Intervention

Absurde Wahnsinnslogik

Von Richard Herzinger
23.04.2023. Ist Putins Krieg gegen die Ukraine ein Vernichtungskrieg? An seinem genozidalen Charakter ist kein Zweifel. Dass sich manche deutsche Intellektuelle angesichts der grausamen Untaten, die Russland in der Ukraine begeht, vor allem um die Reinerhaltung ihres Kategoriensystems sorgen und eine "Begriffsverschiebung" beklagen, zeugt von einem erschreckenden Mangel an Empathie mit den Opfern.
Handelt es sich bei Russlands Krieg gegen die Ukraine um einen Vernichtungskrieg in völkermörderischer Absicht? In deutschen und deutschsprachigen Medien mehren sich in jüngster Zeit Stimmen, die das bestreiten und als Übertreibung abtun.

So zollte jüngst der Slawist Ulrich M. Schmid in der Neuen Zürcher Zeitung dem US-Historiker Timothy Snyder zwar Anerkennung für seinen Einsatz für die Ukraine (Resümee im Perlentaucher), nannte dessen Einschätzungen aber "oft überzogen". Ihm missfällt, dass Snyder das Putin-Regime als "schizo-faschistisch" bezeichnet und den russischen Überfall auf die Ukraine damit in eine Reihe mit den Untaten des Nationalsozialismus und des Stalinismus stelle.

"Putin wiederholt mit seinem Krieg nicht Stalins und Hitlers Verbrechen in der Ukraine", behauptet dagegen Schmid. "Er spielt vielmehr mit Versatzstücken aus der Geschichte und setzt sie zu einer monströsen Ideologie zusammen, die sich in absurden Widersprüchen verstrickt: Wir wollen unbedingt Frieden, darum führen wir Krieg. Wir kämpfen gegen den Westen und bombardieren deshalb ukrainische Städte. Die Ukrainer sind unsere Brüder, darum töten wir sie. Diese Wahnsinnslogik trägt die exklusiven Erkennungszeichen der Diktatur Putins."

Doch was Schmid auflistet, sind keineswegs "exklusive Erkennungszeichen" des Putinismus. Mit einer absurden Wahnsinnslogik wurden einst auch die Kriegszüge Hitlers und Stalins begründet. Die Nazis stellten "das Weltjudentum" und die angeblich von ihm gesteuerten Westmächte als die wahren "Kriegstreiber" hin, während Deutschland nur kämpfe, um die "arische Rasse" vor ihrer vermeintlich drohenden Ausrottung zu retten. Stalin ließ die polnischen und baltischen Eliten unter dem Vorwand ermorden oder deportieren, diese Länder vom Joch des Kapitalismus zu "befreien". Und generell dienten sowjetische Eroberungen stets dem angeblichen Ziel, den vom westlichen "Imperialismus" bedrohten "Weltfrieden" zu retten - von 1939 bis 1941 auch im Schulterschluss mit Hitler.

Dabei wäre es gewiss zu einfach, den Putinismus als bloßen Wiedergänger des Nationalsozialismus und/oder Stalinismus zu betrachten. Doch dürfen die zahlreichen Übereinstimmungen der Vernichtungspolitik des russischen Regimes mit jenen der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts nicht übersehen werden.

Schmid aber meint, es gehe dem Kreml zwar um Kolonisierung, aber "nicht um die Auslöschung des ukrainischen Volkes". Damit ignoriert er schlicht alle gegenteiligen Belege - und, dass führende Repräsentanten des Regimes genau das wiederholt offen angekündigt haben. So zuletzt einmal mehr Putins oberster Hassprediger Dmitri Medwedjew in einer zum Völkermord aufstachelnden Tirade über die Ukrainer als "blutsaugende Parasiten" und über ihr Land als "Unter-Ukraine", die zugunsten eines "Groß-Russland" verschwinden müsse.

In der taz erweckte kürzlich der Publizist Konstantin Sakkas fälschlicherweise den Eindruck, die Begriffe "Genozid" und "Vernichtungskrieg" seien nur auf Fälle anwendbar, in denen die physische Beseitigung sämtlicher Angehöriger oder zumindest des größten Teils eines Volkes vorliegt (Resümee im Perlentaucher). Tatsächlich aber ist Völkermord laut dem Völkerrecht durch die Absicht gekennzeichnet, "auf direkte oder indirekte Weise eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören."

Die Anzahl der Ermordeten ist dabei nicht das maßgebliche Kriterium. Doch Sakkas ist die "relativ geringe offizielle Zahl der Vereinten Nationen aus dem März von bislang etwa 8.200 getöteten ukrainischen Zivilisten" nicht hoch genug, um einen systematischen Vernichtungsplan Russlands erkennen zu können. Dabei unterschlägt er die kurze Zeitspanne und den begrenzten Raum, die Putins Soldateska zur Verfügung standen, um die bisher belegten Opferzahlen zu produzieren. Die Gebiete, in denen sie jetzt verifiziert werden können, waren von den Russen nur wenige Wochen bis Monate besetzt. Mit welchen Zahlen wären wir wohl Im Falle einer dauerhaften Okkupation der gesamten Ukraine durch Russland konfrontiert?

Der Autor begnügt sich aber nicht damit, Putins Russland von genozidalen Absichten freizusprechen. Er versteigt sich auch zu der infamen Unterstellung, Unterstützer der Ukraine, die von einem russischen Völkermord reden, wollten sich damit von der deutschen historischen Schuld entlasten, nach der Devise: "Seht her, wir Deutsche sind nicht mehr allein, auch Putin führt einen Vernichtungskrieg und begeht einen Völkermord."

In Wahrheit dringen die proukrainischen Stimmen in Deutschland seit langem darauf, dass sich die Deutschen ihrer historischen Verantwortung für die unvorstellbaren NS-Verbrechen in der Ukraine endlich in vollem Ausmaß bewusst werden. Diejenigen hingegen, die deutsche Schuld tatsächlich relativieren oder vergessen machen wollen - wie die rechtsextreme AfD -, stehen auf der Seite des russischen Aggressors.

Dass sich manche deutsche Intellektuelle angesichts der grausamen Untaten, die Russland in der Ukraine begeht, vor allem um die Reinerhaltung ihres Kategoriensystems sorgen und, wie Sakkas, eine "Begriffsverschiebung" beklagen, "die Jahrzehnte der minutiösen Aufarbeitung der NS-Verbrechen wegzuwischen droht", zeugt von einem erschreckenden Mangel an Empathie mit den Opfern. Dahinter steckt die Suggestion, heutige Massenverbrechen als Genozid zu bezeichnen, könnte die Singularität des Holocaust in Frage stellen. Dabei besteht das Singuläre an ihm ja gerade darin, dass seine Dimension jeden anderen bekannten Völkermord übersteigt. Die industriell betriebene Vernichtung einer als "minderwertig" eingestuften "Rasse" bis zum letzten Individuum macht den Holocaust in der Geschichte beispiellos.

Relativierer sind in Wirklichkeit jene, die im Namen der Einzigartigkeit deutscher Schuld aktuelle Menschheitsverbrechen verharmlosen. Damit verkehren sie den Sinn der Aufarbeitung der singulären deutschen Verbrechen in sein Gegenteil. Denn der aus ihr folgende Imperativ lautet, neuen Vernichtungsaktionen rechtzeitig entgegenzutreten, bevor sie ähnliche Ausmaße annehmen können - und nicht, sie aus fehlgeleiteter Angst vor Begriffsverwirrung reflexhaft kleinzureden.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.