Lidorama

Die Filmfestspiele in Venedig - 6. Tag

Von Robert Mattheis
03.09.2002. Patrice Lecontes neuer Film "L'homme du train" hat heute den Szenenapplaus der Weltpresse erhalten. Johnny Hallyday würde darin gerne Jean Rochefort spielen und umgekehrt. Doris Dörries Film "Nackt" spielt in einem wunderlich gesellschaftsfreien Raum. Dafür geht es nur um die Liebe.
Die Ballade von Pancho und Lefty - alias Johnny Hallyday und Jean Rochefort in Patrice Lecontes neuem Film "L'homme du train"

Wenn ein Mann, der nur eine Tasche dabei hat, in eine Kleinstadt kommt, in der er niemanden kennt, dann bedeutet das in der Regel Ärger. Wird dieser Mann mit der Tasche aber von Johnny Hallyday gespielt, dann ist der Ärger garantiert, um so mehr, wenn der Taschenmann - Milan heißt er im Film - von Kopfschmerzen geplagt wird. Ärger aber bedeutet manchmal auch Leben, wie Manesquier (Jean Rochefort) ahnt, der eine Existenz als Lehrer hinter sich und nun eine Herzoperation vor sich hat. Manesquier trifft Milan in einer Apotheke - Steelguitar meets Streichquartett (grandios, dicht und driving, die Musik von Pascal Esteve). Die beiden kommen sich näher und erreichen im Laufe von drei Tagen einen Punkt, an dem ihnen klar wird, dass der andere das Leben geführt hat, nach dem sie sich, mal mehr, mal weniger heimlich, immer gesehnt haben.


Immer wieder gibt es im Vorführraum Szenenapplaus für die großartigen alten Mimen. Am Ende, beim Schlussbeifall, stehen gar manche auf, nicht etwa, um möglichst rasch zu gehen, wie bei den anderen Vorführungen, nein, sondern um im Stehen ihren Dank abzustatten. Standing Ovations für einen Film - eine so sinnlose wie angemessene Geste für den Beitrag von Patrice Leconte. Doppelt angemessen ist dieser stehende Applaus, da "L'homme du train" ein bisschen dem Konzert zweier alter Recken der Populärmusik gleicht - sagen wir: Willie Nelson und Bob Dylan -, die eine dieser schlichten, wahren Balladen singen - sagen wir: "Pancho and Lefty" -, die nur noch diese alten, graubärtigen Barden vortragen können und die mit ihnen vielleicht auch untergehen werden.

Hallyday ist also Pancho, der Bandit, und Rochefort spielt Lefty, den Mann des Wortes, der Pancho dafür bewundert, dass er ein Bandit ist, frei, ungebunden, zügellos, während Pancho vermutlich lieber Lefty wäre und ein bisschen Ruhe und Sicherheit genösse. Gewährt wird ihnen dieses Glück des Wechsels in der letzten Szene des Films; eine Parallelmontage führt die Lebensläufe der beiden ineinander. Milan wird bei einem Banküberfall erschossen, und Manesquier stirbt, im selben Augenblick, während einer Herzoperation. In einem Blickwechsel über die Grenze des Todes hinweg tauschen sie die Schicksale, der alte Lehrer wirft dem Banditen die Schlüssel seines beschaulichen, noch von der Mutter opulent eingerichteten Heimes zu und nimmt dann seinen Koffer und den kargen Weg auf, den Milan zu gehen pflegte. So sitzt zu guter Letzt Manesquier in grobkörnigen Bildern in dem Zug, in dem Milan in die Stadt kam, und Milan blättert derweil die Kunst- und Gedichtbände durch, an den Füßen die Pantoffeln seines alten Freundes.

"L'homme du train", Regie: Patrice Leconte, mit: Johnny Hallyday, Jean Rochefort, Jean-Francois Stevenin u.a. Fotos: image.net



Das bewegte Herz: Doris Doerries Film "Nackt"

Bei den alten Griechen nannte man diejenigen, die sich nicht um die Staats- beziehungsweise Stadtstaatsgeschäfte, sondern nur um die eigenen kleinen privaten Belange kümmerten, "Idioten". Ein Idiot ist also im etymologischen Sinne einer, der sich auf das Eigene beschränkt, anstatt über das Gemeinsame nachzudenken. Einer, der auf die Politik, auf den gesellschaftlichen Blick verzichtet, anders ausgedrückt. Der Mann oder die Frau der Nabelschau. In Doris Doerries Film "Nackt" herrscht ein solches Klima des Ausschließlich-über-das-eigene-Befinden-Nachdenken im extremen Sinne. Das beginnt schon beim Casting. Auch das ist ganz offensichtlich "family's business".

