Lidorama

Die Filmfestspiele in Venedig - 5. Tag

Von Robert Mattheis
02.09.2002. In Todd Haynes' Film "Far from Heaven" trinkt Rock Hudson und schlägt seine Doris. "Nein, hier entlang! Als ich das letzte Mal da lang lief, hat mich das das Leben gekostet!" Chang Tso-Chis Wettbewerbsfilm "The Best of Times" führt in eine magische Parallelwelt.
Nichts für Dekadente: Die Rock-Hudson-Doris-Day-Welt in Todd Haynes' Wettbewerbsfilm "Far from Heaven"

Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie machen Urlaub in Venedig, es ist spät, beinahe zehn Uhr, Viertel vor zehn, genau genommen, aber Sie haben noch Hunger nach diesem heißen, schönen Tag am Lido, und so setzen Sie sich noch in Paolos Gaststätte (so heißt der Wirt) Und dann bekommen Sie ihn genau dreizehn Minuten lang nicht mehr zu Gesicht, den freundlichen Paolo. Und als er dann doch wieder auftaucht, beinahe unerwartet schon, teilt er Ihnen in seiner typisch freundlichen Art mit, dass Sie leider nichts mehr zu essen bestellen könnten, es sei jetzt zehn Uhr, die Küche habe gerade geschlossen, scusi.

Willkommen damit im Herzen von Todd Haynes' Film "Far From Heaven". Denn was unterscheidet Venedig schon groß von einem Rock-Hudson-und-Doris-Day-Film? Das Wetter ist großartig, die Menschen sind unmenschlich freundlich, überall diese unnatürlichen Farben und putzigen Palazzi, Geld ist so wenig ein Problem, dass es beinahe den Anschein hat, es sei nie eines gewesen. Und auch die Liebe ist angesichts von so viel Glück etwas Selbstverständliches und Unhysterisches: "Gute Nacht, Schatz!" Die perfekte Künstlichkeit. Aber dann passiert eben das, was nicht passieren dürfte, wenn die Filme recht hätten und nicht das Leben. Doris Day - die hier Cathy Withaker heißt und von Julianne Moore gespielt wird - besucht Rock Hudson - der hier ihr Ehemann Frank ist und von Dennis Quaid gespielt wird - abends im Büro, um ihn mit seinem Abendessen zu überraschen, überrascht ihn jedoch, böse Überraschung, mit - einem Mann.

Nun ja, immerhin legt Paolos Reaktion offen, welche Anstrengung es bedeutet, den ganzen Tag die lästige Touristenmeute zu ertragen. Und Rock Hudsons Affinität zu Männern mag auch einen Hinweis darauf geben, welche verdammte Arbeit es sein kann, rund um die Uhr so ein höllisch attraktiver Frauentyp zu sein. Man hält es nicht aus. Man flieht aus einem Leben, das so echt, wie es sein soll, gar nicht sein kann, in ein Leben, das wenigstens eine andere Form von Lüge birgt - oder die Wahrheit, wer weiß.



Das passiert eben, wenn das Leben einbricht in die Hermetik des Films: Frank ist auf einmal schwul und starrt, ein unheroischer Gustav von Aschenbach, den Jungs am pinkfarbenen Pool hinterher, und Cathy entwickelt ein Interesse für, stellen Sie sich das vor - einen Schwarzen! Dieser bringt es im Gespräch mit Cathy dann auch auf den Punkt: Man sollte die Welten nicht mischen. Das bringe nur Scherereien. Mrs. Days Kinder hätten daraufhin gesagt: "Yessir."

