Link des Tages

Martin Walser zirkuliert

Von Thierry Chervel
14.06.2002. Nach dem Antisemitismusvorwurf Frank Schirrmachers in der FAZ hat der Suhrkamp Verlag Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" als Word-Datei an Kritiker verschickt. Mit ungeahnten Folgen.
Als die FAZ ihre scharfe Attacke gegen Martin Walsers neuen Roman "Tod eines Kritikers" lancierte, reagierte Suhrkamp in der einzig richtigen Weise: Der Verlag machte den Roman, der ja noch nicht einmal auf Fahnen vorlag, so weit wie möglich zugänglich. Jeder interessierte Journalist sollte ihn lesen dürfen, um die Antisemitismus-Vorwürfe gegen den Roman einschätzen und sich dazu äußern zu können. Bei Suhrkamp lag der Roman in Form einer schon weitgehend korrekturgelesenen, ordentlich gesetzten Word-Datei vor - der Seitenumbruch für das Buch schien also noch bevorzustehen. Man verschickte die Datei als E-Mail-Anhang.

Natürlich haben Journalisten Freunde: Andere Journalisten. Und die anderen Journalisten haben auch Freunde. Wer weiß, wie oft der Roman nun als Mail-Anhang weitergeleitet wurde? Hundertfach, tausendfach? 431 Kilobyte "wiegt" das Manuskript, nicht mal ein halbes Megabyte. Das kann man selbst mit einem ISDN-Anschluss in akzeptabler Zeit herunterladen. Im Grunde ist der Roman also längst öffentlich.

Weblogs und obskure Anbieter scheinen ihn inzwischen auch schon ins Netz gestellt zu haben, allerdings so "heimlich", dass ihn kaum finden wird, wer den Link nicht kennt. Die Suchmaschine Google jedenfalls hat noch keine dieser Seite indexiert. Bei Suhrkamp ist die Aufregung trotzdem groß, und man verspricht, gegen jede Verletzung des Urheberrechts tätig werden zu wollen.

Das dürfte schwierig werden: Wer weiß, wo die entsprechenden Anbieter ihre Server stehen haben - wenn sie auf den Cayman-Inseln oder in anderen Paradiesen stehen, dürfte Suhrkamp ein langer Rechtsstreit bevorstehen. Im übrigen lässt sich der Roman auch bei konsequenten Klagen nicht mehr aus dem Internet verbannen: Denn auch über Tauschbörsen wie Kazaa kann er ausgetauscht werden - sie funktionieren bei jeder Art von Datei, nicht etwa nur bei Musik und Videos.

Viel unheimlicher sollte dem Verlag etwas anderes sein: Er hat das Manuskript in einer Form verschickt, die es jedermann möglich macht, sie zu verändern. Jeder Übelwollende könnte in das Word-Manuskript hineinschreiben, was er nur will. Denn dieses Manuskript war nicht mal "schreibgeschützt". Die Frage wäre also, ob demnächst nicht nur Raubkopien, sondern Parodien und böswillige Verzerrungen des Romans zirkulieren. Bei einer pdf-Datei wäre das zumindest schwieriger gewesen. Martin Walser und der Verlag hätten sich vor zwei Wochen entscheiden sollen, von vornherein eine autorisierte Fassung des Romans ins Netz zu stellen.