Die üblichen Verdächtigen haben sich bei Doris Doerrie wieder versammelt: Jürgen Vogel, Nina Hoss, Benno Fürmann, Heike Makatsch. Namen, mit denen das Wiedererwachen des deutschen Filmselbstbewusstseins verknüpft ist. Sie alle liefern, ebenso wie Alexandra Maria Lara und Mehmet Kurtulus, hervorragende Performances. Jene neue deutsche Holprigkeit, die bei Bonengels "Führer Ex" irritiert hatte, gibt es hier nicht. Vogel gibt den etwas lahmen Gemütsmenschen, und Fürmann brilliert als Rebell mit unvermuteten Herzensergießungen.



Noch angezogen: Jürgen Vogel und Alexandra Maria Lara

Aber Herz haben sie eigentlich alle, wenn man den smarten Kurtulus, der einen Internetwundermillionär spielt, einmal außen vor lässt (und am Ende will auch der nichts anderes, eigentlich, als das echte, tiefe, wahre Gefühl). Denn im Mittelpunkt von "Nackt" steht die Liebe - und was könnte nackter sein als das entblößte Herz? So bemühen sich die Protagonisten redlich, ihre Herzen frei zu legen. Ihre Herzen, in denen, auch wenn sie es gar nicht so genau wissen, die Liebe schlägt. Über sie wird unablässig reflektiert, und über sie wird unablässig geredet: Wie schafft man es, dass die Liebe nicht so flau wird wie das Leben?

Das könnte die zentrale Frage zu sein, nur eines steht dem entgegen: es gibt bei Doerrie kein Leben. Bei Doerrie ist man entweder Internetwundermillionär, oder man ist Kompagnon des Internetwundermillionärs, oder man ist Zyniker und schlägt sich so lala als Kellner durch. Hat man am Neuen Markt Millionen gescheffelt, wohnt man in einem Interieur, das von Piet Mondrian entworfen sein könnte und serviert Hummer als Vorspeise beim Essen mit seinen engsten Freunden und gerät sich mit seiner in Designerexklusivität verpackten Freundin in die Haare. Heike Makatsch, die Chaotin mit Herzherzherz, wohnt in einer Wohnungseinrichtung, die offensichtlich eine Bergbesteigung simulieren soll. Sie schläft sogar in ihrem Zelt. Auch das Schlauchboot aufzublasen, hat sie nicht vergessen. Und Benno Fürmann, dem Ortlosen, wird von der Regie erst gar keine Wohnung zur Verfügung gestellt.



Körper erkannt? Ein Gesellschaftsspiel in "Nackt".

Nimmt man den Titel wörtlich, bezieht die "Nackt"-heit sich auf ein Gesellschaftsspiel, das, natürlich, der schnoddrig-respektlose Benno Fürmann anregt: die beiden Paare Lara/Vogel und Hoss/Kurtulus sollen dem Ex-Paar Fürmann/Makatsch beweisen, dass ihre Liebe so groß ist, dass sie sich nur anhand ihrer nackten Körper gegenseitig identifizieren können. Den meisten Paaren, so Makatsch, gelänge das nämlich nicht, wie die Wissenschaft herausgefunden habe. Zum Glück für alle bleibt Fürmann sich treu und legt die Liebesspieler herein?

Auch wenn sich das alles etwas außerhalb dessen abspielt, was man als Alltag kennengelernt hat, in einem wunderlich gesellschaftsfreien Raum, ist Doerrie ein kurzweiliger Film gelungen, der auf einem selbstverfassten Theaterstück basiert ("Happy"). Nehmt alles nur in allem, stellt ihr Werk, zusammen mit den Filmen von Sönke Wortmann, wohl das Professionellste dar, was der deutsche Film im Augenblick in die Waagschale zu werfen hat. Doerrie wendet sich ganz offen vom Politischen ab und dem Privaten zu. Winfried Bonengels "Führer Ex" versuchte hingegen, das Private in einer politischen Fabel zu verpacken - und scheiterte daran.

"Nackt", Deutschland 2002, Regie: Doris Doerrie, mit: Benno Fürmann, Jürgen Vogel, Heike Makatsch, Alexandra Maria Lara, Nina Hoss und Mehmet Kurtulus.