Intervention

Nur fürs Protokoll

Von Thierry Chervel
18.04.2023. Gestern war ein Tag historischer, fast obszöner Koinzidenzen. Wladimir Kara-Mursa wurde zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Währenddessen zeichnete Frank-Walter Steinmeier im behaglichen Ambiente des Schlosses Bellevue seine einstige Chefin Angela Merkel mit dem höchsten Orden der Republik aus. Und bei der Trauerfeier für Anja Vollmer trafen sich Gerhard Schröder und Jürgen Trittin zum angelegentlichen Geplauder.
Nur fürs Protokoll, kurz angemerkt: Der 17. April 2023, gestern, war ein Tag historischer, fast obszöner Koinzidenzen, was das deutsche Russland-Verhältnis angeht.

Um den Namen des Mannes, der tatsächlich eine Ehrung verdient, zuerst zu nennen: Wladimir Kara-Mursa, der schon einen Giftanschlag Wladimir Putins überlebt hatte, ist gestern von Putins schrecklichen Juristen zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt worden, möglicher Weise ein faktisches Todesurteil. Seit dem Kollaps der Sowjetunion wurde kein politischer Oppositioneller  je zu einer solchen Strafe verurteilt. Gewiss, Putin konnte ja seinen Gegner Boris Nemzow, mit dem Kara-Mursa zusammenarbeitete, nicht mehr einsperren. Er war ihm schon vor acht Jahren zum Opfer gebracht worden, in einer Zeit als Frank-Walter Steinmeier noch sagte, man solle gegenüber Russland nicht mit den Säbeln rasseln, es gehe darum, den Gesprächsfaden mit Putin nicht abreißen zu lassen und so weiter.

Frank-Walter Steinmeier also, der gestern seine einstige Chefin Angela Merkel mit dem höchsten deutschen Orden auszeichnete. "Nun ist sie also politisch 'heiliggesprochen' worden", schreibt Peter Tiede im Tagesspiegel. Ja, man muss sagen, es wirkt wie ein trotziges Statement in dem Moment, wo Merkels und Steinmeiers Politik der letzten zwanzig Jahre ins radikale Licht einer historischen Obduktion gestellt werden müsste. Die eine steht in Ehre, der andere ist im Amt. Aber haben nicht beide durch ihre stete Russland-, das heißt auch deutsch-industriefreundliche Politik die Bedingungen der Möglichkeit für Putins apokalyptisches Agieren mit geschaffen? Er pumpte das Gas nach Deutschland und sie das Geld nach Russland. Merkel hatte gegenüber Putin stets ein realistischeres Verhältnis als die SPD, sagen selbst die Autoren Reinhard Bingener und Markus Wehner in ihrem Buch die "Moskau-Connection" (mehr hier). Sie hat gegen die SPD Steinmeiers und dessen unzufriedenes Unken sogar an Sanktionen gegen Putin festgehalten. Sie hat aber auch durch die Fukushima-Entscheidung die deutsche Abhängigkeit von Putin noch weiter erhöht, und sie hätte niemals gegen den Widerstand der SPD die Lage der Bundeswehr verbessert.

Ein drittes Ereignis gehört in diese Koinzidenz, die zeigt, dass die SPD und die CDU nicht allein sind in blinder historischer Selbstgerechtigkeit. Gestern fand die Trauerfeier für die Grünen-Politikerin Antje Vollmer statt. Und wer war da der Ehrengast? Der Gazprom-Lobbyist Gerhard Schröder - nur aus protokollarischen Gründen? Fernsehbilder zeigen, wie sein Co-Hannoveraner Jürgen Trittin fast ostentativ mit ihm plauderte. Die politischen Irrtümer reichen gegenüber Russland reichen zurück bis in die Zeit der Friedensbewegung, deren Bilanz noch nicht geschrieben ist.

Dieser Konsens zwischen CDU, SPD und Teilen der Grünen besteht bis heute, er strukturiert die deutsche Politik und prägt die Mentalität. Wir stehen vor den Trümmern dieser Politik und merken es nicht einmal.

Thierry Chervel

Eine Anmerkung der Grünen-Poltikerin Eva Quistorp in einer Mail hat mich zu dieser protokollarischen Notiz angeregt.