenden Provinzstadt, passt hier vermutlich perfekt hin, glaubt Max Florian Kühlem in der SZ: "Zwar hat sich hier mittlerweile eine hohe Dichte an guten Hochschulen und großartigen Kultureinrichtungen etabliert. Hippe Viertel entstehen. … Doch Gelsenkirchen ist auch weiterhin die Stadt mit der höchsten Armutsquote in Deutschland." In der NZZ denkt Bernd Noack darüber nach, was das Zürcher Schauspielhaus erwartet, wenn Rafael Sanchez und Pinar Karabulut ab 2025 gemeinsam die Intendanz des Hauses übernehmen: "Die eine pocht auf den gesellschaftspolitischen Anspruch, der andere nimmt das Theater gerne auf die leichte Schulter." Ebenfalls in der NZZ hat sich Marianne Zelger-Vogt mit der deutschen Sopranistin Marlis Petersen getroffen, die nun am Opernhaus Zürich in Barrie Koskys Inszenierung von Franz Lehars Operette "Die Lustige Witwe" sehen ist.

Besprochen werden Bernhard Mikeskas Inszenierung von Thomas Braschs "Mädchenmörder:: Brunke" am Staatstheater Braunschweig (taz) und Kornel Mundruczos Inszenierung von Dvoraks Oper "Rusalka" an der Berliner Staatsoper (VAN). In der FAZ gratuliert Reiner Burger dem Kölner Hänneschen-Theater zu 222 Jahren Puppenbühne.
Archiv: Bühne

Musik

Nicht ganz schlau wird Artur Weigandt in der FAZ aus dem neuen Song "Schiwoj" ("Am Leben") des russischen Popstars Shaman. Eigentlich ist dieser ein eiserner Propagandist Putins. Im Musikvideo inszeniert er sich aber als eine Art Widerstandskämpfer gegen den Volkszorn. Manche Passagen im Text lassen sich weiterhin wohl auch als Anspielungen und Botschaften an Nawalny interpretieren. Aber vielleicht ist es auch nur eine Warnbotschaft an politische Gegner? "Das Musikvideo erschien in einer Zeit, da der demokratische Politiker Boris Nadeschdin, der bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Monat antreten will, im ganzen Land große Menschenmengen mobilisierte, die durch ihre Unterschrift seine Kandidatur unterstützten. Auch Julia Nawalnaja, Nawalnyjs Frau, unterschrieb. Shaman scheint diesen vielen Tausenden von Menschen vor Augen führen zu wollen, dass ihre Hoffnungsträger zum Scheitern verurteilte Utopisten ohne Aussicht auf politische Gestaltungsmöglichkeit sind, die von den Machthabern leicht neutralisiert und selbst von der darbenden Bevölkerung gehasst werden."



Außerdem: Vielleicht sollte Adele gleich über eine Residency in München nachdenken, wenn sie in diesem Jahr gleich zehn Konzerte an der Isar geben will, meint Jan Wiele in der FAZ. Mathis Raabe blickt in der taz auf den Tantiemenstreit zwischen Universal und TikTok. Alle schreiben über Taylor Swift und Joni Mitchell bei den Grammys, dabei war Tracy Chapmans Auftritt doch der leise Höhepunkt der Preisverleihung, schreibt Karl Fluch im Standard. Christiane Wiesenfeldt schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Brahms-Forscher Kurt Hofmann. Besprochen wird ein Berliner Konzert von Gautier Capuçon und Daniil Trifonov (Tsp).
Archiv: Musik