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Ungarischer Club der digitalen Dichter

Von Gabriella Gönczy
19.08.2004. In Ungarn haben die Kulturmacher weniger Angst vor dem Internet als hierzulande. Die Digitale Akademie der Literatur hat zum Beispiel sämtliche Werke der besten ungarischen Gegenwartsautoren frei ins Netz gestellt.
Die ungarische Kultur- und Bildungspolitik hat nicht nur die eigenen Staatsbürger mit Stoff für Kopf und Herz zu bedienen. In den Nachbarstaaten Ungarns leben etwa drei Millionen Ungarn in der Minderheit, die zum Teil durch die neuen EU-Außengrenzen von Ungarn fast hermetisch abgetrennt wurden. Für sie bedeuten kulturelle Angebote im Internet eine der wenigen Brücken zum Land ihrer Muttersprache. Außerdem ist Ungarisch eine kleine Sprache, die - außer Finnisch und Estnisch - mit keinen anderen europäischen Sprachen verwandt ist. Die Ungarn leben also auf einer zwar hübschen, aber winzigen und isolierten Sprachinsel in Mitteleuropa. Die ungarische Kulturpolitik versucht deshalb seit Jahren, durch die unterschiedlichsten Maßnahmen den Zugang zur ungarischen Kultur für die Welt zu erleichtern, um die ungarische Literatur und Kultur aus ihrer sprachlich bedingten Isolation zu befreien.

Ein Beispiel für diese Bemühungen ist Die Digitale Akademie der Literatur (DAL), das bisher umfangreichste, für jedermann frei zugängliche Onlinearchiv der ungarischen Gegenwartsliteratur. Die DAL wurde 1998 mit 39 Schriftstellern gegründet. Seitdem wählen die Autoren jährlich ein neues Mitglied in ihre Reihe. Auch die Lebenswerke von drei verstorbenen Gegenwartsautoren pro Jahr werden in die DAL aufgenommen. Heute sind sämtliche Werke von 62 Gegenwartsautoren im Internet frei verfügbar: von den international bekannten Autoren wie Peter Esterhazy, Imre Kertesz, György Konrad oder Peter Nadas bis zu den jeweils ausgezeichneten und - in Deutschland zumindest - noch zu entdeckenden Autoren wie Adam Bodor, Lajos Parti Nagy, Zsuzsa Rakovszky, György Petri oder Otto Tolnai.

Wer uns das nicht glauben will, den verlinken wir hiermit zum Downloadbereich eines in deutscher Übersetzung vor Kürze erschienen Romans von Peter Esterhazy (mehr hier) "Hilfsverben des Herzens". Bevor man ein Werk lesen bzw. herunterladen kann, verpflichtet man sich online, das Werk nur privat zu nutzen, also den Service auf keiner Weise zu missbrauchen.

Die Autoren gaben das Recht der uneingeschränkten digitalen Veröffentlichung all ihrer Werke der DAL und sie behielten ihre Verfasserrechte in aller anderen Hinsicht uneingeschränkt. Im Gegenzug zahlt die DAL den Autoren seit Beginn der Mitgliedschaft monatlich das Vierfache des ungarischen Mindestlohns (zur Zeit: 845 Euro), einen freien Internetzugang sowie Abonnements von vier frei gewählten Literaturzeitschriften und einer Tageszeitung. Eine Kombination der neuesten und der ältesten Medien bietet die Idee, die Autoren von einem selbst gewählten bildenden Künstler porträtieren zu lassen. Die Sammlung der Porträts wird im Petofi-Literaturmuseum, dem nationalen Literaturarchiv aufbewahrt.

Die digitalen Textausgaben werden von den prominentesten Experten der jeweiligen Autoren philologisch betreut. Das Forscherteam stellt auch eine Biografie und Bibliografien der Literatur von und über den jeweiligen Autor ins Netz. Der gesamte Inhalt der DAL kann nach Autorennamen, Werktiteln, Gattungen und Verlagen durchgesucht werden.

Man könnte an dem schönen Projekt vielleicht bemängeln, dass diese Hintergrundmaterialien auch ins Englische übersetzt werden sollten. Das etwas anachronistisch anmutende Äußere der Website lässt vielleicht auch noch zu wünschen übrig. Was sich die Webgestalter gedacht haben, als sie ausgerechnet dieses gräulich-gelbliche Dunkelgrün als Hintergrundfarbe gewählt haben, weiß man nicht. Vielleicht soll die Farbe an jene ca. 30-bändige, akribisch detailreiche "Geschichte der ungarischen Literatur" erinnern, die von den Budapester Studenten der Literaturwissenschaft nur mit dem Spitzname "Der Spinat" genannt werden (zum Beispiel "Bringst Du mir bitte morgen den 25. Band 'Des Spinats' mit?").

Die DAL wird von Haus Neumann und dem Petofi-Literaturmuseum koordiniert. Das Haus Neumann wurde 1997 mit dem Ziel gegründet, an der Digitalisierung des ungarischen Kulturerbes mitzuwirken und die Werke sowohl in Ungarn als auch im Ausland im Internet für jedermann frei zugänglich zu machen. Zu den Projekten des Haus Neumann gehören außer der DAL WebKat.hu, ein Onlinekatalog, durch den im gesamten, digitalisierten ungarischen Kulturerbe - zur Zeit etwa 180.000 Einheiten - auf Englisch und auf Ungarisch recherchiert werden kann. In der Bibliotheca Hungarica Internetiana findet man Werke der klassischen ungarischen Literatur und Olvasni jo ("Lesen ist schön"), eine Kinderwebsite mit E-Books der schönsten ungarischen Kinder- und Jugendbücher.

Die Einrichtung bekam ihren Namen von John von Neumann (mehr hier und hier auf Englisch), einem in Budapest geborenen Mathematiker, der unter anderem als jüngster Professor des Institute for Advanced Studies in Princeton die Spieltheorie begründete und am Bau des frühen Copmputers "Eniac" mitwirkte.