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Die Filmfestspiele von Venedig - letzter Tag

Der Zeitgeist hielt den Atem an - Retro war die Parole bei der Mostra. Die Preise halten sich dran. Von Robert Mattheis
08.09.2002. Retro war die Parole bei den Filmfestspielen von Venedig, und darum bekam "The Magdalene Sisters" von Peter Mullan auch den Goldenen Löwen.
Wenn etwas in einem Text nicht stimmte, sprang bei Ernest Hemingway der von ihm so genannte "Bullshit-Detektor" an. Hemingways Bullshit-Detektor hätte wohl in dem Augenblick laut und deutlich gesummt, als Peter Mullen breit grinsend aufs Podium kletterte, um den Goldenen Löwen für den besten Film dieser, der 59., "mostra internationale d'arte cinematografica" in Empfang zu nehmen.

Nicht, dass an Mullens "The Magdalene Sisters" etwas auszusetzen wäre. Es ist ein hübscher, kluger kleiner Film. Nur: er spielt im Irland des Jahres 1964. Sein Anliegen ist eine Kritik an repressiven katholischen Strukturen - diese Kritik in einem Augenblick zu äußern, da selbst die katholische Kirche Ansätze von Selbstkritik zeigt, ist nicht gerade eine revolutionäre Tat. Es hat eher etwas von einem Ausweichen vor den wirklichen Problemen. (Hieß es vor fast genau einem Jahr nicht sogar, unsere westliche Welt sei für immer verändert worden? Den Willen, sich damit auseinander zu setzen, konnte man dieser Mostra jedenfalls nicht am Gesicht ablesen.)

Insofern passt der Sieg der "Magdalene Sisters" natürlich perfekt ins Programm dieser Filmfestspiele. Der Film tut niemandem weh, außer vielleicht zwei mittlerweile hundertjährigen, komplett verstockten irischen Geistlichen, die von Tag zu Tag mehr der Meinung sind, alles richtig gemacht zu haben. Er gibt sich ein kritisches Aussehen, ohne doch wirkliches kritisches, verstörendes Potenzial zu haben. Er wendet sich der Vergangenheit zu und interessiert sich lebhaft für das Individuum, für die Einzelnen, die sich in den großen Zusammenhängen behaupten, die man dann im Rückblick "Geschichte" nennt. Und er ist in filmästhetischer Hinsicht konventionell.

Denn das waren die großen Tendenzen dieser Mostra: Retro, die Kraft des Subjekts, ästhetischer Stillstand. Der Zeitgeist hielt den Atem an. Schon der Eröffnungsfilm "Frida", der erstaunlicherweise vollkommen leer ausging, wandte den Blick zurück ins Mexiko des letzten Jahrhunderts und pries die Macht der Liebe zweier außergewöhnlicher Individuen. Das Gleiche kann man von "Un viaggio chiamato amore" behaupten, dessen Hauptdarsteller, Stefano Accorsi, mit der Coppa Volpi für den besten Darsteller ausgezeichnet wurde - was Unmut bei den Kritikern auslöste, die im Pressekonferenzraum die Live-Übertragung aus dem Sala Grande des Palazzo del Cinema verfolgten. Sie hatten den Michele-Placido-Film offensichtlich hauptsächlich als eine maßlose Übung in Kitsch verstanden. Als beste Darstellerin krönte man Julianne Moore, die in Todd Haynes' "Far From Heaven" ihren Beitrag zur Rückkehr in die Vergangenheit geleistet hatte. Nun ja. Man kann sich immerhin damit trösten, dass die fabelhafte Moon So-ri, die in "Oasis" als spastisch Behinderte darstellerische Maßstäbe gesetzt hatte, den Marcello-Mastroianni-Preis für die beste junge Actrice erhielt.

Famos wurde die Stimmung, als dann auch gleich Lee Chang-dong nach vorn gebeten wurde, um für seine Regieleistung in "Oasis" einen Spezialpreis abzuholen. (Leider bekam er seine Auszeichnung zu früh, denn der Goldene Löwe war erst als Übernächstes dran.) Die Überreichung des Großen Preises der Jury an den poetisch verbrabbelten "Dom durakov" löste hingegen wieder Unruhe in der Kritikermenge aus.

Einen herausragenden individuellen künstlerischen Beitrag erkannte man auf offizieller Seite in Edward Lachmans Verdiensten um die Fotografie von "Far From Heaven". Da Haynes' Film Retrostimmung auch optisch zelebriert, geht auch diese Entscheidung in Ordnung. Man muss ja seiner Linie auch treu bleiben, werden die Jurymitglieder, Jacques Audiard, Jewgenij Jewtuschenko, Ulrich Felsberg, Laszlo Kovacs, Francesca Neri und Yesim Ustaoglu, sich gesagt haben. Während seine Kollegen eher betreten auf dem Podium herumstanden, zog sich Jewtuschenko clever aus der Affäre, indem er in Familienangelegenheiten abreiste und Monsieur Audiard mit einem seiner Hemden auf die Bühne schickte - das Hemd machte dann auch die mit Abstand beste Figur.

Eine Auszeichnung musste man allerdings vermissen - den Preis für die größte Unprofessionalität. Das ist schade, denn der Sieger hätte auch ohne langwierige Debatten festgestanden: Die Jurypräsidentin Gong Li hätte ihn mehr als verdient gehabt. Sie schien manches Mal nicht einmal in der Lage zu sein, Regisseure und Titel der Filme auseinander zu halten. Ganz zum Schluss stapfte dann noch Moritz de Hadeln auf die Bühne der Verlegenheiten, den geflügelten Goldlöwen in der Hand. Wie der böse Zauberer aus einem Fantasyfilm sah er dabei aus. Und dann war es aus. Die Kritiker standen auf. Kein Beifall.