Die Rock-Hudson-und-Doris-Day-Film-Welt wird in "Far From Heaven" bis aufs i-Tüpfelchen genau imitiert, genauer: bis hin zur Tatsache, dass der Komponist den klassischen Fifties-Namen "Elmer Bernstein" trägt. Wenn Cathy in ihren Fifties-Wagen steigt und durch ihre Fifties-Stadt fährt, wird die uralte staubige Technik der Rückprojektion hervorgeholt (wie damals, als James Stewart in "Vertigo" durch die Gegend fuhr auf der Suche nach der schönen Leiche). Diese postmoderne Fifties-Welt unterscheidet sich von der originalen (wenn man so sagen kann) Fifties-Welt allerdings dadurch, dass man ihr Unbewusstes nicht herausgeschnitten hat. Es ist alles da, all das Verdrängte, unter den Teppich des american way of life Gekehrte: Rock ist schwul und nimmt auch schon mal einen Drink zu viel und schlägt dann seine Doris, und Doris fühlt sich zu einem Schwarzen hingezogen und weiß, welche verdammte Anstrengung es ist, so eine perfekte Mutter und beste Freundin ihrer besten Freundinnen zu sein.

Todd Haynes' Film stellt eine merkwürdige Form von aufklärerischer Geschichtsstunde dar, die uns dekadente Europäer bestenfalls naiv anmutet. "Far From Heaven" passt zwar perfekt zur Retro-Stimmung, die auf der Mostra herrscht, ansonsten jedoch - was soll das? Vielleicht sollte man sich das Original anschauen, Douglas Sirks "All That Heaven Allows", damit der Film weniger irrelevant erscheint. Oder vielleicht sollte man Amerikaner sein. Oder Moritz de Hadeln. (Aber das stellen wir uns lieber nicht vor.)

"Far From Heaven", USA 2002, Regie: Todd Haynes, mit: Julianne Moore, Dennis Quaid, Dennis Haysbert u.a.



Chang Tso-Chis Wettbewerbsfilm "The Best of Times" bekommt durch das Abfeuern einer magischen Kugel magischen Drive

Der bislang poetischste Beitrag zu diesen Filmfestspielen (die "Frida"-Macher, vor allem die energische Salma Hayek, mögen mir verzeihen) trägt den zunächst wenig poetisch anmutenden Titel: "Meili shiguang"). Übersetzt bedeutet das: "Die beste aller Zeiten", was allerdings eher nach Leibniz ("Wir leben in der besten aller möglichen Welten") klingt als nach Poesie. Da kommt die englische Übersetzung, "The Best of Times", dem Geist des Films schon näher. Aber das ist ja fast immer so.

Der Regisseur Chang Tso-Chi ("Darkness and Light") bedient sich bei dem Versuch, das Leben und Sterben und Driften der Familie seines Helden Ah Wei (Fan Wing) am Rande Taipehs so genau wie möglich, also einfühlsam und schonungslos zugleich, zu erzählen, sehr souverän aus dem Fundus des kineastisch international Erreichten. So ist der Moment, da Ah Weis Cousin, Ah Jie (Gao Meng-Jie), in die Stirn eines Gangsters hinein eine Kugel abfeuert, die im selben Augenblick noch unter Ah Weis Kopfkissen liegt, Quentin Tarantinos "Pulp Fiction" verpflichtet. Später, als der Film den Protagonisten eine völlig unlogische beziehungsweise traumlogische zweite Chance gibt, den Kumpanen des ermordeten Gangsters zu entkommen, surft Tso-Chi sogar bei "Lola rennt" vorbei, ohne seinen Sinn für Ironie zu verlieren: "Nein, hier entlang! Als ich das letzte Mal da lang lief, hat mich das das Leben gekostet!", sagt Ah Jie und zerrt seinen Cousin in die richtige, die beste aller Richtungen. Und die Form des Erzählens, die Tso-Chi wählt, firmiert seit Robert Altmans legendärem Film "Short Cuts" unter dem Begriff "short cuts" - ein kurzes, passagenweises Ein- und Ausschalten der Handlung.



