Intervention

Israels Moment

Von Richard Herzinger
02.05.2023. Israels Gründung vor 75 Jahren verdankte sich auch einer außergewöhnlichen historischen Konstellation, die so nicht mehr wiederkehren sollte. Maßgeblich dafür war unter anderem die Befürwortung durch die Sowjetunion, deren Israel-Politik sich allerdings sehr bald in ein antisemitisches Muster umkehrte. Israel hat seitdem allen äußeren Feinden widerstanden.  Es wäre fatal, wenn es durch innere Friktionen jetzt verlieren würde, was ihm seine autokratischen Todfeinde nicht nehmen konnten: seine demokratische, freiheitlich-pluralistische Identität.
Zur Feier seines 75-jährigen Bestehens kann der Staat Israel auf eine beeindruckende Erfolgsgeschichte zurückblicken. Nicht nur hat er ein Dreivierteljahrhundert lang einer Phalanx von Feinden widerstanden, die seine Vernichtung zu ihrem höchsten Ziel erklärt hatten. Israel hat sich auch zu einer blühende Nation mit einer in der Region beispiellos starken und innovativen Wirtschaft entwickelt. Die "Abraham-Abkommen" genannten Friedensvereinbarungen unter anderem mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrein haben dem jüdischen Staat einen beträchtlichen Zuwachs an Sicherheit und Akzeptanz in der Region beschert. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis auch Saudi-Arabien formelle Beziehungen zu Israel aufnimmt.

Akut bleibt jedoch die Bedrohung durch den Iran, der bald nuklear bewaffnet sein könnte, und durch seine Hilfstruppen im Libanon und in Gaza. Zudem ist der Dauerkonflikt mit den Palästinensern weiter denn je von einer Lösung entfernt. Doch neuerdings ist die Stabilität des jüdischen Staat auch von innen her gefährdet. Der von Premier Netanjahu und seinen rechtsextremen Bündnispartnern geplante autoritäre Umbau des Staates versetzt weite Teile der israelischen Gesellschaft in Alarmzustand. Es herrscht Furcht vor der Errichtung einer Diktatur, und das Land ist gespalten wie nie zuvor.

Doch wohin es auch steuern mag - unverändert muss Israel als bevorzugtes Feindbild "antiimperialistischer" Radikaler herhalten. Dieses folgt den Vorgaben der arabischen Propaganda, die bis weit in die Mitte der westlichen Gesellschaften hinein gewirkt hat. Exemplarisch hieß es in der Palästinensische Nationalcharta von 1968, der Zionismus sei "organisch mit dem Weltimperialismus verbunden" und verhalte sich "gegenüber allen Befreiungs- und Fortschrittsbewegungen der Welt feindlich".

Der US-Historiker Jeffrey Herf hat in seiner im vergangenen Jahr erschienenen Studie "Israel's Moment" detailliert aufgezeigt, dass dies eine grobe Verfälschung der Geschichte darstellt. In Wahrheit war Israel alles andere als eine Fabrikation westlicher "Imperialisten" - es war im Gegenteil eine antikolonialistische Gründung. "Der jüdische Staat", so Herf, "war das Projekt der antifaschistischen, antirassistischen, antikolonialistischen, antiimperialistischen Linken, einschließlich der Sowjetunion."

Unterstützung für den Teilungsplan der Vereinten Nationen, der die Errichtung eines jüdischen und eines arabischen Staats in Palästina vorsah und im November 1947 von der UN-Vollversammlung angenommen wurde, kam vornehmlich von US-Linksliberalen und europäischen demokratischen Sozialisten. Doch die Widerstände in den Regierungsapparaten der USA und Großbritanniens gegen eine jüdische Staatsgründung waren enorm. Das US-Außenministerium unter George C. Marshall etwa befürchtete, ein Bekenntnis zu Israel könnte den USA den Zugang zu arabischem Öl erschweren. Zudem plagte es angesichts der damals starken sozialistischen Prägung des Zionismus die Sorge, ein eigenständiger jüdischer Staat werde unter den Einfluss der Sowjetunion geraten.

Doch die führenden Köpfe des Zionismus um den späteren ersten israelischen Ministerpräsidenten David Ben Gurion waren keineswegs prosowjetisch, sondern antikommunistische Linke im Sinne der europäischen Sozialdemokratie. Letztlich ließ sich US-Präsident Truman von den Fehleinschätzungen der Skeptiker in den eigenen Reihen nicht beirren, und die USA stimmten in den UN für den Teilungsplan.

Maßgeblich für die erfolgreiche jüdische Staatsgründung war indes ihre Befürwortung durch die Sowjetunion und die von ihr dominierten UN-Mitgliedsstaaten. Vor allem die Ukrainische Sowjetrepublik, die über eine eigene Stimme in der Weltorganisation verfügte, und die Tschechoslowakei warben entschieden dafür. Letztere lieferte auch Waffen an Israel, die dieses dringend benötigte, als es sich unmittelbar nach der Ausrufung seiner staatlichen Unabhängigkeit im Frühjahr 1948 der kriegerischen Aggression einer Phalanx von arabischen Staaten erwehren musste. Waffen aus dem Westen erhielt der junge jüdische Staat nicht.

Die Sowjetführung versprach sich von der Gründung Israels eine Schwächung des Einflusses des Westens, vor allem Großbritanniens, im Nahen Osten. Anfang der 1950er Jahre jedoch verkehrte sich die positive sowjetische Einstellung zum Zionismus ins Gegenteil. Die von Stalin im Zeichen der Bekämpfung des "Kosmopolitismus" initiierten antisemitischen Kampagnen in den kommunistischen Staaten gipfelten 1952 im Prager "Slansky-Prozess". 14 führende KP-Funktionäre, darunter elf jüdischer Herkunft, wurden darin einer "trotzkistisch-titoistisch-zionistischen Verschwörung" bezichtigt und in einem Schauprozess abgeurteilt. Unter den elf Angeklagten, die zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden, war Vladimir Clementis, der als tschechoslowakischer Außenminister an führender Stelle die Waffenlieferungen für Israels Verteidigungskrieg 1948 organisiert hatte.

Die Verhältnisse hatten sich damit umgekehrt: Die Sowjets agierten jetzt als mächtigster Sponsor der arabischen Feinde Israels, während die USA seit den 1960er Jahren zum wichtigsten Verbündeten des jüdischen Staats avancierten.

Die Zustimmung zur Gründung Israels blieb die letzte gemeinsam getroffene Maßnahme der Alliierten des Zweiten Weltkriegs zur Gestaltung der Nachkriegsordnung. Zu "Israels Moment", in dem die Ausrufung des jüdischen Staats möglich wurde, kam es durch eine außergewöhnliche historische Konstellation, die so nicht mehr wiederkehren sollte. Die zionistische Führung unter David Ben-Gurion nutzte, wie Jeffrey Herf schreibt, entschlossen diesen "flüchtigen Moment, den Moment Israels, für die Herstellung einer dauerhaften Errungenschaft."

Ungeachtet aller Anfeindungen ist Israel ein Vorbild für Nationen geblieben, die sich aus kolonialer Abhängigkeit befreien wollen. Selbst in Zeiten akuter kriegerischer Bedrohung und schlimmster terroristischer Attacken hat es seine demokratischen Institutionen und Standards bewahrt. Es wäre fatal, wenn es durch innere Friktionen jetzt verlieren würde, was ihm seine autokratischen Todfeinde nicht nehmen konnten: seine demokratische, freiheitlich-pluralistische Identität.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.
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