Vor dem Schuss. Szene aus "The Best of Times"

Der Plot bekommt durch das Abfeuern der magischen Kugel einen Drive, der ihn aus der Welt der Plots in eine andere, magische Parallelwelt zu katapultieren scheint. Zuerst stand im Mittelpunkt, natürlich, die Suche nach dem kleinen Glück und das, was man halt so tut, wenn die Tage lang sind. Ah Wei will Schauspieler werden, sein Idol ist Bruce Lee; seine Zwillingsschwester Ah Min (Wu Yu-Chih) stirbt langsam an Leukämie; die ältere Männergeneration setzt sich aus Trinkern und Spielern zusammen. Nun, man müsse sich eben an diese Art von Leben gewöhnen, hat Ah Min ihrem Bruder eingebleut, dann ginge es schon. Dann aber begehen die beiden jungen Männer beim Versuch, für ihre Brötchengeber Schulden einzutreiben, den besagten Mord. Ein Versehen. Ein Unfall. Eine Unmöglichkeit. Und doch klatscht das Blut an die Wand. Mit einem Knalleffekt reißt der Film entzwei. Eine Grenze ist übertreten. Ah Jie wird von den Gangstern mit Messer und Pistole umgebracht, später steht er dann wieder vor Ah Wei (die im Leben so oft erhoffte und eigentlich nie gewährte zweite Chance), die Gangster sind auch wieder da, die Flucht kann weitergehen. Am Ende schwimmt Ah Wei mit seinem Cousin in eben dem Aquarium, vor dem seine Schwester zu sitzen pflegte, betrachtend, träumend. Oder handelt es sich doch um das identische Parallelaquarium, das sie ihrem Ex-Freund gebaut hatte? Er könne zwischen Realität und Phantasie nicht unterscheiden, hat Tso-Chi im Interview gesagt.

Kann es bei so vielen Handlungssprüngen Zufall sein, dass Ah Jie, der Mörder wider Willen, besessen ist von Zaubertricks? Dass er einmal sogar ein Einhorn für die todkranke Ah Min herbeizuzaubern scheint, selbst am meisten verblüfft von seinen Fähigkeiten? Oder kann er gar nicht wirklich zaubern? Berherrscht er nur ein paar Taschenspielertricks? Aber wie kann er dann eine Kugel abfeuern, die es nicht gibt?



Szene aus "Haus der Narren"

"Die beste aller Zeiten" erregt poetischen Verdacht, ohne auf Poesie zu machen, was man dem im Anschluss gezeigten Film "Dom Durakov" ("Haus der Narren") von Andrei Konchalovsky manchen starken Momenten zum Trotz zum Vorwurf machen könnte. Das Haus der Narren gerät zwischen die tschetschenische und die russische Front, und in der Konfrontation mit den Soldaten beweist sich, dass die Narrheit der Insassen sehr relativ ist. Richtig närrisch hingegen ist, dass Bryan Adams der Gegenstand der Sehnsüchte der Protagonistin ist. Er singt ihr vor, er sehe seine ungeborenen Kinder in ihren Augen. Und das zeige ihm, dass sie die Frau sei, die er liebt. (Dass diese Zeile in einem Song vorkommt, der es zum Hit geschafft hat, wirft natürlich auch noch einmal, auf andere Weise, die Frage auf, wer denn hier, bitte, eigentlich verrückt ist?) So sucht die schöne Anstaltsinsassin bei Bryan Adams nach einer guten Zeit; die beste aller Zeiten aber braucht man nicht zu suchen. Sie ist immer da. Sie schimmt unterhalb dessen, was wir "Realität" nennen.

"Meili Shiguang - The Best of Times", Taiwan/Japan 2002, Regie: Chang Tso-Chi, mit: Fan Wing, Gao Meng-Jie, Yu Wan-Mei u.a.
"Dom Durakov - Haus der Narren", Russland/Tschetschenien 2002, Regie: Andrei Konchalovsky, mit: Julija Vysotskij, Sultan Islamov, Evgenij Mironov u.a.